Aus dem Januarheft 2010, Nr. 728 Welche Motive haben die Vertreter des Sozialkonstruktivismus? Wir zahlen schließlich einen sehr hohen intellektuellen Preis, wenn wir die objektive Geltung der letzten dreieinhalb Jahrhunderte wissenschaftlicher Forschung leugnen. Boghossian meint, dass der Konstruktivismus zum Teil durch verstandesmäßige Argumente motiviert ist und zum Teil durch politische Korrektheit. Im postkolonialen Zeitalter glauben manche, dass wir anderen Kulturen nicht unser Realitätskonzept oktroyieren sollten. Warum sollten wir in einer multikulturellen Demokratie nicht jeder Kultur, ja jedem Menschen seine eigene Realität zugestehen? Ich meine vielmehr, dass die antirationale, antiwissenschaftliche Tendenz der gegenwärtigen Versionen des Relativismus und Konstruktivismus durch eine viel tiefer verwurzelte metaphysische Weltsicht motiviert ist als durch eine auf postkolonialer politischer Korrektheit basierende. Wie sieht diese Weltsicht genau aus? Hinweise darauf finden sich in der zitierten Passage über feministische Erkenntnistheorie von Kathleen Lennon. Dieser Weltsicht zufolge sind all unsere Wissensansprüche aufgrund ihrer gesellschaftlichen und historischen Situiertheit wesentlich kontingent. Dieser Weltsicht zufolge denken wir alle im Rahmen partikularer Voraussetzungen und stellen die Welt immer von einem bestimmten Blickpunkt aus dar, und das macht jede objektive Wahrheit unmöglich. Für jemanden, der dieses Argument akzeptiert, scheint der Gedanke, dass es wissenschaftliche Aussagen gibt, die objektiv, universell und zweifelsfrei hinreichend begründet sind, nicht nur falsch, sondern geradezu repressiv. Und für solche Menschen muss schon der Gedanke einer objektiv existierenden unabhängigen Realität in Misskredit gebracht werden. Dieser Ansicht zufolge müssen wir, wenn wir wahrhaft frei sein wollen – nämlich frei, eine multikulturelle Demokratie zu schaffen –, uns vor allem von "Objektivität", "Rationalität" und "Wissenschaft" befreien. Kurzum, die Motivation reicht tiefer, als Boghossian einzuräumen bereit ist, und sie weist interessante Ähnlichkeiten mit früheren Formen der gegenaufklärerischen Romantik auf, wie sie Isaiah Berlin in Die Wurzeln der Romantik beschrieben hat. John R. Searle, Die Angst vor Wissen und Wahrheit Kunst ist, wenn wir Nietzsche, Kant oder Platon folgen, ein Spiel mit Möglichkeit. Da wir "Möglichkeit" mit "Macht" übersetzen dürfen (sofern von wahrhaft gegebenen, realen Möglichkeiten die Rede ist), können wir die Kunst auch als ein Spiel mit dem bezeichnen, was man wirklich kann. Große Kunst, wie wir sie den Meistern ihres Fachs verdanken, ist ein Spiel der wahrhaft Mächtigen. Hier spielt ein seiner Sinne und seiner Gestaltungskräfte Mächtiger mit Möglichkeiten, die den Raum des menschlichen Erlebens insgesamt erweitern. Die Macht des Künstlers ist nicht nur die über das Material. Wenn es ihm mit seinem Stoff gelingt, neue Formen zu erproben, dann gewinnt er Macht über alle Gemüter der Menschen, die er zu beleben und zu begeistern vermag. Es ist eine Macht, die, wie wir wissen, über Jahrhunderte und Jahrtausende zu wirken vermag und die Menschen immer neu in ihren Bann schlagen kann, obgleich die politischen Machthaber längst vergessen sind. Es ist dies eine Macht, die für die Zukunftssicherung des Menschen ungleich wichtiger ist als der Kampf um Prozentanteile im Parteienstaat oder um Kursgewinne an den Börsen. Die Kunst, die mit ihr verschwisterte