MERKUR

Heft 02 / Februar 2013

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Zitate aus dem Februarheft, Nr. 765

Auch die Fachwissenschaft, die Rathenaus luziden Prophezeiungen ebenso eindrucksvolle Missdeutungen an die Seite stellen könnte, konzipiert ihren Untersuchungsgegenstand Walther Rathenau heute bevorzugt als exemplarischen Lernort, als historischen Spiegel und Schlüssel zum Verständnis eines Epochenumbruchs, der mit der Hochmoderne auch die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts freisetzte. In summa: Was Rathenau der Nachwelt bedeutet, wandelt sich mit ihr nicht weniger markant und nachdrücklich, als Rathenau zu Lebzeiten selbst seine Auffassungen und Orientierungen wechselte.

Martin Sabrow, Rathenau erzählen

 

Der Mensch hat also wie jede Spezies ein »Recht«, nach Maßgabe seiner Fähigkeiten sein Leben zu sichern und zu erleichtern. Dank seiner wissenschaftsgestützten Intelligenz, dank einer nutzenorientierten Naturforschung hat er, wie keine andere Spezies, die Befähigung zum »maître de la nature«, zum medizinisch-technischen Meister über die Natur. Die Intelligenz befähigt den Menschen aber auch, sich von aller Nutzenorientierung freizumachen und nach Aristoteles´ Muster als nutzenfreier Naturforscher in purer Neugier das Wissen um seiner selbst zu suchen.

Otfried Höffe, Biozentrische Anthropozentrik

 

1400 staatliche Buchhandlungen hatte es bis 1989 in Bulgarien gegeben. Nach der Absetzung Todor Schiwkovs am 10. November 1989 wurden sie vom Distributionsmonopolisten Sofkniga von heute auf morgen nicht mehr beliefert. Nun also: 500 Tapeziertische in Sofia und den Provinzstädten, mit dem Slavejkov-Platz als Zentrum, unverstaubt und ohne Einschränkungen durch Zensur oder Selbstzensur beladen mit allem, was bisher an Sex & Crime nicht zu haben war. Aus Sicht des Schutzes von Autorenrechten vielleicht verwerflich, gingen die bulgarischen Neuverleger mit anarchischem Schwung zu Werke ...

Thomas Frahm, In den Blick gerückt

 

Der Reisebus schaukelte über die von Schlaglöchern übersäte Landstraße zum Grenzübergangspunkt Kalotina und ließ alles hinter sich, was Dimiter kannte. Bäume tauchten langsam in der Ferne auf, flogen an seinem Blick vorbei und blieben langsam-langsam hinter ihm zurück. Dimiter schaute sie an, als hinge an jedem Stamm ein Schild mit der Aufschrift: »Ich bin ein bulgarischer Baum!« Da er bulgarischen Bäumen bisher aber keine große Beachtung geschenkt hatte, gelang es seiner frisch gepflanzten Nostalgie nicht, ihm zum Abschied Tränen der Rührung zu entlocken. Außerdem glichen diese Bäume einander doch sehr.

Kristin Dimitrova, Grenzübertritt

 

Dekolonisation im formalen Sinne der Gewinnung von Souveränität wird nicht nur unterschiedlich und oft widersprüchlich »erinnert«. Sie spielt eine variable Rolle im nationalen Affekthaushalt und kann mit ganz unterschiedlichen Wertintensitäten behaftet sein. Die Deutschen verstehen das vielleicht weniger gut als andere, weil sie kaum Erfahrung mit länger andauernder imperialer Transformation gemacht haben. In Deutschland sind die Imperien immer plötzlich zusammengebrochen.

Jürgen Osterhammel, Dekolonisation

 

Dass die Sphäre demokratischer Öffentlichkeit auch einem medientechnologischen Strukturwandel unterliegt, wird wohl nicht als wirklich neue Einsicht durchgehen können. Aber dass dieser Strukturwandel und seine Konsequenzen sich bereits irgendwo systematisch beschrieben fänden – und zwar diesseits breitflächiger Zeitdiagnostik à la Gesellschaft des Spektakels oder Wir amüsieren uns zu Tode , lässt sich eben auch nicht behaupten. Was Cornelia Vismanns Arbeiten für »Das Recht und seine Medien« geleistet haben, wäre, wenn ich richtig sehe, für »Die Politik und ihre Medien« erst noch zu tun.

