Merkur - Zitate aus dem Januarheft 2012, Nr. 752
Es scheint hierzulande mit dem wachsenden Abstand zur Zeit des Ost-West-Konflikts und der deutschen Teilung die Sensibilität für die prekäre Situation der Bundesrepublik im Herzen Europas rapide abzunehmen. Die neuartige Lage des Landes, das an seinen vielen Grenzen nur noch von anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Bündnispartnern und freundlichen Nachbarn umgeben ist, schlägt sich in einer bemerkenswerten Selbstprovinzialisierung nieder. Dies betrifft nicht allein die Außenpolitik, zumal beim Einsatz von Militär, die man weiterhin gern an die erschöpften Vereinigten Staaten delegiert oder innerhalb Europas Frankreich und Großbritannien überlässt. Es betrifft auch und gerade die Europäische Union, wo die deutsche Führungs- und Gestaltungsaufgabe mit ähnlicher Tatkraft, Phantasie und Leidenschaft wahrgenommen wird wie die Unterstützung der revolutionären Freiheitsbewegungen in der arabischen Welt.
Christoph Schönberger, Hegemon wider Willen
Die Gewinne durch Größenvorteile wiegen weniger als der Verlust einer nationalen Geldpolitik, die die Möglichkeit hat, ökonomische Schocks (auch) durch Ab- oder Aufwertung abzufedern. Vielleicht hätte es auch für den Euroraum eine optimale Größe gegeben, die aber überschritten wurde, als man damit begann, auch noch jedes periphere Schwellenland aufzunehmen – das fing schon mit Italien an, nicht erst mit Griechenland. Wer das alles nüchtern abwägt, kann auch nüchtern den Euro als Fehlentwicklung verabschieden. Es hängen an ihm weder Heil, Glück, Wohlstand noch gar die Freiheit in Europa. Dann erhalten die Notenbanken der einzelnen Länder wieder die Souveränität über ihr Geld zurück. Zu behaupten, dies sei ein Rückfall in eine Welt des Merkantilismus vor den Zeiten wirtschaftlicher Freiheit, ist abwegig. Ein nicht nur nach innen, auch nach außen offenes vereintes Europa, ein großer europäischer Binnenmarkt, braucht keine Gemeinschaftswährung. Europa braucht Vielfalt, nicht Einfalt.
Rainer Hank, Wer hat Angst vor Kleinstaaterei?
In den Mitgliedsländern der Union herrscht – mit Ausnahme von England, Frankreich und Irland – das Verhältniswahlrecht. Dies produziert Mehrparteiensysteme und macht Einparteienregierungen zu einer ausgesprochenen Ausnahmeerscheinung. Das Verhältniswahlrecht erzwingt also in der ganz überwiegenden Mehrheit der Mitgliedsländer die Bildung von Regierungskoalitionen. Das führt zum zweiten Schritt: Die Bildung von Koalitionen unterliegt ganz bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Eine davon lautet, dass zentristische Parteien, also Parteien, die mittig im politischen Raum positioniert sind, mit deutlich größerer Wahrscheinlichkeit an Regierungen beteiligt sind als stärker links oder rechts positionierte Parteien. Daraus wiederum folgt der dritte, für den Zusammenhang entscheidende Schritt: Zentristische Parteien sind fast ausnahmslos integrationsfreundlich, während Europaskepsis eher bei den deutlicher links oder rechts positionierten Parteien beheimatet ist. Führt man diese drei Einsichten zusammen, so ergibt sich eine Hypothese, die sich auch empirisch deutlich bestätigt: Die Regierungen in den Mitgliedsländern der Union haben aufgrund der Mechanik der politischen Interessenaggregation einen ausgesprochenen Pro-Integrations-Bias.
Philip Manow, Ach, Europa – Ach, Demokratie
Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts also oder eine europäische „no-law zone“? Die Europäische Union hat im Bereich der Asyl- und Grenzpolitik durch die Harmonisierung von Mindeststandards einige wichtige Fortschritte im materiellen Schutz von Flüchtlingen erzielt. Dies war jedoch begleitet von einem Abbau des Rechtsschutzes gegen Umverteilungen im Rahmen des Dublin-Systems und von einer Verstärkung des Grenzschutzes bis an die Küsten der Herkunfts- und Transitstaaten. Schutz und Abwehr gingen und gehen Hand in Hand. Klar muss jedoch sein: Die Europäische Union hat sich selbst an die europäischen Grund- und Menschenrechte gebunden, explizit ist die Genfer Flüchtlingskonvention mit ihrem Refoulementschutz maßgeblich für die europäische Asylpolitik. Ein Ausweichen in vermeintlich rechtsfreie Räume widerspricht dem Geist dieses freiheitlichen, auf dem Gipfel in Tampere beschworenen Systems.
