MERKUR

Heft 04 / April 2013

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Zitate aus dem Aprilheft, Nr. 767

Die Koppelung und wechselseitige Durchdringung von Aktualität und Periodizität ist der heiße Kern, aus dem das Medium Zeitung hervorgegangen ist. Die Erinnerung daran, dass die Periodizität der Zeitung aus der Periodizität des Postwesens hervorgegangen ist, haben Zeitungsnamen wie Rheinische Post stets wachgehalten. Es kommen aber zu den temporalen Charakteristika der Zeitung zwei weitere Merkmale hinzu: die Publizität, also die Adressierung an die Öffentlichkeit und allgemeine Zugänglichkeit, und die Universalität, also die nichtspezialistische Offenheit für »all the news that´s fit to print«.

Lothar Müller, Deadline

 

Das Internet setzt jedenfalls auf riesige Datenspeicher auf, von deren Ausmaßen uns wahrscheinlich längst alle Vorstellungen fehlen. Dieser Speicher ist, anders als die Massenmedien Zeitung, Film, Radio oder Fernsehen, nichtlinear und in seiner Struktur nur mit dem Buch vergleichbar. Alle seine Inhalte sind – idealiter – gleich weit entfernt. Nicht nur deshalb ist der Status des Internet als Massenmedium mehr als fraglich. Es hat zwar »Publizität« und »Universalität« (aber nur, wenn die Zugangsfragen geklärt sind), jedoch keine »Periodizität« oder »Aktualität« (außer sie wird per Software simuliert). Für das Internet gilt nicht einmal, dass bei seinen Transaktionen »keine Interaktion unter Anwesenden« stattfindet. Noch weniger als das Buch (das auch keine »Periodizität« hat) ist deshalb das Internet ein Massenmedium, obwohl es eine täglich wachsende »Masse« an Menschen erreicht.

Wolfgang Hagen, Das Ende der Aktualität

 

Hier liegt der archimedische Punkt einer Geschichte des Interviews, die danach fragt, in welcher Weise der Frage-Antwort-Komplex eingesetzt wird, welchen Vorbildern er folgt und welche Dokumentationsformen entstehen. Die zweite, vorläufige These lautet, dass es zwei zentrale Formierungsphasen des Forschungsinterviews gibt, um 1900 sowie in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Das Besondere an diesen Phasen ist, dass hier jeweils der Begriff »Naturgeschichte« von den Protagonisten angeführt wird. In dem Moment, in dem sich das qualitative Interview als feste Größe in den Humanwissenschaften zu etablieren beginnt, führt man zur Legitimation einer solchen wissenschaftlichen Praxis die beschreibende und klassifizierende, ja die »alte« Naturgeschichte an.

Anke te Heesen, Naturgeschichte des Interviews

 

Der Historiker Michael Miller hat argumentiert, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts nur aufbauend auf der »Grundlage der globalen Ströme von Waren und Menschen« geschrieben werden könne. Solche globalen Ströme »gibt« es nicht einfach – sie kommen in Gang, wenn Waren, Menschen und Informationen um den Erdball transportiert werden. Das heißt: Die Globalisierung, die zunehmend unser Leben beeinflusst, ist das Ergebnis harter Arbeit; in der Schifffahrt – einer zentralen Infrastruktur der Globalisierung – wird ein wesentlicher Teil dieser Arbeit geleistet. Bis heute transportieren Seeschiffe über 90 Prozent der international gehandelten Güter. Zugleich ist die Schifffahrt auch einer der zentralen Orte der Regulierung grenzüberschreitender Mobilität – direkt, durch die Regulierung der Schifffahrt, aber auch indirekt durch die Regulierung von Arbeit, Migration und Handel.

Niels P. Petersson, Schifffahrt und Globalisierung

 

Zuletzt wurde eine Wissenschaftsministerin darum als die beste jemals in Deutschland amtierende bezeichnet, weil sie der Forschung zu viel Geld verholfen hat. Auch hier ist das Geld in erster Linie ein Symbol für Prestige und weniger das Medium ökonomischer Rationalität. Schließlich existiert nicht einmal die Gegenrechnung, die beispielsweise den 2,7 Milliarden Euro der einstweilen letzten Vergaberunde eine Schätzung der Personenstunden gegenüberstellt hat, die in die 370 Anträge (Projektskizzen plus Vollanträge) eingegangen sind. Wenn man vorsichtig kalkuliert, dürfte man auf ungefähr 2,5 Millionen Arbeitsstunden allein für die Anträge kommen; das Geld selbst war ja aber für die Forschung vorgesehen. Was das an Perrow-Effekten, also an antragshalber entgangener Forschungs- und Lehrzeit sowie Verwaltungszeit bedeutet, bleibt bislang ungeschätzt.

Jürgen Kaube, Universität, Prestige, Organisation

 

Das neurathsche Darstellungssystem folgte wenigen, sehr einfachen Regeln. Dem Anspruch nach sollte es jedermann unabhängig vom Bildungsstand ohne weitere Einweisung einleuchten und zugleich gestatten, auch komplizierte Sachverhalte in anschaulicher Form leicht fasslich wiederzugeben. Die konkrete grafische Umsetzung seiner Vision einer ikonischen Universalsprache lag größtenteils in den Händen des leitenden Grafikers seines Museums, Gerd Arntz, eines jungen deutschen Künstlers mit besonderem Talent für ikonische Verknappung und Vereindeutigung, der Neurath durch seine Arbeiten für linke Zeitschriften aufgefallen war. Viele der über viertausend von Arntz entwickelten Piktogramme werden noch heute weltweit verwendet.