Wissenschaft und die aus dem welt- und menschenkundigen Umgang mit ihnen folgende Bildung sind die eigentlichen Potentiale der Zivilisation. Was ist, im Ganzen der Kultur gesehen, die Macht des Fürstbischofs von Salzburg gegen die Macht des von ihm drangsalierten Mozart? Wer spricht, von den Historikern abgesehen, noch von Joseph II., so bedeutend er als aufgeklärter Herrscher auch gewesen ist? Volker Gerhardt, "Das Spiel der Mächtigen" Nach der Erfindung der Schrift und später des Buchdrucks hat das mündliche Erzählen seine Bedeutung als Garant des kulturellen Gedächtnisses weitgehend verloren. Gleichzeitig ist die Verschriftlichung die Grundlage für die im engeren Sinn literarischen Gattungen und Formen des Erzählens. Mit dem Aufkommen der elektronischen Medien hat sich das Erzählen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder von der Schrift emanzipiert und zugleich inflationär verbreitet. Fortwährend erzählt wird auch und gerade dort, wo Bilder das Wort ersetzten: im Kino, im Fernsehen, in der Werbung, im Internet. Die Kultur- und Bewusstseinsindustrie ist eine Geschichtenindustrie. Dabei ist Hollywood schon fast ein Dinosaurier, auch wenn die globale Konjunktur des Erzählkinos in Hollywoodmanier anhält. Im Fernsehen ist der Boom der Daily Soaps und Telenovelas ungebrochen. Die Serien werden in industrieller Massenproduktion hergestellt, und ihre Fertigung ist ein hochgradig spezialisierter, strikt arbeitsteilig organisierter Betrieb. Der Output der Serienproduktion wird bezeichnenderweise vorrangig quantitativ erfasst und bilanziert, etwa auf der Homepage der Grundy UFA Produktions GmbH. 75000 Minuten fiktionales Programmproduziert die UFA-Tochter jährlich. Damit ist die Produktionsfirma nach eigenen Angaben europäischer Marktführer im Bereich der Daily Soaps und Telenovelas. Im Mai 2005 machte Grundy UFA von sich reden, als sie die erste Serienschule für angehende Storyliner ins Leben rief. Der Storyliner entwirft und formuliert die Handlungsstränge der Täglichserien und nimmt damit eine Schlüsselrolle im Betrieb ein. Routiniert hantiert er mit Identitätsschablonen und kolportagehaften Fertigbauteilen, erzeugt dramaturgische Konflikte mit beinahe geometrischer Exaktheit und passt sie in das von den Werbepausen vorgegebene Zeitkorsett ein. Der Plottechniker erschafft seine Charaktere unter Laborbedingungen im Reagenzglas: Ausgeburten der Marktforschung, Homunkuli mit genau berechnetem Identifikationsangebot und optimierter Projektionsfläche, Helden mit den Bindungs- und Abstoßungseigenschaften chemischer Elemente. Michael Esders, Storytelling Ist die Ökonomie überhaupt eine Wissenschaft? In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, die durchaus auch eine Krise der Ökonomen ist, mag man daran zweifeln. Was ist schon eine Wissenschaft wert, die vielen ihrer Denker nicht die Werkzeuge an die Hand gibt, die sie Verwerfungen von dieser Größenordnung frühzeitig hätten erkennen lassen? Die zahlreiche absurde Annahmen treffen muss, um überhaupt irgendwelche Aussagen machen zu können? Deren Anhänger sich zum Teil in mathematischen Glasperlenspielen ergehen? Die in weiten Teilen zu einer Techniklehre verkommen ist, die sich kaum noch länger als echte Sozialwissenschaft begreift und von Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft und Geschichte wenig weiß? "Der Nationalökonom muss Mathematiker sein, Geschichtsschreiber, Staatsmann und Philosoph – bis zu einem gewissen Grade. Er