Aus dem Januarheft 2011, Nr. 740
Und wie wird die zukünftige Entwicklung sein? Vor einigen Jahren besuchte mich ein deutscher Diplomat in meinem Büro in Jerusalem, der mir diese Frage stellte, und ich erinnere mich, dass mir augenblicklich klar wurde, diesem Gentleman, der ohne Frage ein Freund Israels war, nichts sagen zu können, was ihn zufriedenstellen würde. Im Lauf der Jahre habe ich viel über die Antwort, die ich ihm gab, nachgedacht, aber es gelang mir nicht, sie deutlich zu verbessern. Das Problem besteht darin, dass viele in Europa sich für ein Konzept internationaler Beziehungen entschieden haben, das der nationalen Unabhängigkeit sehr große Opfer abverlangt, wenn ein Volk als wirklich legitimes Mitglied der Völkergemeinschaft anerkannt sein will. Es sind Opfer, die selbst einigen europäischen Nationen schwerfallen. Realistisch betrachtet besteht keine Möglichkeit, dass Israel diese Opfer bringen wird. Israel wurde mit dem ausdrücklichen Ziel gegründet, ein unabhängiger Nationalstaat zu sein, der Staat des jüdischen Volkes, und das wird es aus den von mir dargelegten Gründen auch bleiben. Solange viele in Europa weiterhin daran arbeiten, ihre eigenen unabhängigen Nationalstaaten abzuschaffen, werden sie weiterhin den Übergang zu einem neuen Paradigma vorantreiben, dem es äußerst schwer fällt, einer Nation wie Israel darin einen Platz einzuräumen. Ich bin mir bewusst, dass viele Europäer auf ein anderes Israel hoffen. Ich selber hoffe, dass wir einen Gesinnungswandel in Europa erleben werden. Anständige Menschen sollten in der Lage sein, auf Israel zu schauen und einzuräumen, dass der jüdische Staat nicht notwendig deshalb dem neuen Paradigma nicht entspricht, weil etwas faul ist in Israel, sondern weil vielleicht etwas faul ist an dem neuen Paradigma. Vielleicht ist die Europäische Union nicht in jeder Hinsicht eine so vielversprechende Idee, wie man vermutete. Vielleicht haben sich die europäischen Völker geirrt und ihre nationale Unabhängigkeit zu gering eingeschätzt und waren bereit, zu einem allzu niedrigen Preis auf sie zu verzichten. Die Geschichte ist unbeständig und wechselhaft, und wer das heute nicht zu erkennen vermag, wird es vielleicht morgen sehr deutlich erkennen. Wenn die Europäer erst einmal Anlass haben, den Wert, den sie ihren nationalen Traditionen und ihrer nationalen Unabhängigkeit zuerkennen, zu überprüfen, ist das Beispiel Israels vielleicht von größerem Interesse für sie − in einem positiven Sinne. Und wenn das geschieht, da bin ich mir sicher, werden sich die Beziehungen zwischen Europäern und Israel verbessern, vielleicht sogar überraschend schnell.
Yoram Hazony, Ist die Idee des Nationalstaats überholt?