Christian Demand, „Das Glück ist wichtiger als das Prinzip“

 

Wer beginnt, von sich selbst zu sprechen, begibt sich aufs Glatteis. Wird ein akademischer Intellektueller vom breiteren Publikum auch noch bejubelt, riskiert er nicht nur einfach den Neid seiner bestallten Kollegen, sondern auch die Schmälerung oder gar den Verlust seiner Reputation in der scientific community . Gerade in Deutschland ist die Unverkäuflichkeit akademischer Bücher noch immer ein Qualitätskriterium, und wer am Markt reüssiert oder sogar einen kleinen geheimen Bestseller landet, muss damit rechnen, verstoßen zu werden. Dabei hat Erinnerungs- und anderes persönliches Schrifttum ihrer Mitglieder die Gelehrtenrepublik schon immer in den Bann gezogen. Das intellektuell fundierte Erzählen im Graubereich von Lebensbeschreibung, authentisch anmutender Zeitgeschichte und höchstpersönlicher Testamentsvollstreckung schon vor dem eigenen Ableben hat lange Traditionen.

Klaus Birnstiel, Gelehrtenexoterik

 

In Hamburg zieht Kempowski zu seiner verwitweten Mutter. Auch sie hat mehrere Jahre im Zuchthaus gesessen, wofür er sich die Schuld gibt. Die Verwandten, die er besucht, empfangen ihn frostig, und seine Hoffnung, als politischer Häftling anerkannt zu werden und eine Entschädigung zu erhalten, schlägt fehl. Er prozessiert und unterliegt. Von einem Hamburger Amtsrichter muss er sich sogar sagen lassen, dass er nur »ein ganz gewöhnlicher Krimineller« sei. Und das Leben hält noch mehr Enttäuschungen bereit. Ein halbes Jahr nach der Entlassung schreibt Kempowski: »Mir ist es bis heute noch nicht gelungen, eine Bindung zum anderen Geschlecht zu finden.« Für ein Dasein und ein Ende als verkrachte Existenz hätte er keine besseren Ausgangsbedingungen vorfinden können.

Gerhard Henschel, Walter Kempowskis frühe Aufzeichnungen

 

Da die CO2-Konzentration in der Atmosphäre eindeutig bestimmbar ist und auch die Menge des neu in die Luft gelangenden CO2 gut abgeschätzt werden kann, kann dieses Thema an alle Funktionssysteme der modernen Gesellschaft angeschlossen werden: Es lässt sich in ein wirtschaftliches Thema überführen, es lässt sich juristisch und politisch bearbeiten. Aufgrund seiner Abstraktheit erweist sich dieses rein negative Symbol als die erfolgreichste Gestalt, in der in der modernen Gesellschaft Umwelt je zum Thema wurde.

Jens Soentgen, Zur Eschatologie des CO2

 

Im Film wird die Forderung nach Rücksichtnahme dem väterlichen Freund Kurt Blumenfeld in den Mund gelegt. In den realen Kontroversen um Arendts Eichmann-Buch war es das Argument von Gershom Scholem, der Arendt vorwarf, dass ihr die Liebe zum jüdischen Volk fehle. Scholem/Blumenfeld erwarten von Arendt, beim Denken und Schreiben nicht ihre Zugehörigkeit und ihre Treue zum jüdischen Volk zu vergessen und deswegen über diese Fragen nichts zu sagen und schon gar nicht in diesem Ton. Mit ihren kritischen Fragen, so lautet der Vorwurf, fällt sie den Juden, also ihrem eigenen Volk, in den Rücken.

Helmut König, Arendt im Kino

 

Frau Xia zeigt einen Katalog mit Werken ihres belgischen Arbeitgebers Wim Delyove, der zum Beispiel eine Fellatio als Röntgenbild zeigt – Sarkasmus heißt die Wahrheit bis auf die Knochen reduzieren. Von romantischer Liebe will Frau Xia logischerweise nichts wissen. Was sei denn schlecht daran, dass eine Frau einen Mann aus wohlverstandenem Eigeninteresse heirate? Vielleicht ein vernünftigerer Grund für eine Ehe als das Geschwätz von der Liebe. Allerdings seien viele Chinesinnen enttäuscht, wenn sie feststellen, dass ihre ausländischen Männer nicht so reich sind wie erhofft. Und das Leben im Westen sei unverständlich und langweilig für sie.

Jochen Rack, Peking

 

Doch was will man eigentlich, wie soll, darf, muss eine neue Beziehung aussehen? Meine idiotische Lieblingsvorstellung: alles ganz anders als früher, aber trotzdem so ähnlich wie möglich, verpackt als neues Modell inklusive Freiheit, Verbindlichkeit, Vertrauen und Nähe, aber ohne gemeinsame Wohnung. Die ständige Kocherei, als Kompensationselement für alles, was fehlt, muss vielleicht auch nicht sein. Haustiere, kauzige beste Freunde und bizarre Freizeitbeschäftigungen sind erlaubt, übermäßiger Alkoholkonsum und andere schwer therapierbare Süchte werden diesmal von Anfang an verboten. Sex allein sollte, das zeigt die Vergangenheit, auch nicht unbedingt das einzige gemeinsame Unterhaltungsprogramm darstellen. Also ungefähr so. Aber vielleicht auch ganz anders. Ich weiß es nicht. Ich würde mich unter Umständen auch gerne überraschen lassen.

Stephan Herczeg, Journal (II)


MERKUR Jahrgang 67, Heft 767, Heft 04, April 2013
broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Lothar Müller, Wolfgang Hagen, Anke te Heesen, Niels P. Petersson, Jürgen Kaube, Christian Demand, Klaus Birnstiel, Gerhard Henschel, Jens Soentgen, Helmut König, Jochen Rack, Stephan Herczeg,


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