MERKUR

Heft 06 / Juni 2010

Diese Ausgabe erwerben
Printausgabe vergriffen, Artikel als PDF erhältlich, siehe unten

Aus dem Juniheft 2010, Nr. 733 Die von Darwin beschriebene biologische Evolution hört nicht mit dem Homo sapiens auf, aber sie setzt sich in einem so langsamen Zeittakt fort, dass sie keinen merklichen Einfluss auf unsere Geschichte und kulturelle Entwicklung hat. Stephen Jay Gould, der die Zeitverschiebung zwischen Natur und Kultur besonders betonte, hielt deswegen jeden Versuch, die Kultur von der Natur her begreifen zu wollen, für aussichtslos. In beiden Fällen folgen die Entwicklungen einem so verschiedenen Zeittakt, dass sie aufeinander nicht abgebildet werden können. Allenfalls könne man versuchen, schmerzhafte Reibungen zwischen natürlicher und kultureller Entwicklung zu vermeiden. Doch das Tor zur Biologie wurde von der Kultur her wieder aufgestoßen. Mit wachsendem Unbehagen in der Kultur begann der lamarckistische Glaube auch auf diesem Gebiet zu zerfallen. Die Wohltaten der Kultur, die auf wunderbare Weise vererbbar waren, wurden als solche in Zweifel gezogen. Freuds Das Unbehagen in der Kultur ist das bedeutendste Zeugnis für diesen Zweifel am Sinn der Kulturleistungen. In der Kultur erbte sich nicht nur vieles fort, was der Mühe wert war, sondern auch vieles, was sich als Last und Glücksminderung erwies. Dieser durch den Ersten Weltkrieg erstmals zu deutlichem Bewusstsein gelangte Sachverhalt führt dazu, die biologische Seite der Kultur mit neuen Augen zu sehen. Fragen der Kultur wurden wieder zu Fragen der Biologie − oft ohne dass man sich darüber klar wurde. Paul Kammerer war ein Beispiel für die ständige Verwechslung von Biologie und Kulturtheorie, die ihm offenbar nie störend ins Bewusstsein getreten ist. Im Gegenteil, seine Theorie der Serialität sollte ein neues Bindeglied zwischen Natur und Kultur schaffen. Für Zufälle, Serien und Perioden des Alltags suchte er ganz selbstverständlich in der Biologie ein Fundament, so dass, wäre seine Konstruktion insgesamt haltbar gewesen, ein neuer, auf den Zufall begründeter Biologismus sich der Kultur bemächtigt hätte. Unschwer lässt sich auch erkennen, dass seine Forschungen einen Beitrag zur Diagnose einer Übergangsperiode geleistet haben, in der eine Ordnung durch eine andere ersetzt wurde. Die Obsession mit Zufällen ist symptomatisch für eine unwillkürliche Lenkung des Verhaltens in neue, ungekannte Bahnen. Das "Gesetz der Serie" kompensiert die Vertrauensverluste, die eine Gesellschaft im radikalen Umbruch erlebte. Wenn alles wankt, sucht der Mensch Halt beim Zufall, der im glücklichen Fall mit einem überwältigenden Entgegenkommen der Dinge antwortet. In dieser Hoffnung steckt der Wunsch, dass menschliche Anstrengungen belohnt werden − wenn nicht in diesem Leben, so doch, dank der Kultur, in einem nächsten, nämlich dem eines anderen Menschen, mit dem er durch die Kultur verbunden ist. Es macht die Stärke der Kultur, aber auch ihre Kälte aus, dass sie gleichgültig dagegen ist, wann solches geschieht oder wem es zuteil wird. Henning Ritter, Der Zufallsjäger Playmobil, die auf detailgetreues Plastikspielzeug spezialisierte deutsche Firma, stellt auch ein Wikingerschiff her. 43,18 Zentimeter lang und 12,7 Zentimeter breit, ist das Spielzeug mit seinen sechs Rudern, einem Lenkruder und einem bewegbaren Rahsegel eine genaue Nachbildung der in den Museen von Roskilde und Oslo gezeigten historischen Wikingerschiffe. Und es schwimmt auch in der Badewanne. Die meisten Besitzer dieses Spielzeugs sind sich natürlich nicht der Tatsache bewusst, dass das aus Planken gebaute Wikingerschiff Nachfahre der viel älteren, mit Tierhäuten bespannten Schiffe war, die vor den Wikingern die nördlichen Meere weit über tausend Jahre lang befahren hatten, oder dass die Wikinger selber nur die Letzten in einer langen Reihe seetüchtiger Migranten waren. Eine weit aus- und zurückgreifende historische Perspektive haben die Leser Barry Cunliffes mittlerweile von ihm zu erwarten gelernt. In Facing the Ocean und jetzt in dessen Fortsetzung Europe Between the Oceans entschied er