muss Symbole verstehen und in Worten reden. Er muss das Einzelne in Form des Allgemeinen anschauen und Abstraktes und Konkretes im selben Gedankenflug berühren. Er muss das Gegenwärtige im Licht des Vergangenen um der Zukunft willen erforschen. Kein Teil der menschlichen Natur und der menschlichen Einrichtungen darf ganz außerhalb seines Blickfelds liegen. Er muss gleichzeitig zweckhaft und uninteressiert sein; so abseitig und unbestechlich wie ein Künstler, doch manchmal so nah der Erde wie ein Politiker." Ein dermaßen universalistisches Selbstverständnis, wie es der genialische und exzentrische Revolutionär John Maynard Keynes im Nachruf auf seinen Lehrer Alfred Marshall für die Vertreter seines Fachs formuliert hat, ist heute nur noch selten anzutreffen. Freilich sind umgekehrt auch nicht alle Ökonomen Schmalspurtechnokraten, die die wichtigen Fragen gar nicht mehr stellen. Der Vorwurf der Engführung und der Unwissenschaftlichkeit muss insbesondere all jene nicht treffen, die sich ihren Weg außerhalb des Hauptstroms gesucht haben. Derlei zu wagen setzt einen ausgeprägt unabhängigen Geist und Selbstbewusstsein voraus, vielleicht auch das Glück, von der Natur mit einer rebellischen Art ausgestattet zu sein. Karen Horn, Ökonomiekolumne Der Raum, den Humboldt in Zentral-Asien schreibend durchmessen hat, öffnet sich so in buchstäblich alle Richtungen: Die Berge Südamerikas sind hier genauso anwesend wie der Dalai Lama und sein Konflikt mit China. Im Ural wird die Platingewinnung im Bergbau in einen direkten Zusammenhang mit der Abholzung der Wälder gebracht. Die weitflächigen Abholzungen kannte Humboldt aus den südamerikanischen Tropen, gutheißen konnte er sie nicht: Als Klimatologe wusste er um ihre Auswirkungen auf Wetter und Wind. An den Ufern des Aralsees bemerkte er ein allmähliches Austrocknen, dessen Ursachen er in den Bewässerungskanälen sah, die den See aussaugten. Das alles zusammen führte für Humboldt zu "ziemlich bedeutenden Veränderungen in der Beschaffenheit der Erdhülle (der Atmosphäre)". Diese Veränderungen, so fügte er noch hinzu, seien ohne Zweifel wichtiger, "als man allgemein hin annimmt". Wenn Humboldts Reisegesellschaft nicht andauernd die Pferde wechseln würde, könnte man während der Lektüre von Zentral-Asien annehmen, er sei gerade erst zurückgekommen aus den Erdgasfördergebieten Eurasiens: Auch deren Beginn, mit Pipelines aus Bambusrohren, beschreibt er. Dass sich dieses ganze Unternehmen in prekären Verhältnissen bewegt, von denen keines (mit Ausnahme der Pferde vielleicht) heute erledigt ist, macht das Lesen zu einer irritierend zeitgenössischen Erfahrung. Was aber vielleicht auch daran liegt, dass die Räume sich nicht so schnell ändern. Cord Riechelmann, Ziemlich viel Raum In der dritten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen stellt Nietzsche dem Leser einen Philosophen vor: Schopenhauer als Erzieher. Nicht als lebensfernen, beamteten akademischen Artifex des Denkens, sondern als jemanden, der rätsellösend und aufschlüsselnd zum Leben spricht, in dem wir alle stehen. So ähnlich mag es den Studenten ergangen sein, die an der Kunstakademie Düsseldorf mit Joseph Beuys in Berührung kamen. Er elektrisierte sie wie der Zitterrochen Sokrates seine Schüler, die Studenten gerieten umstandslos in seinen Bann und wussten nicht mehr, wie ihnen geschah. So beschreibt das Johannes Stüttgen, erst Student, dann Mitarbeiter, Mitstreiter und schließlich memorialer Sachwalter