Über die Jahrhunderte hin haben Mitglieder unterschiedlicher Gesellschaftsschichten aus vielen europäischen Ländern zum Europadiskurs beigetragen: Schriftsteller, Politiker, Philosophen, Vertreter der Kirchen und der Wissenschaft. Dieser Diskurs war vor allem ein Friedensdiskurs, der seine ethische Energie aus der Opposition zu großen Kriegen bezog. Er schuf Imaginationen, die als Erinnerungen Zeiten der Stabilität und der Harmonie beschworen und die als Utopien Vorstellungen von einem künftigen Europa schufen, das Institutionen bauen sollte, um Kriege zu verhindern. Dieser Europadiskurs als Friedensdiskurs reicht von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, ein Dialog über die Jahrhunderte hin. Der deutsch-französische Antagonismus wie auch die deutsch-französische Freundschaft waren besonders wichtige Antriebskräfte der Europaessayistik. Man kann eine Genealogie dieses Diskurses rekonstruieren. Sie reicht vom "Großen Plan" des Herzogs von Sully bis zu Giscard d´Estaings Verfassungsvertrag für die Europäische Union, von Novalis´ Europavorstellungen bis zu Adolf Muschgs Essay Was ist europäisch? . Innerhalb dieses Europadiskurses gibt es zwei Grundrichtungen, eine politisch-pragmatische und eine philosophisch-kulturelle: Entwürfe für verwaltungsmäßige Institutionen, ohne die das Projekt eines europäischen Staatenverbundes nicht funktionieren kann; Religiöses und Ethisches, also die kulturelle Basis eines kontinentalen Gemeinwesens. Der politisch-pragmatische Essay wurde vor allem von Politikern und Publizisten verfasst und dominierte in Frankreich, der religiöse beziehungsweise ethische, auf gemeinsame zivilisatorische Werte ausgerichtete Europaessay wurde von Schriftstellern beigesteuert und herrschte in Deutschland vor. Die Vertreter beider Richtungen waren Visionäre, denn die Art von neuer europäischer Friedensordnung, die inauguriert wurde, hatte in der faktischen Geschichte vergleichbar noch nicht existiert. Der pragmatische und der ideelle Europadiskurs blieben durch die Jahrhunderte hin aufeinander bezogen: immer kritisch, zuweilen konstruktiv, weil man in den Zielen übereinstimmte, nicht selten auch destruktiv, weil kulturelle Werte vertreten wurden, die sich mit den Plänen und Aktionen der Projektemacher nicht vereinbaren ließen.
Paul Michael Lützeler, Die Schriftsteller und das europäische Projekt
Am 24. Juni 1859 besiegten die Franzosen und Sardinier bei Solferino die Österreicher. Diese verloren 22350 Mann, die Franzosen 12000, die Piemontesen 5500. Henri Dunant hat die Schlacht 1862 in seinem Buch Un Souvenir de Solferino geschildert. Das Buch beginnt wie eine gewöhnliche Schlachtbeschreibung der Zeit, geschmückt mit den Namen der Orte südlich des Gardasees, die die Erinnerung an Bonapartes oberitalienischen Feldzug von 1794 und an Stendhals Schilderung in seinem Leben Napoleons wachrufen. Dunant ist wie ein Stendhalscher Tourist zufällig in das Schlachtgeschehen hineingeraten: "Auf diesen Seiten schildere ich nichts weiter als meine persönlichen Eindrücke: Man soll hier also weder spezielle Einzelheiten noch strategische Auskünfte suchen, die ihren Platz in anderen Werken haben." Nachdem er den Aufmarsch der Armeen beschrieben hat, wie es ein Historiker tun würde, ändert sich plötzlich, kaum dass die Kämpfe begonnen haben, der Ton seiner Schilderung: "Österreicher und Alliierte bedrängen einander, schlagen sich tot über blutenden Leichnamen, erschlagen einander mit Kolbenhieben, schlagen sich die Schädel ein, schlitzen sich mit dem Säbel oder dem Bajonett den Bauch auf; es gibt kein Pardon mehr, es ist eine Schlächterei, ein Kampf wilder Tiere, die rasen und trunken von Blut sind."