sich, Europas ozeanisches Geschick zu erforschen. Europa war und ist das Land zwischen den Ozeanen. Seine stark gewundenen Küsten und Inselfragmente ergeben insgesamt eine 37000 Kilometer lange Grenzfläche zwischen Land und Meer, was fast dem Erdumfang entspricht. Nicht zufällig entstand Europas erste Zivilisation in der Ägäis, nämlich auf Kreta, wo das Küste-Land-Verhältnis am höchsten ist. Die Meeresküste ist auch der Herkunftsort Europas, der Königstochter, die Zeus nach Kreta entführte, was Cunliffe mit dem ihm eigenen Charme kommentiert, "dass die Meeresküste ein Schwellenort ist, wo sich unvorhergesehene Dinge ereignen können". Auf nahezu jeder Seite dieses fesselnden Buches liefert Cunliffe die bestmöglichen Argumente, gerade auch in der Archäologie eine Wissenschaft vom Menschen zu sehen: nicht das Studium stummer Objekte, sondern gehender, denkender, fühlender Menschen, die diese Objekte schufen oder umgestalteten. Europe Between the Oceans ist ein Werk großer Menschlichkeit, das zurückblickt über den Abgrund der Zeit, um ein schwaches Echo unseres früheren Selbst zu erhaschen. Rekonstruiert wird die Frühgeschichte Europas vom Ende der letzten Eiszeit bis zur Entstehung der ersten Nationen des Kontinents, reinterpretiert wird etwas, was mit "die Natur des Menschen" zu beschreiben wäre. Peter N. Miller, Zwischen den Ozeanen In einer ersten Annäherung wird das Jahr 1989 meist einfach mit dem Sieg des Westens über den Osten assoziiert. Doch diese Assoziation ist falsch, denn die Bürger im Osten haben sich über diesen Sieg sichtlich mehr gefreut als die im Westen. Daher muss der Gedanke korrigiert werden: Nicht der Westen hat über den Osten gesiegt, sondern die westlichen "Systeme" haben über ihre östlichen Herausforderer triumphiert. Nicht die Menschen, sondern die Institutionen des Ostblocks haben den Kampf verloren, was die Freude der Ersteren verständlich macht. Die Deutung der Wende im Jahr 1989 als einen friedlichen Transfer der westlichen Institutionen in den Osten hat sich in der öffentlichen Meinung fest etabliert. Aus der heutigen Perspektive wird jedoch sichtbar: Auch diese Deutung verfehlt den wesentlichen Aspekt der damals initiierten Prozesse. Die Öffentlichkeit hat die Verschiebungen der politischen Grenzen auf der Landkarte mit Spannung verfolgt; von der politischen Geographie abgelenkt, ist ihr indes eine weit wichtigere Verschiebung verborgen geblieben. Diese hat sich nicht in geographischen, sondern in Geltungsdimensionen ereignet: leise, ohne tektonische Brüche. Erst jetzt, da die zwanzig Jahre lang vorherrschende Ordnungskonstellation langsam erschüttert wird, wird allmählich klar, dass es 1989 nicht nur zur geographischen Ausdehnung der westlichen Institutionen, sondern auch zu einer inneren Transformation ihres Ordnungsgefüges gekommen ist. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks hat die politische Ordnung des Westens einen Sieg auf der Akteursebene und eine Niederlage auf der Ordnungsebene erfahren. Und wegen ihres Sieges über den bürokratischen Autokratismus des Ostens hat sie den Kampf um die privilegierte Position in der Konstellation der Lebensordnungen zugunsten der wertpolitisch indifferenten Wirtschaftsordnung verloren. In dem über vierzig Jahre lang andauernden Kalten Krieg hatte die westliche Politik einen leichten Zugriff auf materielle Ressourcen und die Aufmerksamkeit der Akteure. Zudem ließ sich die Öffentlichkeit leicht davon überzeugen, dass im existentiellen Kampf gegen die Tyrannei des Ostens eigenständige politische Werte auf dem Spiel stünden. An diesen Werten hatten sich die übrigen Wertansprüche, insbesondere die der Wirtschaftsordnung, zu relativieren. Mit dem Niedergang des Ostblocks hat sich die Situation gewandelt. Die Politik hat den Frieden zwischen Ost und West als einen Wertfrieden missinterpretiert. Diesen jedoch gab es nie. Stattdessen kam es zu einer stetigen Expansion der Wirtschaftsordnung, welche die Lethargie der Politik nutzte, um ihre Rationalitätskriterien in immer weitere Bereiche des sozialen Handelns hineinzutragen. Mateusz Stachura, Der Traum der