von Joseph Beuys in seinem mehr als tausend Seiten umfassenden Werk Der Ganze Riemen. Das Buch beschreibt die Zeit, die Joseph Beuys als Lehrer an der Kunstakademie gewirkt hat, beginnend mit dem Eintritt von Johannes Stüttgen als Student ebendort. Für diese Zeit sind alle Aktivitäten und Auftritte von Joseph Beuys in und außerhalb der Akademie beschrieben und dokumentiert. Der Autor realisierte damit eine persönliche Bitte von Beuys: "Ob ich also nicht einmal alles aufschreiben wolle, was damals in Düsseldorf passiert ist, wirklich alles, den ganzen Riemen". Sein Zweck und Ziel ist die Beglaubigung der These, die Beuys übrigens schon 1969 selbst geäußert hat, "dass die Lehrtätigkeit von Joseph Beuys an der Staatlichen Kunstakademie ein Kunstwerk ist". Das Werk ist methodisch gesehen eine in sich verschränkte, zeitlich limitierte Doppelbiographie: für die angegebene Zeit eine Biographie von Stüttgen und Beuys. Die biographische Folie von Stüttgen hat dabei die Funktion, eine Registraturinstanz bereitzustellen, die also nicht anonym bleibt, sondern mit Leib und Seele im Geschehen präsent ist, um den Film Beuys sichtbar werden zu lassen, als Film im Film. Auf diese Weise nimmt der Leser teil an einer Revue, in der Beuys der Hauptdarsteller ist, aber die eben nicht vor einem schweigenden Hintergrund präsentiert wird, sondern in seiner umfassenden szenischen Fülle im Spiegeldialog mit allen Beteiligten. Wolfram Hogrebe, Gral und Waschmaschine Jetzt beklagen fast alle die Symptome einer moralisch enthemmten Wirtschaftsdoktrin. Ihren ideologischen Kern bildete ein Shareholder-value-Denken, auf dessen Linie zweifelhafte Standards guter Unternehmensführung etabliert wurden, die sich in der aktuellen Krise als wesentliche Ursache von schlechtem Geschäftsgebaren großer Aktiengesellschaften entpuppten. Hinzu kamen Geschäftsmodelle der Finanzwirtschaft, die man nur noch ironisch mit der "Greater Fool Theory" (Rainer Stöttner) des Marktes beschreiben kann: Risiken verschleiern, verbriefen und verstreuen – wer kaufte, war selber schuld. Als Treiber wirkte die verbreitete Gier von Investoren nach maximaler Eigenkapitalrendite. Ihr korrespondierten Desintegrationserscheinungen im Selbstverständnis von Verantwortungsträgern der Wirtschaft, die, falsch angereizt durch exorbitante Boni, zwar bei weitem nicht immer, aber eben doch immer öfter den Sinn für den kleinen Unterschied zwischen anständig Geld verdienen und Geld anständig verdienen verloren haben. Eine Individualisierung des Problems greift jedoch zu kurz. Aus wirtschaftsethischer Perspektive geht es stets um die Wechselwirkung zwischen individuellen Haltungen (also persönlichem Ethos) und institutionellen Rahmenbedingungen (also Anreizen und Restriktionen). Verantwortungsvolles Handeln muss zwar individuell aufgrund eines entsprechenden Bewusstseins gewollt sein, aber es muss auch innerhalb der institutionalisierten Zwänge der Selbstbehauptung in der Marktwirtschaft für den Einzelnen zumutbar sein. Deshalb hatten die Ordoliberalen, die sich ursprünglich "Neoliberale" nannten, mit gutem Grund die Rolle des "Marktrandes" hervorgehoben. Peter Ulrich, Republikanische Liberalismus Als die DDR in den späten achtziger Jahren ihrem Ende entgegenging, wollte Erich Honecker das Regime retten und erinnerte sich daher seiner Juden. Das hatte man bisher geflissentlich vermieden, unter dem Deckmantel des "Antifaschismus" hatte man alle Verantwortung für die Vergangenheit abgelehnt, jetzt aber versprach man finanzielle Abfindungen und äußerte sogar eine Einladung: Juden aus der Sowjetunion sollten sich in Deutschland ansiedeln. Es hat nichts geholfen, und der SED-Staat musste untergehen. Nach der Wiedervereinigung aber übernahm die Bundesregierung auch diese Hypothek der DDR, sie ließ die Einladung gelten, und sie tat es mit Handkuss. 