Henning Ritter, Die Schreie der Verwundeten
Das Wort "Einsamkeit" erweckt in unserer Gesellschaft vornehmlich negativ getönte Assoziationen − an leidvoll-depressive Gefühle sozialer Isolation −, aber wer seinen Blick kulturgeschichtlich zu weiten beginnt, stößt doch sehr bald auch auf ganz andere Bedeutungsklänge, die es der Sphäre des Eindeutig-Einseitigen weit entrücken. Neben dem vielstimmigen Chor der Einsamkeitsklagen, der sich seit dem alten Ägypten immer wieder erneuert hat, gibt es auch eine sich durch die Gesellschaftsgeschichte hindurchziehende Kette von Dokumenten positiver Einsamkeitserfahrungen − des Einsamkeitslobs −, beispielsweise bei Heraklit, in der römischen Stoa, bei den frühchristlichen Anachoreten, in vielen Einsamkeitstexten der barocken, klassischen und romantischen Lyrik; bei Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche; bei Künstlern, wenn sie die Entstehung ihrer Werke reflektieren; und in den Erlebnisschilderungen moderner Extremsportler über die oft als grandios erfahrene "Einsamkeit des Langstreckenläufers", Bergsteigers oder Drachenfliegers. Natürlich erhebt sich schnell die Frage, ob das eine Wort "Einsamkeit" überhaupt für die Benennung derartig gegensätzlicher Selbsterfahrungen taugt. Was ist denn das Gemeinsame im Positiven und Negativen, das es anzusprechen vorgibt? Und macht es überhaupt Sinn, soziokulturell und existentiell derartig unterschiedliche Formen des Selbsterlebens als Varianten eines Phänomens komparativ zueinander in Beziehung zu setzen? Lassen das die völlig divergenten Kontexte, in denen sie statthaben, überhaupt zu?
Friedrich Pohlmann, Einsamkeit
Kombinationen alter und neuer Kunst waren lange verpönt oder zumindest unüblich. Vor allem hatte damit Probleme, wer im Geist der Avantgarde daran glaubte, dass das Neue unbedingt das Andere sein müsse − in möglichst großem Abstand zu allem Herkömmlichen. Es bestand dann die Befürchtung, die Verbindung mit Altem würde zwangsläufig den revolutionären Impetus − den behaupteten Ausnahmezustand − des Neuen schwächen. Und würde es nicht sogar auf ein bloß ästhetisches Ereignis reduziert, wenn durch eine Gegenüberstellung formale Ähnlichkeiten über Epochen hinweg zum Vorschein kämen? In den letzten Jahren mehren sich jedoch die Hinweise, dass die Logik der Avantgarde bei unterschiedlichen Akteuren des Kunstbetriebs, bei Künstlern nicht anders als bei Kuratoren und Sammlern, an Geltung verliert und daher auch alternative Formen der Anordnung, insbesondere Spielarten eines Crossover der Epochen, ausprobiert werden. Ein paar Beispiele: Schon im Jahr 2001 richteten mit Thomas Huber und Bogomir Ecker zwei Künstler in Düsseldorf das Künstlermuseum ein, in dem sie die Bestände des Städtischen Kunstmuseums nach Themen und unabhängig von einer chronologischen oder gattungsbezogenen Ordnung arrangierten. So hängen hier nun unter der Rubrik "Melancholie" Gemälde von Giorgio De Chirico und Georg Scholz neben einem Bild von Francisco de Zurbarán. Auf der documenta 12 gab es 2007 unter dem Schlagwort "Migration der Formen" erstmals einzelne Werke früherer Jahrhunderte zwischen Zeitgenössischem zu sehen. Auch etliche Museen heben mittlerweile zumindest temporär die vertraute Anordnung nach Stilen und Schulen auf und mischen ihre Bestände mit Werken heutiger Künstler. So bekam Jan Vanriet 2010 insofern eine ungewöhnliche Retrospektive, als er im Königlichen Museum der Schönen Künste in Antwerpen 175 seiner Werke mit rund 150 Exponaten aus der ständigen Sammlung mischen und nach eigenem Gutdünken anordnen durfte. Seine Bilder hingen also zwischen Werken von Jean Fouquet, Peter Paul Rubens und James Ensor. Andere Museen, etwa die Kunsthalle Karlsruhe, ermöglichen Künstlern Eingriffe in die Sammlungsräume oder animieren sie dazu, mit eigenen Arbeiten auf Werke früherer Jahrhunderte zu reagieren. Und während bis vor kurzem nur Kunstsammler an die Öffentlichkeit traten, die sich entweder für alte oder ausschließlich für moderne Kunst engagieren, tauchen neuerdings ebenso Sammler auf, die Werke verschiedener Epochen besitzen. So eröffnete 2010 in Berlin Thomas Olbricht seine Räume, in denen Werke aus der Zeit zwischen dem 16. Jahrhundert und der Gegenwart gezeigt werden. Thomas Rusche, Eigentümer der Sammlung SØR Rusche, bemüht sich an mehreren Orten darum, niederländische Malerei aus dem 17. Jahrhundert mit Arbeiten zeitgenössischer Künstler in einen Dialog zu bringen.
