Aus dem Februarheft 2012, Nr. 753
Die Ökonomie als Ganzes, als Kombination von kapitalistischer Praxis und Theorie, verwaltet die Grenzen des Wissens für die Gesellschaft. Dabei geht die Ökonomie mit dem Unwissen und der Unsicherheit des Menschen nicht wie mit einem Defekt um. Sie weiß, dass sie die Unsicherheit niemals kompensieren kann, immer wird die menschliche Existenz von Unwissen begleitet, in Unsicherheit eingebettet sein. Die Hauptaufgabe der ökonomischen Theorie besteht darin, für jeweils gegebene historische Situationen, für technologische und individualpsychologische wie für soziologische Ausgangsbedingungen eine Form zu finden, in der sich Wissen und Nichtwissen, Sicherheit und Unsicherheit treffen. In diesem Sinne verweist die ökonomische Theorie grundsätzlich auf die Einheit der Differenz von Wissen und Nichtwissen.
Ernst-Wilhelm Händler, Das Wissen der Ökonomie
Finden Sie es auch so anrührend, wenn Historiker aus Kanada oder aus der Schweiz oder von sonstwoher in uns als den Nazis von damals einen ernsthaften Forschungsgegenstand erblicken, wenn sie aber einfach nicht schlau aus uns als diesen Nazis werden, wenn sie über uns die Köpfe teils schütteln, teils sich zerbrechen und sogar untereinander in kleine Meinungsverschiedenheiten geraten: über uns, über unseren Charakter und unsere Vorgeschichte! Man liest ihre Bücher bewegt, man kann nicht umhin, ihre Objektivität, ihren seriösen sozialhistorisch-geopolitischen Ansatz, ihre wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit, ihre Quellenkenntnis und ihre Freundlichkeit zu bewundern und ist dankbar für die neuen Erkenntnisse, die sie uns vermitteln. Aber dann sieht man in ihren Büchern plötzlich ihre kleinen Kapitulationen. Sie müssen ein übers andere Mal passen vor dem, womit sie es da zu tun haben; sie drohen das Ringen um die historische Gerechtigkeit, die jeder Stoff verdient, sogar dieser, zu verlieren, aller Mut scheint sie zu verlassen, die Objektivität wird ihnen schal, im letzten Moment können sie das Angewidertheit ausdrückende Epitheton vermeiden und beherrschen sich und ihren Stoff dann doch wieder und widerstehen der Versuchung, alles einfach nur für eine gigantische, unerklärliche, unhinterfragbare Grässlichkeit zu halten, tapfer, wenn auch nicht immer ganz erfolgreich.
Gunter Schäble, Die jüdischen Kämme
Man kann, wie viele Kommentatoren, die Art und Weise, in der Helmut Kohl sich und seinen Ruf zum Ende seiner Zeit systematisch ruiniert hat, tragisch nennen. Jedenfalls war er dabei ganz bei sich selbst, ganz Kohl, gefangen in der Totalität seines Machtapriori. Folgt man seiner Version des Tathergangs, ging es bei der Entgegennahme der Spenden doch nur um eine Art Sicherstellung der Wahlkampffähigkeit der CDU. Völlig unbeachtet ist jedenfalls bisher eine Dimension des Vorgangs geblieben: Wenn es so war, wie von Kohl beschrieben, hätten während vieler Jahre seiner Kanzlerschaft eine ganze Reihe von Spendern unabhängig voneinander den Bundeskanzler in ihrer Hand gehabt. Jeder von ihnen wäre in der Lage gewesen, die Kanzlerschaft Kohls von einem Tag auf den anderen zu beenden. Wie misst man einen solchen Grad von Abhängigkeit und Erpressbarkeit eines Regierungschefs? Es kann einem im Nachhinein bei solchen Betrachtungen nur schwindlig werden.
Berthold Franke, Wut auf Kohl
Burnout ist ein ernstzunehmendes Gesundheitsproblem von geradezu endemischen Ausmaßen, behaupten die einen; Burnout ist bislang nicht genau genug definiert oder gar hinsichtlich seiner Pathogenese spezifiziert worden, um aussagekräftige epidemiologische Studien zu ermöglichen, halten die anderen dagegen. Wie lässt sich dieser Widerspruch auflösen? Fest steht bislang nur, dass anhaltende subjektive Erschöpfung ein in unserer Gesellschaft häufiges Phänomen sein dürfte, dass diese im Wesentlichen auf eine ungünstige Stresskarriere zurückzuführen ist und dass die Betroffenen und ihr Umfeld »Burnout« als treffendes Etikett für diese unspezifischen Beeinträchtigungen ansehen. Wie bereits angedeutet, spielt beim Phänomen Burnout nicht nur die organismische, sondern auch die soziale Dimension unseres Lebens eine große Rolle. Im Falle der vermeintlichen Burnout-Epidemie geht es, so meine These, wesentlich um die Ausdifferenzierung von Deutungs- und Rollenmustern, die dem überforderten Subjekt einen Weg anbieten, sich weiterer Überforderung in einer akzeptablen Form zu entziehen.