1991 erklärte man alle Juden, die aus den GUS-Staaten einwandern wollten, zu Kontingentflüchtlingen, und gleichmäßig werden sie seither nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel auf alle Bundesländer verteilt. Das neue Deutschland, das sich der Welt präsentieren wollte, musste seine Judenfrage lösen, und wie später die Errichtung des Holocaustmahnmals wurde auch das Einschleusen der "Flüchtlinge" zu einem Akt der Staatsräson. Fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung waren etwa 200000 Juden eingewandert, ihre Zahl in Deutschland hatte sich fast verzehnfacht, und alles hatte sich verändert. Die Zuwanderer waren keine polnischen oder osteuropäischen Juden mehr wie die DPs der Nachkriegszeit, und obwohl Millionen ihrer Vorfahren, sofern sie westlich von Moskau oder Stalingrad gelebt hatten, von den Nazis ermordet worden waren, kamen sie doch aus der ehemaligen Sowjetunion – nicht als die Opfer, sondern als die Sieger des Zweiten Weltkriegs. Mit einem politischen Schwert hatte die Bundesregierung den gordischen Knoten zerschlagen, der das deutsch-jüdische Verhältnis zu ersticken drohte, und ein moralisches Problem war aus der Welt geschafft. Aber es war zugleich die endgültige Verabschiedung des deutschen Judentums, und an diesem Punkt soll die hier skizzierte Geschichte daher enden. Die Juden in der Bundesrepublik machen einen neuen Anfang. Seine Zukunft, wie alle Zukunft, ist nicht abzusehen. Jakob Hessing, Zickzackgeschichte In New York gibt es ein Goethe House, in Boston eine Dante Alighieri Society – warum sollte es in Rom keine Casa Pound geben? Amerikas bedeutendster Dichter seit Walt Whitman ist eine Schlüsselfigur der Weltliteratur. Überdies erscheint Ezra Pounds Lebenslauf eng mit der italienischen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts verflochten. Und siehe da: Selbstverständlich gibt es in Rom eine Casa Pound. Sechs Stockwerke ist sie hoch, und auch in Mailand und Neapel und einem Dutzend weiterer Städte ist diese Bildungseinrichtung vertreten. Es wäre indessen naiv, hierin eine noch nie dagewesene Blüte amerikanischer Kulturinstitute in Italien zu vermuten. Die Wachtposten der römischen Casa Pound sind, soweit erkennbar, unbewaffnet. In dem geräumigen Gebäude nahe der Stazione Termini aber fehlt es an Sicherheitsvorkehrungen nicht: Unlängst ist die Casa-Pound-Filiale im roten Bologna durch eine Brandbombe der dortigen Antifa arg beschädigt worden. Das Hauptquartier in Rom jedoch – 8, Via Napoleone III – wirkt als feste Burg, in der sich Jugendzentrum, Kulturinstitut und Kaderschmiede sicher fühlen. Millionen hat das nicht gekostet: Es handelt sich um eine Hausbesetzung, wenn auch nicht um eine linke. Von den Bürgermeistern der Hauptstadt Italiens wird die Gebäude-Usurpierung seit sechs Jahren geduldet, vom Postkommunisten Walter Veltroni ebenso wie vom Postfaschisten Gianni Alemanno. Eine Zwangsräumung wäre auch problematisch. Die Neofaschisten um den Altrocker Gianluca Iannone (ein Vollbart mit Naturglatze à la Horst Mahler) wollen im Volk schwimmen wie der Fisch im Wasser und