Ob das jetzt das vereinbarte Interview sei? Man wolle nur sicher gehen. Ob man aus der Wissenschaft komme? Ob man ein Journalist sei? Kremer, ein etwa fünfundvierzigjähriger Angestellter eines privaten Sicherheitsdienstes, sitzt im Drehstuhl vor den Bildschirmen im Überwachungsraum des Allee-Centers in Leipzig-Grünau – eine sogenannte Shopping Mall, die nach der Wende aus dem grauen Betonsand gewuchert ist. Leipzig-Grünau ist eine der größten Plattenbausiedlungen in Ostdeutschland, errichtet zwischen 1976 und 1989 für hunderttausend "neue Menschen". Heute: eine marode Entwicklungszone, in der ich während meines Literaturstudiums an der Universität Leipzig gewohnt habe. Die Zukunft ist begraben, Wünsche und Hoffnungen sind abgewandert, Trümmer auf Trümmer gehäuft. Die Häuser sind genauso kaputt wie das Innere der Menschen. Hinter den Plattenbauten liegt ein ehemaliges Bergbaugebiet für Braunkohle, eine Mondlandschaft. Der Boden ist hohl, durchbohrt und zerlöchert. Der Kohlevorrat hätte noch bis 2040 gereicht. Seltsame Gegenwelten wären noch hinter den zugemauerten und zugewucherten Stolleneingängen zu entdecken, die ins Jenseits unserer Geschichte befördern könnten. Doch die Ablagerungen der Geschichte werden nicht mehr aufgewühlt. Übrig geblieben ist eine Gesellschaft, die am Abgrund steht – es bedarf nur eines kleinen Fehlers, und sie zerstört sich selbst. In den Vorlesungen hatte ich viel von Michel Foucaults Überwachen und Strafen gehört, und obwohl dieser Gestus der Kritik an der Disziplinargesellschaft manchmal wie aus einer anderen Welt zu kommen scheint, wollte ich doch wissen, was der Fall ist und was dahinter steckt. Ich habe keine Antworten gefunden, aber Kremer, mein Gesprächspartner, könnte noch von den Narben und Verletzungen des Systemwechsels erzählen, von den blutigen Nähten und den offenen Wunden, auch von den Überlebensstrategien. Mühsam hat Kremer seinen eingeknickten Körper wieder aufgerichtet. Rauchen sei erlaubt, "Ausnahmeregelung". Er trägt eine dünne schwarze Bomberjacke, eine zweite Haut, die er sich schnell noch übergestülpt hat und die nun schon festklebt. Eine weiße Aufschrift auf dem Rücken, die über seine Funktion aufklären soll: "Security". Sein Mobiltelefon hat er in einem Plastiklederetui an seinem Gürtel befestigt, etwas klischeehaft. Gewünschtes Profil: lautlos. Ständig kratzt er sich an den geröteten Unterarmen, als spürte er noch Parasiten und Eindringlinge, die sich unter seiner Haut eingenistet haben. Hautschuppen rieseln auf den Linoleumboden. Dies sei also sein "Kontrollzentrum", wie er es beinahe liebevoll nennt. Ein kahler Raum ohne Fenster, der einem leeren Aquarium gleicht. Das Neonlicht flimmert. Es scheint, als hätten die Schatten an den Wänden vor kurzem noch gelebt.
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