Wolfgang Ullrich, Ästhetikkolumne
Der Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek, dessen Opus magnum Die Verfassung der Freiheit vor fünfzig Jahren erstmals in englischer Sprache erschienen ist, hat mit Rückgriff auf die Evolution unter anderem einen Komplex weiterer kontroverser Fragen zu beantworten gesucht: Warum tut sich die Menschheit eigentlich so schwer mit dem Kapitalismus, obwohl er ihr deutlich mehr Wohlstand gebracht hat als alle anderen Wirtschaftssysteme? Warum können wir uns für eine Ordnung nicht erwärmen, die auf der "List der Idee" beruht, die also unabhängig davon funktioniert, ob wir sie verstehen und mit bewusstmoralischem Verhalten fördern? Warum verlangen wir von einem abstrakten Ordnungssystem und seinen wichtigsten Instanzen menschliche Wärme? Warum übertragen wir derart unsere Sehnsüchte auf den Staat, auf die Gefahr hin, diesen mit unseren unangemessenen Wünschen zu überfordern und unsere Ordnung zu erodieren? Sind wir schlicht zu dumm, um die Wahrheit zu erkennen? Und wenn das so ist, was folgt daraus? Diese Fragen sind heute so drängend wie je − gerade vor dem Hintergrund der erbittert geführten Systemdebatte, die im Herbst 2008 im Zusammenhang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise neuerlich ausgebrochen ist. Joseph Schumpeter, ebenfalls ein österreichischer Ökonom, hatte schließlich schon 1942 in seinem Buch Sozialismus, Kapitalismus und Demokratie pessimistisch den Teufel an die Wand gemalt: Unweigerlich werde der Kapitalismus zugrunde gehen, erdrückt einerseits von den immer ineffizienter wirtschaftenden Konglomeraten, die den Wettbewerb ausschalteten, und ideell vergiftet durch die Klasse der ihn anzweifelnden Intellektuellen. Offenbar gibt es kein kapitalistisches Gen. Hayeks Antwort ist so berühmt, wie sie unbehaglich und unbefriedigend ist. Dass "viele Leute mit dem derzeitigen System der Verteilung unzufrieden sind" und nach mehr sozialer Gerechtigkeit rufen, freilich ohne überhaupt eine "klare Vorstellung davon (zu haben), welches System der Verteilung als gerecht anzusehen wäre", erklärt Hayek unter anderem in seinem 1976 gehaltenen Vortrag Der Atavismus "sozialer Gerechtigkeit" damit, "dass wir von einem früheren, andersartigen Typus von Gesellschaft, in dem die Menschen sehr viel länger als im jetzigen gelebt hatten, einige nun tief eingewurzelte Instinkte geerbt haben, die zu unserer derzeitigen Zivilisation nicht passen".