Nora Markard, Asylrecht
Da sagt ein Mann, er sei gefoltert worden. Von weißrussischen Milizionären. Weil er seinen demokratischen Überzeugungen nicht abschwor. Er zeigt die ausgeschlagenen Zähne und die total verkrüppelten Hände: Man hatte ihm geschmolzenes Paraffin unter die Haut gespritzt. Es verbindet sich mit dem Fleisch, die Hände schwellen an, blähen sich zu unförmigen Kissen auf und werden dann steif. Der Beamte, der diesen Fall bearbeitet, muss entscheiden, ob diese Geschichte wirklich geschehen oder erfunden ist. Es ist ein hoffnungsloser Irrglaube, zu meinen, man könne entscheiden, ob ihn weißrussische Milizionäre wegen seiner Überzeugungen gequält oder ob seine Kollegen sich gerächt haben, weil er seine Schulden nicht zurückzahlen konnte. Klar ist allein: Man hat ihm tatsächlich das Paraffin unter die Haut gespritzt. Und zwar irgendwo im russischen Kulturkreis.
Michail Schischkin, Über die Grenze
Der Merkur muss nicht neu erfunden werden. Will er auch in Zukunft seinen eigenen Ansprüchen genügen, muss die Mischung unterschiedlicher Themen und Standpunkte, theoretischer Zugriffe, sprachlicher Register und literarischer Stimmlagen allerdings kontinuierlich neu justiert werden, zumal die politischen, sozialen und kulturellen Frontstellungen heute weniger übersichtlich sind denn je. Die Idee, im ersten Heft unter neuer Leitung mit einem Schwerpunkt zu Europa zu beginnen, erschien dabei aus zwei Gründen reizvoll. Zum einen, weil damit unter gänzlich veränderten Rahmenbedingungen Fragen wiederaufgenommen werden konnten, die bereits die Autoren der ersten Hefte beschäftigten. Zum anderen, weil die Debatten um die politische, wirtschaftliche und kulturelle Identität und Zukunft Europas in den vergangenen Monaten bis zum Überdruss gezeigt haben, dass sich im erschöpfenden Dauerfeuer des medialen Betriebs mit seinen zwanghaften Mechanismen der Selbstverstärkung zwar ideale Biotope für Erbauungsprosa, Kanzelreden, Besserwisserei und Alarmismus ausbilden, die eigentlich wichtigen Fragen dabei aber im selben Maße aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden, in dem sie vermeintlich ständig präsent gehalten werden.
Christian Demand, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken
Wenn man auf Mentalitäten abhebt, heißt das dann nicht, dass man sich unbotmäßig abgrenzt, Besonderheit, Unabänderlichkeit und interne Einheitlichkeit behauptet, über die Grenzen der Interessen und der Ideologien, der Landsmannschaften und der Lehrmeinungen hinweg? Nicht notwendig. Eine Mentalität ist nichts, was immer und für alle Mitglieder einer Gruppe gelten muss, was sich nicht verändert, keinerlei Auswege lässt, was Fremde niemals teilen könnten. Es stimmt zwar, dass einem die eigene Mentalität oft erst im Vergleich und in der Abgrenzung zu anderen auffällt. Dennoch ist Mentalität kein Konzept, das man deterministisch, exklusiv und einheitlich verstehen und das man deshalb eigentlich ablehnen müsste. Man muss sich nur bewusst sein, dass es keinen a priori zwingenden Zusammenhang zwischen tiefen Prägungen und ihren Auswirkungen gibt. Immer hätten die Dinge durchaus auch anders kommen können.
Karen Horn, Ökonomiekolumne
Nach dem Krieg kümmerten sich „solide“ Universitätskunsthistoriker weiterhin nicht direkt um Moderne und Gegenwartskunst. Wir ärgerten unseren Lehrer einmal mit der Frage, was er von Andy Warhols Motto „Dreizehnmal ist mehr als einmal“ halte. Vermutlich ohne Warhols Kunst zu kennen sagte er, Bilder müssten abhängen. Aber es gab einen Professor, der hatte ein Buch über Picasso verfasst und gab in regelmäßigen Abständen Seminare mit dem akademisch-frommem Titel „Picasso in neuerem Lichte“. Zu dem gingen wir nicht, das galt als unseriös, das war genauso, als hätte ein künstlerisch ambitionierter Fotograf plötzlich in Farbe gearbeitet. So jung, so ungerecht. Heute, vierzig Jahre später, werden 70 bis 80 Prozent aller Magister- und Doktorarbeiten Themen gewidmet, die nach Manet und am besten nach 1965 angesiedelt sind, also genau nach dem Zeitpunkt, da ein Großer des Faches sagte: Bilder müssen abhängen.