Philip Manow, Politische Aufschreibesysteme

 

Literaturwissenschaftler verstehen meist wenig von Büchern. In der gegenwärtigen Lage einer neuartigen Repräsentation oder sogar Transposition der klassischen biblionomen Sphäre ins Digitalmedium fällt das besonders auf, wäre jetzt doch ein Wissen über das bis dato genuine Medium der Literatur gefragt. Aber die Hinwendung zur Kultur- und Medienforschung, die in den letzten Jahrzehnten als wirkungsmächtiger turn für viele Problemstellungen und Gegenstandsbildungen der Literaturwissenschaft maßgeblich wurde, ist bezogen auf die Kategorie des Buchs signifikant folgenlos geblieben.

Georg Stanitzek, März & Gespenster

 

Man muss heute niemanden mehr davon überzeugen, dass Bach gut ist. Aber eine derart universale Zustimmung ist auch eine Kraft, deren Wirkung man nicht unterschätzen sollte. Die Intensität, mit der die Menschheit den Komponisten verehrt, zeitigt durchaus unvorhergesehene Konsequenzen. Ich will das übliche Bach-Lob einmal versuchsweise umdrehen. Anstatt unsere Worte dazu zu verwenden, die Qualität seiner Musik zu rühmen, möchte ich seine Musik dazu nutzen, einmal unsere Vorstellungen von Qualität in den Blick zu nehmen und damit unsere landläufige Vorstellung davon, was den Wert künstlerischer Leistung eigentlich ausmacht.

Jeremy Denk, Bach gestern und heute

 

Hätte man sich in den Kopf gesetzt, den kaukasischen Orientalismus der Tifliser Innenstadt in Disneyland zu rekonstruieren, wäre das Ergebnis genauso ausgefallen, wie die historischen Stadtteile von Tbilissi jetzt tatsächlich aussehen. Wozu übrigens passt, dass man sie neuerdings aus den Gondeln einer Seilbahn besichtigen kann, die vom gegenüberliegenden Ufer des Mtkwari in luftiger Höhe zu den mittelalterlichen Monumentalmauern der persischen Festung hinaufführt. Die Gesichtspunkte und Bedürfnisse der Gegenwart – Bequemlichkeit, Gefälligkeit, solide Installation – haben über die historische Gestalt des Bauensembles vollständig gesiegt.

Stephan Wackwitz, Von georgischer Altstadt und sowjetischer Bandstadt

 

Piotr Zychowicz, Redakteur der rechten Postille Uwazam Rze , die stets vor einer »deutschen EU« und der »Bismarckianerin« Angela Merkel warnt, veröffentlichte unlängst einen emphatischen Essay mit ausführlichem bibliographischem Anhang, der vorgibt, seriös und sachlich zu sein, in Wirklichkeit aber nur wieder die Chimäre verfolgt, Polen hätte 1939 eine Allianz mit Hitler schließen, dessen Krieg gegen Frankreich neutral abwarten und 1941 zusammen mit dem Dritten Reich die Sowjetunion zerschlagen sollen, um dann aber – wie Italien 1943 und Rumänien 1944 – die Front zu wechseln.

Adam Krzeminski, Verstörende Nachlese

 

Auf lange Sicht, das ist so bitter wie wahr, sind wir alle tot. Wenn einmal die Sonne verglüht ist und die Erde verbrannt, wird es ohne jede Bedeutung sein, wie an- oder unanständig ein Mensch gelebt, welches himmelschreiende Unrecht er erlitten, welche großartigen Werke er geschaffen hat. Es interessiert auch nicht mehr, denn es gibt keinen Interessenten dafür, der anhand von Strichlisten penibel aufaddiert, wie oft einer sich durch Manipulationen im Genitalbereich kleine Freuden verschafft oder welche Notlügen er gebraucht hat, es interessiert nicht einmal, ob er bei der fabrikmäßigen Tötung wie vieler Menschen beteiligt war.

Wolfgang Marx, Herr Heidegger behorcht das Seyn


MERKUR Jahrgang 67, Heft 765, Heft 02, Februar 2013
broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Martin Sabrow, Otfried Höffe, Thomas Frahm, Kristin Dimitrova, Jürgen Osterhammel, Philip Manow, Georg Stanitzek, Jeremy Denk, Stephan Wackwitz, Adam Krzemiński, Wolfgang Marx,


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