liberalen Demokratie Der Mensch lebt mit einem Leitbild von der Welt. Die alten Ägypter dachten intensiv an die Zeit nach dem Tod und bauten die Pyramiden, während China nach dem Geheimnis der Harmonie suchte. Die Griechen suchten Erkenntnis durch Philosophie, die Israeliten sahen sich als auserwähltes Volk, die Christen fanden Gott im eingeborenen Sohn, das europäische Mittelalter suchte nach Reliquien und führte Kreuzzüge. Die Neuzeit dagegen entwickelte sich immer mehr zu einer Welt der Wirtschaft und des Geldes. Bereits ab dem Renaissancehumanismus, seit Beginn der Neuzeit wird zumindest gespürt, dass die Gesellschaft, wenn sich schon nicht ihre neue Einheit im Wirtschaftssystem findet, sie doch ihre alte Einheit durch die Freiheit des Geldes verliert. Das Zinsverbot war immer der Zaun, der einer Freiheit des Geldes im Weg stand − öffnet man ihn, beginnt eine neue Welt: Das ist etwas, was Shakespeare im Kaufmann von Venedig problematisiert hat. Denn hätte Shylock einen anständigen Zins genommen, anstatt mit christlicher Bigotterie und mit alttestamentlichen Rachegedanken darauf zu verzichten, wäre Antonio und vor allem ihm selbst ein großes Drama erspart geblieben. Shakespeare hat auf jenen Übergang reagiert, der vom mittelalterlichen Zinsverbot zur Legalisierung des Zinsnehmens 1571 in England führte. Warum wehren sich das mittelalterliche Christentum und auch der Islam gegen das Verleihen von Geld gegen Zinsen? Jenseits der theologischen Begründungen existiert eine einfache funktionale Erklärung: Wer entwickelte Geldwirtschaft zulässt, muss seine Herrschaft über die Gesellschaft zumindest teilen, und wenn er nicht aufpasst, ist er schnell Gefangener des Geldes. Wenn das Verleihen von Geld mit Zinsen attraktiv gemacht wird, beginnt der Handel mit Geld, entsteht dafür ein eigener, ein spezieller Warenkreislauf, obwohl das Geld doch nur Tauschäquivalent für sachliche Güter und Dienste sein soll. Udo Di Fabio, Die Freiheit des Geldes Man kann sich noch so sehr bemühen, Modelle so zu gestalten, dass sie dynamische Prozesse abbilden − die Zukunft entzieht sich dem Zugriff. Man kann sich auch noch so sehr bemühen, unvollständige Information und Unsicherheit zu berücksichtigen, die individuellen Entscheidungen zugrunde liegen − der fundamentalen Kontingenz des menschlichen Daseins entgehen wir nicht. Menschen sind nicht in der Lage, alles relevante Wissen aufzunehmen, zu sortieren, zu speichern und bei gegebener Zeit wieder hervorzuholen. Bestimmte Informationen stehen von vornherein nicht jedermann zur Verfügung. Und es gibt ein epistemisches Problem: Was relevant ist, zeigt sich zum Teil erst nach der Entscheidung. Mit dem Entscheiden und Handeln − was in gewisser Weise dasselbe ist − entsteht immer wieder eine neue Lage. Eine Ökonomie, die als Gesellschaftswissenschaft ernst genommen werden will, braucht Mathematik und Philosophie, Theorie und Empirie. Sie braucht die formalen Methoden der Mathematik für die logische Stringenz; sie braucht die Empirie für die Ankopplung der Theorie an die Realität; sie braucht Philosophie, Soziologie, Psychologie, Politik und Geschichte für die relevanten und richtigen Fragen und die passende Methodik. Sie bekommt dies nur, wenn sich der Mainstream umfassend öffnet. Er bedarf der Heterodoxie, die ihn herausfordert, und der fachübergreifenden Perspektive, die ihn immer wieder korrigiert. Sie sind es, die der vorübergehend entblößten Ökonomie wieder neue Kleider geben. Karen Horn, Ökonomiekolumne Das Schweizer Bankgeheimnis macht nicht nur dem deutschen Fiskus zu schaffen. Vor ein paar Jahren beschädigte es auch den Künstler Thomas Huber. Der hatte 1999 für die Halle einer UBS-Niederlassung in Genf vier großformatige Gemälde − über vier Etagen gestaffelt − angefertigt. Sie bilden zusammen eine einzige Arbeit, ja die einzelnen Tafeln sind über ihre Motive miteinander verknüpft. Der Gesamteindruck wurde aber zerstört, als man in einer der Etagen zur Halle hin eine große Milchglasscheibe einzog: Von dort aus lässt sich das Bild nun nicht mehr sehen. Vor allem aber bleibt auch verborgen, wer sich in