Markus R. Pawelzik, Wie erschöpft sind wir wirklich?
Wie Mahler wusste, sind das »Lieben« und das »Lied« zutiefst verwickelt in die »Welt«. Und so verbindet sich das der Welt Abhandenkommen mit einem der Welt Zugehörigsein. Schließlich ist auch Ich bin der Welt abhanden gekommen nicht bloß eine Partitur; zum Leben erweckt die toten Schriftzeichen erst eine Aufführung. Wenn nun die einsame Gestalt, der etwa ein Mezzosopran seine betörende Stimme leiht, der Welt hingeschieden und so abhanden gekommen ist, stehen, neben dieser Gestalt, noch zwei Kollektive einander gegenüber, deren eines sie trägt und deren anderes ihrem Ausdruck erst Sinn gibt: das Orchester und das Publikum. Solches findet statt in einem bürgerlichen Konzertsaal, einem ganz und gar weltlichen Ort. Das der Welt Abhandenkommen quittiert die Welt mit Beifall. Sie war Zeugin einer öffentlich vollzogenen Emigration aus der Öffentlichkeit. (Bürgerliche Öffentlichkeiten goutieren den Auszug aus ihnen, da sie mit sich selbst nie im reinen sind.) Jedes dieser Elemente lag in der künstlerischen Absicht des Komponisten. In Ich bin der Welt abhanden gekommen inszeniert sich ein Ja zur Welt als Nein. Doch in diesem Ja als Nein liegt keine Unwahrhaftigkeit Mahlers, sondern die Wahrheit dieses Liedes.
Andreas Dorschel, Der Welt abhanden kommen
Woher nehmen Historiker ihre Themen? Diese Frage kann man wissenschaftssoziologisch beantworten. Zum Beispiel ließe sie sich näherungsweise durch die Untersuchung der Entscheidungsparameter und Zwänge klären, unter denen Doktorandinnen und Doktoranden ihre Forschungsprojekte finden. Wie groß ist die individuelle Freiheit der Themenwahl? In welchem Umfang werden Themen durch professorale Betreuer autoritär vergeben? Welche Rolle spielt dabei das unausrottbare Bestreben der Formierung von »Schulen«? Wie stark präformieren vorgegebene Programme von Forschungsverbünden und Graduiertenschulen die persönliche Themenpräferenz? In welchem Maße lassen sich die Beteiligten – auf welcher Hierarchieebene auch immer – von dem leiten, was man für aktuell und modisch hält? Wie entstehen solche Moden (heute oft »turns« genannt), wer setzt sie wie und mit welchem Erfolg wissenschaftsstrategisch durch? Welches Gewicht hat die Wahrnehmung internationaler Trends, welche Bedeutung der ausländische Arbeitsmarkt für die Themenfindung? Fließen auch Vermutungen über ein außerwissenschaftliches öffentliches Interesse in die Themenwahl ein? Wie sehr wird die Verknüpfbarkeit mit Nachbarfächern als ein Vorteil gesehen und angestrebt?
Jürgen Osterhammel, Geschichtskolumne
Lebewesen und Ökosysteme »funktionieren« nicht immer gleich. Jedes Lebewesen ist ein in Raum und Zeit nur ein einziges Mal auftretendes Individuum. Weil sich Individuen auch darin unterscheiden, wie sie mit ihrer Umwelt interagieren, kann auch kein Ökosystem einem anderen gleichen. Und daher lassen sich Experimente mit Lebewesen und Ökosystemen nicht immer wieder mit gleichem Ergebnis durchführen. Anstatt zu erkennen, dass dies ein besonderes Kennzeichen der eigenen Wissenschaft ist, versuchen Ökologen immer wieder, Unveränderlichkeit und Wiederholbarkeit des Experiments in die eigene Disziplin einzuführen. Man weiß zwar, dass man dabei etwas vereinfachen muss, merkt aber nicht, dass es gerade diese Vereinfachung ist, mit der man Grundlagen des eigenen Fachs verlässt.