Karen Horn, Ökonomiekolumne
Volksfeinde ist ein Briefwechsel, den Houellebecq zwischen Januar und Juli 2008 mit dem Philosophen und Publizisten Bernard-Henri Lévy führte. Das ist eine bemerkenswerte Paarung. Im Gegensatz zu dem acht Jahre jüngeren Houellebecq, dessen Karriere erst 1994 mit dem Roman Ausweitung der Kampfzone in Fahrt kam, steht der 1948 geborene Lévy bereits seit mehr als drei Jahrzehnten ständig im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Als Schriftsteller, Kolumnist, Verleger, Herausgeber ist er eine der schillerndsten Figuren der intellektuellen Szene Frankreichs und die Marke BHL in den Medien nicht nur der frankophonen Welt ubiquitär präsent. Kosmopolitisch, extrovertiert, gebildet, wohlhabend, elegant, gewandt, eloquent, gutaussehend stellt er in Habitus, Temperament und Auftreten zudem das genaue Gegenteil des im Vergleich dazu provinziell und linkisch wirkenden Houellebecq dar. Auch inhaltlich verbindet die beiden wenig. Lévy sucht, so sehr das mitunter in selbstverliebter Rhetorik und routiniert inszenierter Emphase untergehen mag, in seinen Argumentationen stets Anschluss an grundsätzliche ethische Fragestellungen. Er äußert sich dezidiert zu politischen und sozialen Problemen und sieht sich dadurch ständig in Debatten verstrickt, die nicht allein in der Öffentlichkeit ausgetragen werden, sondern zugleich öffentliche Relevanz für sich beanspruchen können. Houellebecq dagegen kreist ostentativ nur um sich selbst, pflegt das zynische Image des Nichtwählers und Steuerflüchtlings, der sich nicht als teilnehmender Bürger, sondern lediglich als zahlender Kunde des Staates begreift, und er lässt keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass er keinerlei über seinen privaten Lebenskreis hinausreichende Verantwortung anzuerkennen bereit sei. Was beide über diese Differenzen hinweg verbindet, ist die Heftigkeit und Emotionalität der Reaktionen, die ihre Person wie auch ihre Thesen in der Öffentlichkeit auslösen. Natürlich bieten sie, jeweils auf unterschiedliche Weise, schon allein durch die markante Selbststilisierung und die bewusst provokant zur Schau getragene Selbstgewissheit eine ideale Angriffsfläche für hämische Kommentare und gehässige Anmerkungen. Lévy und Houellebecq tun nicht allzu viel dafür, besonders sympathisch zu wirken. Auch schwankt die Qualität ihrer Veröffentlichungen mitunter ziemlich heftig. Aber das Maß an Ablehnung, das ihnen seitens ihrer Kritiker entgegenschlägt, geht doch deutlich über das hinaus, was auf dem literarischen Feld im Allgemeinen als normal empfunden wird.
Christian Demand, Im Wolfspelz
Auch wenn Foer sich das Recht auf Inkonsequenz sympathischerweise einräumt, möchte man ihm einige Fragen stellen. Was isst er noch? Ernährt er sich vegetarisch oder vegan? (Nach seinen Ausführungen zur Eier- und Milchproduktion müsste man Letzteres annehmen.) Was gibt er seinen Kindern zu essen? Was seinem Hund, dessen intelligentes Verhalten ihn zur Reflexion über die Rechte von Tieren anregte? Er betont, dass er der Fleischindustrie überhaupt kein Geld mehr geben möchte. Doch füttert Foer seinen Hund etwa mit Fleisch aus artgerechter Haltung − die ihm immer noch zu grausam ist, um das Fleisch selbst zu konsumieren? Und ist es nicht viel unmoralischer, Fleisch an seinen Hund zu verfüttern, als es selbst zu essen oder es seinen Kindern zu geben? Dem Autor, der einfache Antworten klugerweise vermeidet, kann man jedenfalls nicht vorwerfen, dass sein Buch keine Fragen aufwürfe. Nach der Lektüre bleibt man gleichwohl ratlos zurück. Vegetarismus oder gar Veganismus als Massenbewegung zu propagieren ist müßig, da die Menschen nun einmal Fleisch nicht nur essen wollen, sondern zumindest bis zu einem gewissen Grad auch darauf angewiesen