Eine von ideologischen Verkürzungen, Verfälschungen und Instrumentalisierungen freie Geschichte Bulgariens muss erst noch geschrieben werden, und zwar als Erzählung. Und dieser Prozess ist seit der Jahrtausendwende auch bemerkenswert in Gang gekommen und hat damit eine zweite, eine produktive Metamorphose des Blicks auf die eigene Vergangenheit in Gang gesetzt. Interessant und folgerichtig erscheint mir, dass die Befreiung der monomythisch instrumentalisierten Geschichte Bulgariens aus absolutistischer Fremdherrschaft oder totalitärer Parteiendiktatur nicht von jüngeren Schriftstellern und Intellektuellen ausgeht, sondern maßgeblich von den heute über Sechzigjährigen. Es ist auffallend, dass fast ausnahmslos alle, die uns etwas Wichtiges über Bulgarien und seine immer wieder so tragisch unterbrochene Entwicklung zum Nationalstaat zu sagen haben, in kommunistischer Zeit erfolgreich waren, ganz gleich, ob sie dem Regime positiv oder kritisch bis ablehnend gegenüberstanden. Nimmt man die drei erwähnten Komponenten zusammen, die Rede ebendieser Intellektuellen vom Werteverfall, ihren Erfolg als Filmer, Drehbuchautoren oder Schriftsteller und ihre erzählerische Produktivität nach der Jahrtausendwende, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass nur sie genügend innere Motivation haben, Bulgariens Geschichte neu zu schreiben: Nur so können sie ihre eigene Biographie vor dem Sturz in Bedeutungslosigkeit und Sinnverlust retten. Ihnen dieses Recht abzusprechen aus dem Verdacht heraus, dass sie ja doch nur wieder die nächste Ideologisierung der Geschichte, diesmal im Namen der eigenen Imagepolitur, betreiben, ist kurzsichtig und verfehlt: Denn Angel Wagenstein, Lea Cohen, Vladimir Zarev, Slaw Bakalow, Georgi Mischev und andere sind viel zu klug, um nicht zu wissen, dass ihr Platz in der Geschichte nun nicht mehr davon abhängt, ob sie einer Parteiinstanz gefallen, sondern nur noch von zwei Dingen: ob ihnen die bulgarischen Leser glauben und ob sie genügend aufregende Erzählstränge freizulegen und lebendig darzustellen vermögen, um auch ein internationales Publikum zu faszinieren und für das bulgarische Schicksal zu interessieren. Da mag es ein unschätzbarer Vorteil sein, dass sie eben nicht nur Erben eines verkommenen, korrupten und versteckt turbokarrieristischen Soz-Staates sind, sondern auch Erben einer reichen Kultur und Sprache. Dies könnte gerade sie dazu befähigen, den unverfälschten Duft des alten Bulgarien zu beschwören. Und vielleicht auch den des neuen.
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