Zitate aus dem Märzheft, Nr. 754
Gäbe es so etwas wie eine ambitionierte Literaturkritik der globalen Welt, A Passage to India wäre eines ihrer Schlüsselwerke. Nicht weil es exotisch ist, sondern weil es das Verstehen ins »muddle« verwickelt. Diese Literaturkritik brächte ebenfalls das Echo zu Gehör, ohne daran zu verzweifeln. Sie wäre auf illusionslose Weise zuversichtlich, aber gerade nicht aus kommunikationstheoretischem Glauben. Genau wie Forsters Roman setzte sie den Verstehenden dem Widerhall vergangener Projektionen aus, sie bürdete ihm im Licht der Geschichte die Mühen des Respekts auf, die Fährnisse des Selbstrespekts, Neugier und Enttäuschung, sie schickte ihn an die Grenzen eines unzugänglichen kulturellen Eigensinns, stellte ihn vor ein lebendiges, wenngleich stummes Standbild, von dem zu reden ist, auch wenn der Sinn ins Risiko gestellt bleibt und keine alte Wunde heilt.
Thomas E. Schmidt, Das Echo
Und sieht das dämonische, nächtlich von tausend Lampen beleuchtete Gerüst, unter dem 8 1/2 endet, nicht überhaupt aus wie der Fernsehturm von Tbilissi? Oder, fällt mir weiter ein, wie die futuristischen Prestigebauten aus Glas und Stahl, mit denen die Saakaschwili-Regierung am Rand der mittelalterlichen Altstadt von Tbilissi ihre Modernität demonstriert? So autobiographisch (und mehr als einmal offen narzisstisch) 8 1/2 ist, so präzis funktioniert der Film inzwischen als soziologische Beschreibung des damaligen Italien und als politisch-ästhetische Prophetie über Länder, die dem Italien der frühen sechziger Jahre heute gleichen. Zum Schluss steht nur noch ein Kind im Scheinwerferlicht. Die Fortschritte des Menschengeschlechts mögen die Rückschritte der Poesie bedingen, aber wo sich der Fortschritt mit der Vergangenheit verschlingt, entsteht für kurze Zeit eine eigene, eine achteinhalbte Poesie. Es ist die flüchtige Poesie der frühen sechziger Jahre, die von den lauten, gutorganisierten und folglich bald viel berühmteren Achtundsechzigern und ihrem Getöse – Slouching Towards Bethlehem – ausgelöscht worden ist.
Stephan Wackwitz, 8 1/2
Gott mag tot sein, das Gefühl lebt weiter – und es ist MEIN Gefühl. Wer immer strebend sich bemüht, der kann sich selbst erlösen. Erst jetzt ist man tatsächlich seine eigene (selbstreferentielle) Sekte. Das »beste Leben« (Charles Taylor) können Menschen ganz profan realisieren, dem »höchsten Glück« kommen sie in ihrem Innern auf die Spur, ohne jeden Abstrich: »Die Erde ist groß genug dafür (wenigstens sollte sie es sein), sodass jene Augenblicke der Fülle, die mein Leben glücklicherweise bereichert haben, tief, ja leidenschaftlich empfundene Momente säkularen Ursprungs sind. ´Wow´ Was für eine Welt!« (George Levine). Das Motto lautet, dass gut lebt, wer sich gut fühlt. Sicher, es soll ausschließlich für »humanistische« Täter-Seelen gelten, doch liegt diese Latte so angenehm niedrig, dass sich niemand wundern darf, wenn kaum jemand scheitert. Was alles lässt nicht Herzen höher schlagen? Wir nennen Schauspielerinnen »göttlich«, feiern »paradiesische« Strände, erleben »Offenbarungen« am laufenden Band, finden den Sauerbraten »himmlisch« und überhaupt vieles »unbeschreiblich«. Das »Wow« geht uns leicht von den Lippen.
Wolfgang Fach, Der Gott des Gefühls
Wesentliche Glaubensinhalte des Christentums sind aus Kompensationen psychischer Defizitärzustände erwachsen und nicht aus positiver Welt- und Schöpfungsbejahung. Zu der Entstehung dieser psychischen Defizitärzustände bei seinen Jüngern nach seinem Tod hatte Jesus bereits dadurch wesentlich beigetragen, dass er ihnen mit dem Versprechen des nahen Gottesreiches eine wirklichkeitsverneinende Glaubensbotschaft vermittelt hatte: Die irreale Verspanntheit seiner Gottesreichserwartung konnte nur in der realen Verzweiflung seiner verwaisten Anhänger enden. Und die Irrealität des zentralen Glaubensversprechens hat fortzeugend weitere Irrealitäten seiner Interpreten ausgelöst, beginnend mit der haarsträubenden Deutung vom elendiglichen Kreuzestod Jesu als sühnenden Opfergang für uns.
Bernd Rebe, Was dürfen wir glauben?