sind. Zu postulieren, wie es Theologen und Ethiker gerne tun, Fleisch zu essen sei grundsätzlich vertretbar, solange es nicht aus Massentierhaltung stamme, ist dagegen wohlfeil, da die Massentierhaltung die heute vorherrschende Form der Fleischproduktion ist. Um für sechs Milliarden Menschen Fleisch vom glücklichen Weidelamm bereitzustellen, gibt es bei weitem nicht genug Weideland. Also auf Tierethik ganz verzichten? Aus dem Dilemma scheint kein Weg herauszuführen. Solange alle Menschen mehrmals in der Woche Fleisch essen wollen, wird es Massentierhaltung geben müssen, denn nur diese ist in der Lage, die benötigten Mengen bereitzustellen. In Westeuropa und Nordamerika gibt es indes genügend Spielraum nach unten. Der Fleischkonsum hat sich in der Bundesrepublik in den vergangenen vierzig Jahren verdoppelt, und man wird kaum behaupten können, dass hierzulande in den Siebzigern Mangelernährung geherrscht hätte. Für Verzicht zu werben ist legitim; solange dieser aber nicht freiwillig erfolgt und man nicht zu staatlichen Verboten greifen möchte, wird sich auch an der Tierhaltung nichts ändern. Einen Ausweg aus diesem Dilemma scheint allein die Gentechnik zu bieten, etwa durch Züchtung von Tierrassen ohne Bewusstsein und ohne Schmerzempfinden. Oder aber − und das ist das realistischere Szenario, denn daran wird längst gearbeitet − durch künstlich hergestellte tierische Proteine: Gewächshausfleisch aus Stammzellen. Dass Letzteres noch nicht marktreif ist, liegt nicht allein am ungelösten Geschmacksproblem (Rindfleisch, das nicht von einer Kuh stammt, die Gras gefressen hat, schmeckt nun einmal nach nichts), sondern vor allem daran, dass die Verbraucher angesichts solcher "Frankenstein-Szenarien" auf einmal der Ekel packt − ein Ekel, den sie bei der Vorstellung zusammengepferchter und zerhackter Lebewesen seltsamerweise nicht spüren.
Ingo Way, Erst kommt die Moral, dann das Fressen?!
Ethik und Moral werden oft gleichsinnig gebraucht. Sie sind es aber nicht. Wir lassen zu, dass unseren Kindern in der Schule "Ethikunterricht" erteilt wird, gegen "Moralunterricht" würden wir uns heftig wehren. Grund: Moral betrifft die Anerkennung der einzelnen Person, und daran darf die Schule nicht rühren. Ethik dagegen ist eine Reflexionstheorie, eine Lehre der Moral. Sie verhält sich zur Moral wie Theologie zur Religion. Deshalb können wir ihre Vermittlung zu den Aufgaben der Schule rechnen. Moral ist notwendig, damit man ungefähr weiß, was man im Verkehr mit anderen Menschen diesseits von Gesetz und Recht zu tun und zu lassen hat. Daraus hat man vielfach geschlossen, Moral schaffe Frieden. Sie schafft aber eher Konflikte. Denn sie hält eine empfindliche Sanktion bereit: Missachtung. Von den Folgen her gesehen ist Moral die Summe der Regeln, nach denen wir Achtung oder Missachtung an unsere Mitmenschen verteilen, und Achtung oder Missachtung berühren das Selbstwertgefühl, genauer: das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Darauf reagiert jeder Mensch empfindlich. Achtung beruhigt, aber gegen Missachtung muss man sich wehren. Deshalb ist Moral polemogen, streitträchtig. Wenn man sich auf Ethik, also auf eine Reflexion der Moral beschränkt, braucht man indessen nichts zu entscheiden und vermeidet Streit. Wer über Ethik redet, braucht über Moral nicht mehr zu sprechen. Allerdings kann man auch nicht mehr sagen, wer oder was im konkreten Fall Achtung oder Missachtung verdient. Andererseits setzt eine theoretische Reflexion als Gegenstand eine Moral voraus, also Regeln der Achtung oder Missachtung. Diese Regeln müssen sich für eine Reflexion eignen, sie müssen vergleichbar und wiederholbar, in der Regel also vertextet, schriftlich festgehalten sein. Vertextung muss jedoch die konkreten Umstände moralischen Handelns