Wolfgang Kemp, Ästhetikkolumne
Zwei Pole gibt es in Boehlichs Werk: die Literatur und die Politik. Gewiss verschiebt sich im Laufe der Jahre deren Bedeutung. Boehlich beginnt als Literaturwissenschaftler und endet als politischer Publizist. Wer aber im Einen nicht immer auch den Anderen sieht, verkennt das Wesen dieses einzigartigen Intellektuellen, der auch, wenn nicht gar zuerst, Lektor und Übersetzer war, beides von Graden. Ein Mann aber auch, der bei vielen in Ungnade fiel, weil er andere seine intellektuelle Überlegenheit spüren ließ, stur und oft wenig verbindlich war und kein Blatt vor den Mund nahm.
Die Forderungen der Achtundsechziger waren zuvor schon die seinen gewesen, und weil Boehlich später zur Rücknahme oder Konversion keine Neigung zeigte, gelangte er von den Höhen und Zentren des Kulturbetriebs zusehends an dessen Peripherie. Gelegentlich drückte man ihm fürs Lebenswerk noch einen Preis in die Hand. Ein Mann, den die weitere Öffentlichkeit wahrnahm, war er ohnehin kaum je gewesen.
Ekkehard Knörer, Dreimal Walter Boehlich
Hoch gestiegen, tief gefallen. Jahrzehntelang war Emir Kusturica wegen seiner Darstellung des Balkans bei denselben westlichen Intellektuellen wohlgelitten, die ihn nun wegen seiner politischen Affinitäten verdammen. Das ist äußerst inkonsequent, denn sein ästhetischer Pfad zeichnete seinen politischen vor. Wir sind doppelt schuld an Kusturicas Entwicklung. Nicht nur hat unsere in politromantischen Vorstellungen von nationaler Selbstbestimmung befangene Anerkennungspolitik dem Antinationalisten die Ausrede geliefert, im nicht minder unangemessenen Gegennationalismus des Serbentums Zuflucht zu suchen; unser schwärmerischer Applaus für seine filmischen Mythenkonstruktionen hat ihn zugleich dazu verleitet, selbst daran zu glauben und an einer Gesellschaft nach deren Ebenbild zu basteln. Emir Kusturicas künstlerischer Werdegang ist eine exemplarische Zweispurenstraße von zunehmendem Ruhm und abnehmender Qualität. Eine klassische Tragödie. Nachzuvollziehen ist dieser Abstieg jetzt in seiner Autobiographie.
Richard Schuberth, Die Selbstbalkanisierung des Emir Kusturica
In beinahe jedem arabischen muslimischen Land ist der größte Feind des Unternehmertums und des freien Markts der Missbrauch der Regierungsgewalt – und die starken, unverantwortlichen und gewöhnlich despotischen Regime, die die arabischen muslimischen Völker jahrzehntelang beherrscht haben, verdanken weder ihre Ursprünge noch ihre faktische Legitimation dem Islam. Sie entstanden alle aus den Dekolonisationskriegen der fünfziger und sechziger Jahre, die, da die Kolonialherren in erster Linie Europäer waren, wütende antiwestliche und antikapitalistische Gesinnungen in muslimischen Gesellschaften provozierten. Die Dekolonisation der Araber nahm keinen guten Verlauf. Gewalttätige Auseinandersetzungen waren die Norm, selbst wenn sie sich nicht zu einem ausgewachsenen Krieg entwickelten wie in Algerien.
Guy Sorman, Islam und Kapitalismus
Jetzt löscht die Mutter in allen Zimmern die Lampen. Tante Anna schiebt die Steppdecke bis zum Kinn hoch; es sind Berge aufgenäht, ein Haus mit Schornstein und Schafe, nach denen meine Finger im Dunkeln suchen. Unter der Notenlampe des Klaviers schwimmen im Aquarium Berliner Kreuzungen rasch von einer Ecke zur anderen − die feuerroten Körper mit schwarzen Flecken sind von Luftbläschen umsprudelt; aus dem Kies wachsen Pflanzen in unterschiedlichen Grüntönen und halten das Wasser gesund, während Schnecken die Glasscheiben sauber machen. Das einzige, was man hören kann, ist das Rauschen des Blutes in den Ohren. Um 24 Uhr, wenn die Glocken von Peter und Paul läuten, habe ich Geburtstag und bin acht.
Hans Dieter Schäfer, Erkundungen (IV)
Das Original der auf dem Merkur abgebildeten Münze dürfte um 450 vor Christus geprägt worden sein, als der Typus des jugendlichen Hermes jenen des bärtigen in Griechenland endgültig abgelöst hatte. Die Münze galt als Tetradrachme (Vierdrachmenstück), wiegt um die sechzehn Gramm und besteht aus Silber. Die Kappe ist unten mit einem Perlrand verziert. Als eine Besonderheit erweist sich der Haarzopf, den Hermes um den Hinterkopf gelegt trägt und von dem noch ein Stück hinter dem Ohr zu erkennen ist. Die nicht abgebildete Münzrückseite zeigt einen nach rechts hin stehenden prächtigen Ziegenbock mit großen gebogenen Hörnern.
Kay Ehling, Hermes/Merkur
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