Die unreflektierte, auf exakte Wiederherstellung der Vergangenheit zielende Rekonstruktion von Architektur gehört heute in den Bereich der technischen Reproduzierbarkeit von Kunst, was umso deutlicher wird, je mehr digitale Verfahren sowohl bei der Rekonstruktion als auch bei der Produktion zum Einsatz kommen. Das Berliner Stadtschloss wird seine Fassade nicht nur der handwerklichen, sondern zu einem beachtlichen Teil der computergesteuerten Produktion verdanken. Die Nachbildung wird exakt werden, und das blinde Vertrauen in die Qualität der Rekonstruktion wird dem blinden Vertrauen in die Qualität des Rekonstruierten weiter Auftrieb verleihen. Wer je eine Veranstaltung besucht hat, bei der Verfechter des »Rekonstruktivismus« ihre Anliegen vertreten, weiß, dass sich Gläubige über historische Werte blind verständigen. Ist die Entscheidung zur Rekonstruktion einmal gefallen, wird alles Weitere zu einer Frage der Technik. Hier gibt es nichts mehr zu diskutieren. Der imaginäre Bestand hat immer die älteren Rechte.
Christian Kühn, Unter Blinden
Angefangen hat Limonow als Kleinkrimineller in einer Vorstadt von Charkow, damals Sowjetunion, heute Ukraine. Er wird Bohemien, Dichter und Hosenschneider in Charkow, dann in Moskau, er wird bekannt als Dichter, bleibt allerdings ungedruckt. Er reist aus, bleibt einige Jahre in New York, arbeitet als Haushälter eines Milliardärs und zieht in den achtziger Jahren nach Paris, dort werden seine Bücher erstmals verlegt. Als erfolgreicher Schriftsteller kommt er, was er nie für möglich gehalten hatte, zurück nach Ru ss land, bekommt wieder einen russischen Pa ss . Seine Bücher erscheinen, er wird berühmt und immer politischer. Er verachtet Gorbatschow und Jelzin, er hätte gern das Imperium, die große Sowjetunion zurück. Er kandidiert bei Wahlen, beteiligt sich am Putsch gegen Jelzin und wird, vielleicht möchte er sterben, Soldat im Jugoslawienkrieg – als Kriegsfreiwilliger auf serbischer Seite. Es existiert eine Filmaufnahme, die zeigt, wie er Schüsse auf das belagerte Sarajewo abfeuert. In Paris ist er damit als Schriftsteller erledigt, fortan widmet er sich der Politik in Russland. Wegen verfassungsfeindlicher Betätigung und angeblicher terroristischer Umtriebe wird er 2001 verhaftet und verurteilt, drei Jahre bleibt er eingesperrt, diszipliniert wie er ist, nutzt er die Zeit im Gefängnis und im Arbeitslager, um drei weitere Bücher zu schreiben.
David Wagner, Der letzte Spießer
Das Schengener Abkommen ist, als Territorialisierung der wie immer erfolgreichen oder gescheiterten anderen, monetären Integration, vielleicht die wichtigste Regelung in der Europäischen Union, weil es einen Binnenraum schafft, in dem ich mich leicht der Fiktion hingeben kann, die Hoheitsbereiche hätten keine Bedeutung mehr. Ich weiß zwar noch, dass ich Österreicher bin, fühle in Berlin aber keinen Phantomschmerz – ich bin nicht abgetrennt von dem politischen Körper, als dessen winziges Glied ich mich letztlich denken muss. Dass wir daran so selten denken, wäre als Erfolg der liberalen Demokratien westlicher Prägung zu verstehen – oder aber als deren Doxa, als ihre Ideologie, die vergessen macht, was Paul W. Kahn so formuliert: »Der Staat bleibt ein Ort von Leben und Tod; sein Territorium bleibt heiliger Boden; seine Geschichte ist eine Erzählung der Selbstoffenbarung eines souveränen Volks.«
Bert Rebhandl, Fleischliche Genüsse
Man darf getrost davon ausgehen, dass ein Autor wie Gass, der neben Rilke auch Louis-Ferdinand Céline zu seinen Lieblingsautoren zählt, durchaus ein Kalkül hat und den Kontext von Literatur- und Geistesgeschichte kennt, in dem er Kohler Platz nehmen lässt. Adornos Verdikt über Dichtung nach Auschwitz hat Gass durchaus anders verstanden, nicht nur als moralisches Gebot. Paul Celan oder Primo Levi sind berühmt dafür geworden, dass sie es übertreten haben. Doch gerade dadurch waren sie auch Repräsentanten des Verdikts und gaben ihm Wirkmacht. Im intellektuellen Diskurs wurde der Holocaust zum exterritorialen Gebiet, und die Grenzen und Tabus waren lange Zeit von Bestand: die Grenzen des Sprachgebrauchs, die Zuordnung von Klischees, eigene ästhetische Regeln und die Vermeidung jeglicher Kontextualisierung zu anderen Massenmorden, um ja nicht unter Relativierungsverdacht zu fallen.