vielfach ausblenden und erfasst nicht alle Fälle moralischer Verpflichtung. Ob und wie Vorleistungen zur Dankbarkeit verpflichten, kann man nicht aufschreiben, weil das Aufschreiben Vorleistungen unmöglich machte. Trotzdem ist die Ethik auf vertextete Moralen angewiesen. Nur kann man gerade wegen der Vertextung nicht wissen, wie genau Ethik die Moral spiegelt. An vertexteten Moralen ist kein Mangel. Die Philosophie liefert sie seit dem Altertum, und natürlich die Religion. Aber die Religion blenden wir einfach aus. Da es uns nicht um die "wahre Ethik überhaupt", sondern nur um "Ethik heute" geht, brauchen wir nicht die Rolle der Moral in der abendländischen Philosophiegeschichte zu verfolgen, sondern lediglich zu fragen: Welche Philosophie liefert heute der Ethik die Vorlage? Die meisten Moralphilosophen antworten: die praktische Philosophie Kants. Uns geht es jedoch weniger um deren tausendste Rekonstruktion, sondern darum, dass man nach den Regeln der wissenschaftlichen Diskussion eigentlich nur noch in philosophiegeschichtlicher Perspektive darüber reden dürfte. Hegel hat die praktische Philosophie Kants vernichtend kritisiert. Er war nicht der einzige, aber der bedeutendste Kritiker. Sollte Hegel recht haben, müssen wir Ethik neu denken.
Gerd Roellecke, Ethik in einer Gesellschaft der Gleichen
Also spricht Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft : "Es giebt immer etwas, über das absolut nicht gelacht werden darf" − er legt diesen Satz den theologisch imprägnierten "Lehrern vom Zwecke des Daseins" in den Mund. Doch auch wenn er ihn damit nicht unmittelbar auf das Politische bezieht, erweist er sich in dieser Hinsicht als lehrreich. Denn gerade eine Politik, die bestrebt ist, ihre kontingenten Anfänge latent zu halten oder die von ihnen nichts wissen will, dürfte in jenem Satz eines ihrer Betriebsgeheimnisse besitzen. Denn es gibt ohne Zweifel eine Fortdauer des theologischen Dispositivs in jeder auf einen letzten Grund setzenden Politik. Man könnte auch so sagen: Man wird Gott nicht los, solange man an die Grammatik des Staates glaubt. Eine konstituierte Ordnung verhängt zwangsläufig ein Lachverbot gegenüber ihren offiziellen Dogmen, ihren Gründungsmythen und Funktionsträgern. Nachlesen kann man das bereits bei Cicero, dem archetypischen Hüter der "res publica" und dem Idol liberaler Publizistik. Cicero zufolge müssen drei Gruppen vom Lachen unberührt bleiben: Freunde, Höherstehende, Richter. Im ersten Fall geht es um die intime Gemeinschaft, im zweiten Fall um soziale Hierarchien, im dritten Fall um das Gesetz. Alle drei spielen im Feld paradigmatischer Ordnungsvorstellungen. Über sie zu lachen hieße: eine Kluft aufreißen. Generell gilt: Über die politische Ordnung darf absolut nicht gelacht werden, weil das Lachen an Inkongruenzen der Ordnung rührte, letztlich daran, dass die Ordnung selber unordentlich ist. Die Ordnung im und durchs Lachen an ihre Anfänge zurückzuführen hieße: sie entwürdigen. Gerade der fröhliche Genealoge Friedrich Nietzsche dürfte wie kein Zweiter darum gewusst haben. Im absoluten Verbot des Lachens bemüht sich jede konstituierte Ordnung darum, sich von ihren Anfängen zu absolvieren: Es ist dies ihr Wunsch nach Auto-Absolution. Pascal, im Wissen um die Rhetorik der Macht Nietzsche ebenbürtig, war dementsprechend fasziniert von den Momenten, in denen der Schein der Wohlbegründetheit, der das Sein sichert, zerfällt. Die notorische Fliege auf der Nase des Offiziellen, die metonymisch den Fliegenschwarm konnotiert und metaphorisch die rebellische Menge; die verrutschte Perücke auf dem Kopf des Würdenträgers; das Stolpern des erhaben einherschreitenden Priesters − hier macht sich die Tücke des Objekts, hinter der die Tücke des Politischen lauert, bemerkbar.