haben sich mit Volk gewappnet. An die dreißig obdachlose Familien sind in der Casa Pound kostenlos einquartiert – italienische Familien, versteht sich. Sie wirken in diesem Viertel als ethnische Minderheit: Esquilino, bunt, verkommen und lebensprall, ist das römische Asiatown. Auf der Piazza Vittorio, wo jedes Jahr ein großes Multikultifest gefeiert wird, prangen die Plakate der Jungfaschisten. Unter dem Bild eines Indianerhäuptlings steht zu lesen: "Sie haben die Immigration erlitten. Heute leben sie in Reservaten." Dennoch kommt es hier zu keinen Zusammenstößen mit Einwanderern. Die Ost- und Südostasiaten haben einen unauffälligeren Lebensstil als rumänische Zigeuner, und die Faschos mit ihrer Buchhandlung und ihrer ruhigen Kneipe wollen sich als Zivilisationsträger und Ordnungsfaktor ausweisen. Nur, was hat all das mit Ezra Pound zu tun? Vom Namenspatron ist wenig zu sehen außer seinem Don-Quijote-Halbprofil und dem Spruch: "Ist ein Mann nicht bereit, etwas für seine Meinung zu riskieren, so ist entweder die Meinung nichts wert oder der Mann." Pound, der 1945 für seine politischen Ansichten vier Wochen in einen grell beleuchteten Maschendrahtkäfig gesperrt wurde und dann für zwölf Jahre ins Irrenhaus kam, ist solche Schroffheit kaum zu verdenken. Was aber prädestiniert den Autor der bildungslastigen Cantos, die für die mehr auf Körpersprache trainierten Jünger der Casa Pound völlig undurchdringlich sind, zu deren Aushängeschild? Carlos Widmann, Der Club des toten Dichters Eine von ideologischen Verkürzungen, Verfälschungen und Instrumentalisierungen freie Geschichte Bulgariens muss erst noch geschrieben werden, und zwar als Erzählung. Und dieser Prozess ist seit der Jahrtausendwende auch bemerkenswert in Gang gekommen und hat damit eine zweite, eine produktive Metamorphose des Blicks auf die eigene Vergangenheit in Gang gesetzt. Interessant und folgerichtig erscheint mir, dass die Befreiung der monomythisch instrumentalisierten Geschichte Bulgariens aus absolutistischer Fremdherrschaft oder totalitärer Parteiendiktatur nicht von jüngeren Schriftstellern und Intellektuellen ausgeht, sondern maßgeblich von den heute über Sechzigjährigen. Es ist auffallend, dass fast ausnahmslos alle, die uns etwas Wichtiges über Bulgarien und seine immer wieder so tragisch unterbrochene Entwicklung zum Nationalstaat zu sagen haben, in kommunistischer Zeit erfolgreich waren, ganz gleich, ob sie dem Regime positiv oder kritisch bis ablehnend gegenüberstanden. Nimmt man die drei erwähnten Komponenten zusammen, die Rede ebendieser Intellektuellen vom Werteverfall, ihren Erfolg als Filmer, Drehbuchautoren oder Schriftsteller und ihre erzählerische Produktivität nach der Jahrtausendwende, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass nur sie genügend innere Motivation haben, Bulgariens Geschichte neu zu schreiben: Nur so können sie ihre eigene Biographie vor dem Sturz in Bedeutungslosigkeit und Sinnverlust retten. Ihnen dieses Recht abzusprechen aus dem Verdacht heraus, dass sie ja doch nur wieder die nächste Ideologisierung der Geschichte, diesmal im Namen der eigenen Imagepolitur, betreiben, ist kurzsichtig und verfehlt: Denn Angel Wagenstein, Lea Cohen, Vladimir Zarev, Slaw Bakalow, Georgi Mischev und andere sind viel zu klug, um nicht zu wissen, dass ihr Platz in der Geschichte nun nicht mehr davon abhängt, ob sie einer Parteiinstanz gefallen, sondern nur noch von zwei Dingen: ob ihnen die bulgarischen Leser