Guido Graf, Das liebe gute Grab Papier
Die Geschichte der Stadtentwicklungsökonomie ist eine Geschichte der akademischen Moden. Die sechziger Jahre, in denen ich an der University of Pennsylvania studierte, waren die Blütezeit der »Wachstumszentren« und »Multiplikatoren«, dank der damals entwickelten Großrechner auch der Ökonometrie und der mathematischen Modelle. Der Schlüssel zur Schaffung von Jobs und Einkommen bestehe darin, so diese Theorien, Industrien mit Steuervergünstigungen, niedrigen Kreditzinsen, Versprechungen zur Infrastrukturentwicklung und ähnlichem mehr in die Städte zu locken. Damit würde die gesamte städtische Wirtschaft vorangebracht, solange man sich nur auf die richtigen Industrien konzentrierte. An eine Korridorwand im Wharton School Building der Universität Pennsylvania hatte jemand eine große Input-Output-Tabelle der Ökonomie von Philadelphia gehängt, mit deren Hilfe die Entscheider zu den richtigen Ergebnissen kämen. Man könne damit, so hieß es, die direkten und indirekten Beschäftigungseffekte eines jeden Investments genau berechnen. Alles war außerordentlich wissenschaftlich.
Mario Polèse, High-Tech-Parks, Cluster und lokale Ökonomien
Die meisten Diskussionen zur Rolle von Filtern haben den Fehler, dass sie von Information als etwas Gegebenem ausgehen. Solange C als Filter »richtig« funktioniert, gelangt dieser Vorstellung zufolge die Information von A nach B. Das ist naiv, denn die Ketten der Informationsverarbeitung sind vielstufig, und in jeder Stufe finden außer einer etwaigen Filterung ganz andere Vorgänge statt: die Anreicherung mit neuen Informationen, die Übersetzung in andere Denk- und Sprachwelten, Perspektivwechsel, Umformatierungen aller Art, Verdichtung, Veränderungen des Schwerpunkts und dergleichen mehr. Dabei werden manche Stufen durch die Digitalisierung gar nicht, andere stärker verändert, wieder andere ersetzt, so dass man seriös eigentlich nur auf Grundlage eines Gesamtmodells aller Akteure und ihrer Operationen diskutieren kann. Davon sind wir derzeit noch recht weit entfernt. Man sollte die Welten auch deshalb nicht gegeneinander ausspielen, weil sie Informationen auf unterschiedliche Weise »packen« und sich so gut ergänzen. Das Buch und die Buchreihe sind größere, idealerweise abgeschlossene Informationseinheiten, die linear und hierarchisch organisiert sind. Das Web enthält eher eine Unmenge kleinerer Informationseinheiten (»Microcontent«), die kaum feststehende Strukturen haben und häufig miteinander verknüpft sind.
Christoph Kappes, Menschen, Medien und Maschinen
Wusste Konstantin, worauf er sich mit dem Christentum eingelassen hatte? Wusste er von den theologischen Implikationen? Wusste er um die Autorität der Priester, deren Status jenseits der Politik legitimiert wurde und die den Kontakt zu Gott vermittelten? Wer konnte überhaupt sagen, was es bedeutete, ein christlicher Kaiser zu sein, der nirgendwo im Neuen Testament vorgesehen war? Wie sollte man das Verhältnis von Kaiser und Kleriker bestimmen? Konstantin sollte bald spüren, dass er mit den Christen eine unbequeme Klientel gewonnen hatte. Er zeigte ihnen seinen guten Willen, indem er sie förderte, wie man Kulte nun einmal förderte, durch Bauten und Privilegien. Diese Verantwortung für Kulte hatten auch nichtchristliche Kaiser wahrgenommen, denn sie ergab sich aus ihrer Stellung als Pontifex Maximus. Wenn Konstantin aber gehofft hatte, mit den Christen einen integrierenden Faktor zu gewinnen, so sah er sich getäuscht. Denn die Konflikte, die die christlichen Gemeinden immer heimgesucht hatten, verschärften sich in den sicheren Zeiten.
Hartmut Leppin, Der christliche Kaiser
Wenn Mathias Döpfner nicht gerade aus seinem seltsamen Freiheitsbuch las, machte der frühere Stern - und Tempo -Chefredakteur Michael Jürgs mit ihm Talkshow oder hinderte ihn daran, noch länger daraus vorzulesen. Jürgs war gereizt, und seine Fragen waren gemein und wirr, und Döpfner antwortete mal ängstlich, mal ausweichend, und plötzlich merkte ich, dass nicht nur die beiden Männer auf der Bühne durcheinander waren. Alle im Weinkeller des Borchardt waren durcheinander. Die berühmten Politiker, ihre Leibwächter, die hübschen alten Blondinen und die noch älteren Journalisten – und vor allem die vielen Axel-Springer-Angestellten, die an diesem Abend hierher gekommen waren, obwohl sie wussten, dass es peinlich ist, dem Chef so offensichtlich zu schmeicheln.
Maxim Biller, Die Freiheitsfalle
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