Lars Bullmann, Die Tücke der Demokratie
Schon Ibsens Peer Gynt überlegt, ob seine Person nicht einer Zwiebel gleiche, von der man Schale um Schale entfernen könne, bis nichts mehr übrigbleibe. Und Oscar Wildes The Importance of Being Earnest findet bereits die geniale literarische Umsetzung des Gedankens, dass es zwischen Maske und Gesicht keinen Unterschied gebe, sondern dass unter der Maske eine weitere Maske stecke und immer so weiter, "all the way down". Flann O´ Brien mit seinen Romanen At Swim-Two-Birds und The Third Policeman vom Ende der dreißiger Jahre könnte genannt werden. Was Frankreich angeht, so muss man an Sartre denken, der in L´Être et le néant eine relationistische Sicht der menschlichen Person entwarf (und in seinen Romanen und Theaterstücken popularisierte): Ich bin derjenige, als den mich der andere sieht. Auch Becketts schon erwähnte Tätigkeit als Regisseur ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Das Pendant auf dem Theater zu literarischer Intertextualität, Einbeziehung des Rezipienten in den Text sowie Auflösung der Werksubstanz ist das Regietheater, also die Dominanz des Regisseurs gegenüber dem Autor. Hier steht Beckett ganz eindeutig auf Seiten des Autorentheaters früherer Zeiten, denn erstens hat er selbst äußerst werktreu gearbeitet und zweitens anderen Regisseuren untersagt, seine Werke dramaturgisch zu modernisieren, in unseren Zusammenhang: zu postmodernisieren. Was die Tendenz zur Reduktion, zur Konzentration im Oeuvre Becketts angeht, so existieren Parallelen zu Minimal Art und Minimal Music, amerikanischen Richtungen der Kunst und der Musik seit den sechziger Jahren, aber ob man sie zur Postmoderne zählen kann oder sollte, ist nicht klar. Auch ein Blick auf Becketts Kunstgeschmack ergibt kein postmodernes Bild. In Philosophie, Theologie und Literatur fühlte er sich der Tradition europäischer Hochkultur verbunden; Haydn und Schubert waren seine Lieblingskomponisten. Und trotz der Liebe zum Film, zu Komikern wie Buster Keaton oder Charlie Chaplin, spielen Popkultur und Popmusik keine Rolle für Beckett. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht scheint also folgendes Fazit korrekt: Man könnte Beckett mit dem Untertitel von Anthony Cronins Biographie "the last modernist" nennen, wohl auch den "Vater der Postmodernen", denn sein Einfluss auf das zeitgenössische britische Theater ist enorm. Ihm fehlt jedoch die spielerische Note im Umgang mit den genannten Positionen; bei ihm geht es um sehr ernste Dinge. Nicht umsonst verstand man ihn anfangs − bei allem schwarzen Humor − als Existentialisten, Pessimisten und Nihilisten, der die Welt als "mess" darstellte und den Menschen als scheiternden Sucher. Letztlich muss man konstatieren, dass Beckett in seinen Werken ja gerade die erkenntnistheoretische Unmöglichkeit solipsistischer philosophischer Positionen darstellt und den Narzissmus des vereinzelten Menschen als autistische Fehlentwicklung: Nicht nur seine Protagonisten scheitern auf ihrer Suche nach Sinn, auch die Werke sind vom Autor angelegt als scheiternd im Versuch der Darstellung dieses Scheiterns. Das ist eine Verschärfung des Programms der Moderne, aber kein neues Programm.
Rolf Breuer, Wem gehört Samuel Beckett oder Wie postmodern ist die Moderne?
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