Hansjörg Küster, Ökologiekolumne
Suzanne Marchands German Orientalists , 2009 erschienen, ist in amerikanischen und englischen Zeitschriften ausführlich besprochen und gelobt worden – aber bislang kaum auf Deutsch. Ein bisschen schade ist das schon. Denn Marchand zeigt nicht nur, dass eine Reihe von markigen deutschen Aussagen über die Globalisierung und den Islam in der Moderne vielleicht nicht ganz so brandneu sind, wie ihre Autoren offenbar glauben. Ihr Buch enthält auch eine Reihe von teils amüsanten, teils etwas verstörenden Beobachtungen darüber, wie Wissenschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert funktioniert hat. Denn in Marchands Buch geht es nicht nur um den Orient, sondern mindestens ebensosehr um die Spielregeln im Innern der Institutionen der Gelehrsamkeit. Marchand schildert die Strategien, mit denen Gelehrte den ziemlich exotischen Gegenständen ihres Interesses Nobilität zu verschaffen versuchten.
Valentin Groebner, Bitte mehr Osten!
Richard White macht auf die größte ökonomische Herausforderung aufmerksam, vor der die Transkontinentallinien standen: Ihr Bau ging der Nachfrage weit voraus. Als die ersten Züge fuhren, waren Besiedlung, Handel, Landwirtschaft, Bergbau und Warenproduktion im Westen jenseits des Mississippi noch nicht weit genug entwickelt, um eine transkontinentale Linie tragen zu können, geschweige denn die sechs tatsächlich entstehenden Linien. Man hoffte darauf, dass diese selbst die bislang fehlende ökonomische Aktivität schnell stimulieren und den Eisenbahnen innerhalb von fünf bis zehn Jahren das Verkehrsaufkommen bringen würden, das für regelmäßigen Gewinn notwendig gewesen wäre. Doch die Finanzleute wussten, dass dieses Szenario utopisch war, weshalb keiner von ihnen versuchte, eine dieser Eisenbahnen mit eigenen Mitteln zu bauen oder mit Mitteln, die ausschließlich von den Finanzmärkten aufgebracht wurden. Die Regierung, die den Bau einer den Kontinent umspannenden Eisenbahn als unerlässlich ansah, sah keine andere Möglichkeit, als die Central Pacific Associates und ihresgleichen mit exorbitanten Fördergeldern und Zuschüssen zu überschütten.
Gary Gerstle, Freie Bahn für Räuberbarone
Die Einsicht in die kontingente Funktionsweise kultureller Prozesse impliziert einerseits die Möglichkeit, wenn nicht sogar – so sah es jedenfalls Heine – die Pflicht zur Intervention. Andererseits wird schnell spürbar, wie schwer, wenn nicht unmöglich es ist, die Konsequenzen dieses Eingreifens zu kontrollieren und punktgenau zu revidieren. Wenn eine Kulturpolitik liberaler und sozialtheoretisch hochreflexiver Provenienz wie die der Romantik in protototalitäres Fahrwasser gerät, hat das nicht zuletzt mit der Notwendigkeit zu tun, sich zu diesem Problem zu verhalten. Gefährlich wird es, sobald man die eigene Intervention, wie es die »Tischgesellschaft« tut, durch eine Seinsannahme legitimiert und diese Annahme als irreversibel ausgibt. Damit entzieht man sich dieser Notwendigkeit und macht sich für die damit verbundenen Risiken blind. Im 20. Jahrhundert ist diese Strategie dennoch sehr verbreitet gewesen.
Till Dembeck, Kulturpolitik und Totalitarismus
Der Kragen umgibt den Hals. Der Kragen umschließt den Hals. Er schmückt ihn, verbirgt ihn; wenn hoch und steif, kratzt er die Haut unter dem Kinn. Der Henker reißt seinem Opfer den Kragen ab, bevor er seine Arbeit tut. Wenn Goethes Egmont einen schönen, langen Hals sieht, »muss ich gleich denken: der ist gut köpfen«. Über dem Kragen hüpft der Adamsapfel. Am runzeligen Hals trauert die Perle. Zur Sache, zunächst zum Hals. Er verbindet Rumpf und Kopf und enthält sehr unterschiedliche Teile, unter anderem Halswirbel, Halsschlagader, Speiseröhre, Luftröhre, Drüsen. Der Schnitt durch die Gurgel oder durch die Aorta bedeutet das Ende. Und dieser Schnitt ist vergleichsweise leicht zu vollziehen. Will einer das Herz treffen, muss er ausholen und die Lage der Rippen kennen. Für den Hals genügen eine scharfe Klinge und ein sanfter Druck. Auf einer Rangliste der gefährdeten Körperteile stünde der Hals an oberster Stelle.
Rainer Hagen, Um Hals und Kragen
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