glauben und ob sie genügend aufregende Erzählstränge freizulegen und lebendig darzustellen vermögen, um auch ein internationales Publikum zu faszinieren und für das bulgarische Schicksal zu interessieren. Da mag es ein unschätzbarer Vorteil sein, dass sie eben nicht nur Erben eines verkommenen, korrupten und versteckt turbokarrieristischen Soz-Staates sind, sondern auch Erben einer reichen Kultur und Sprache. Dies könnte gerade sie dazu befähigen, den unverfälschten Duft des alten Bulgarien zu beschwören. Und vielleicht auch den des neuen. Thomas Frahm, Die nächste Wende kommt bestimmt Ob das jetzt das vereinbarte Interview sei? Man wolle nur sicher gehen. Ob man aus der Wissenschaft komme? Ob man ein Journalist sei? Kremer, ein etwa fünfundvierzigjähriger Angestellter eines privaten Sicherheitsdienstes, sitzt im Drehstuhl vor den Bildschirmen im Überwachungsraum des Allee-Centers in Leipzig-Grünau – eine sogenannte Shopping Mall, die nach der Wende aus dem grauen Betonsand gewuchert ist. Leipzig-Grünau ist eine der größten Plattenbausiedlungen in Ostdeutschland, errichtet zwischen 1976 und 1989 für hunderttausend "neue Menschen". Heute: eine marode Entwicklungszone, in der ich während meines Literaturstudiums an der Universität Leipzig gewohnt habe. Die Zukunft ist begraben, Wünsche und Hoffnungen sind abgewandert, Trümmer auf Trümmer gehäuft. Die Häuser sind genauso kaputt wie das Innere der Menschen. Hinter den Plattenbauten liegt ein ehemaliges Bergbaugebiet für Braunkohle, eine Mondlandschaft. Der Boden ist hohl, durchbohrt und zerlöchert. Der Kohlevorrat hätte noch bis 2040 gereicht. Seltsame Gegenwelten wären noch hinter den zugemauerten und zugewucherten Stolleneingängen zu entdecken, die ins Jenseits unserer Geschichte befördern könnten. Doch die Ablagerungen der Geschichte werden nicht mehr aufgewühlt. Übrig geblieben ist eine Gesellschaft, die am Abgrund steht – es bedarf nur eines kleinen Fehlers, und sie zerstört sich selbst. In den Vorlesungen hatte ich viel von Michel Foucaults Überwachen und Strafen gehört, und obwohl dieser Gestus der Kritik an der Disziplinargesellschaft manchmal wie aus einer anderen Welt zu kommen scheint, wollte ich doch wissen, was der Fall ist und was dahinter steckt. Ich habe keine Antworten gefunden, aber Kremer, mein Gesprächspartner, könnte noch von den Narben und Verletzungen des Systemwechsels erzählen, von den blutigen Nähten und den offenen Wunden, auch von den Überlebensstrategien. Mühsam hat Kremer seinen eingeknickten Körper wieder aufgerichtet. Rauchen sei erlaubt, "Ausnahmeregelung". Er trägt eine dünne schwarze Bomberjacke, eine zweite Haut, die er sich schnell noch übergestülpt hat und die nun schon festklebt. Eine weiße Aufschrift auf dem Rücken, die über seine Funktion aufklären soll: "Security". Sein Mobiltelefon hat er in einem Plastiklederetui an seinem Gürtel befestigt, etwas klischeehaft. Gewünschtes Profil: lautlos. Ständig kratzt er sich an den geröteten Unterarmen, als spürte er noch Parasiten und Eindringlinge, die sich unter seiner Haut eingenistet haben. Hautschuppen rieseln auf den Linoleumboden. Dies sei also sein "Kontrollzentrum", wie er es beinahe liebevoll nennt. Ein kahler Raum ohne Fenster, der einem leeren Aquarium gleicht. Das Neonlicht flimmert. Es scheint, als hätten die Schatten an den Wänden vor kurzem noch gelebt. Christian Engelbrecht, Kremer will zurück ins Leben
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