dieser Etage aufhält. Und darum ging es. Die Bank bemüht sich nämlich um maximale Diskretion gegenüber den meist deutschen Kunden, die sich hier einfinden, um ihr Geld in Sicherheit vor den Steuerbehörden zu bringen. Sie sollen durch das Milchglas vor den Blicken Neugieriger geschützt werden. Das Beispiel erinnert daran, dass Kunst, sobald sie sich in Privatbesitz befindet, ihrem Eigentümer ausgeliefert ist. Er kann ein Werk wegsperren, nachlässig behandeln oder in eine für es peinliche Umgebung bringen. Verwöhnt von staatlichen Museen, deren Umgang mit Kunst strikten Vorschriften unterliegt und die ihr in jeder Hinsicht dienen, neigen viele, Künstler ebenso wie Kunstinteressierte, dazu, die Verfügungsgewalt von Sammlern und Auftraggebern in ihren Folgen zu unterschätzen. Publicity bekommen zudem immer nur die Kunstbesitzer, die Gutes tun: Museen für ihre Sammlungen errichten, sich als Connaisseure hervortun oder mäzenatisch agieren. Wer seinen Kunstbesitz hingegen anderen Interessen unterordnet, muss sich kaum einmal öffentlich dafür rechtfertigen. Und wer Kunst ganz zum Verschwinden bringt, fällt damit nur selten auf. Höchstens ein Kunsthistoriker oder Kurator, der sich für ein Werk interessiert, stellt plötzlich fest, dass es in Sammlungskatalogen, in denen es bereits publiziert worden war, nicht mehr auftaucht. Als ich kürzlich für eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, die sich einigen Topoi des Herrscherporträts sowie der Inszenierung von Macht widmete, ein Fototriptychon ausleihen wollte, das die Deutsche Bank 2007 bei Clegg & Guttmann in Auftrag gegeben hatte und das damals mehrfach, sogar in einer Sonderwerbebeilage der Welt, abgedruckt worden war, musste ich zur Kenntnis nehmen, dass man von dieser Arbeit mittlerweile offenbar nichts mehr wissen will. Selbstverständlich hat jeder Eigner von Kunst das gute Recht (und oft sehr gute Gründe), ein Leihersuchen abzulehnen, doch wurde ich stutzig, als die Abteilung Corporate Citizenship/Art sogar meine nach mehreren Absagen sehr bescheiden gewordene Bitte, das Triptychon wenigstens innerhalb eines Katalogessays im Zusammenhang anderer Porträts reproduzieren zu dürfen, abschlägig beschied. Die Bankchefs Hilmar Kopper, Rolf Ernst Breuer und Tessen von Heydebreck (sie sind die Sujets des Triptychons) neben Tizians Karl V. oder Bildern von Kaiser Maximilian, König Ludwig II. oder Kanzler Gerhard Schröder zu zeigen, war nicht erwünscht. Wolfgang Ullrich, Ästhetikkolumne Ein Klotz von Buch. Der Suhrkamp Verlag hat die 2006 postum erschienene monumentale Werkbiographie Walter Benjamins aus der Feder von Jean- Michel Palmier, dem 1998 verstorbenen französischen Kulturhistoriker der Weimarer Republik übersetzen lassen und als Standardwerk annonciert. Die Rezensionen waren durchweg positiv, von einigen skeptischen Obertönen überwölbt. Kein homogenes Ganzes. Nach Lektüre der knapp 1300 Fragment gebliebenen Seiten Text sogleich mein Haupteinwand: Dieses Buch bewegt sich nicht. In vier großen Teilen angeordnet, nimmt der erste, eigentlich biographische, ziemlich genau die Hälfte des Gesamtumfangs ein, ohne dass Palmier doch darauf verzichten wollte, bereits hier tief in die Werkexegese einzusteigen. Danach werden in wuchtigen Blöcken Hauptmotive des Benjaminschen Denkens aufgearbeitet: Mit fast jedem neuen Unterkapitel entsteht der Eindruck eines Atemholens, Neuansatzes, wobei es zu zahllosen Wiederholungen und Überschneidungen kommt, manche Zitate werden immer wieder bemüht. Deshalb entwickelt schon die Rekonstruktion von Benjamins Lebensspur keinen rechten Drive, was hauptsächlich aber daran liegt, dass er recht eigentlich nicht dabei war: eine in jeder Hinsicht isolierte Existenz. "Benjamin blieb skeptisch", "Benjamin hielt auf Abstand", "Benjamin zeigte wenig Interesse" ist geradezu das Mantra von Palmiers Ausführungen zu Benjamins Realbiographie. Die sozialen und politischen Umstände einer denkbar bewegten Zeit, beginnend mit dem Ersten Weltkrieg, blieben Benjamin äußerlich, bis die Ereignisse endlich zu ihm kamen und die Emigration unausweichlich wurde. Abschottung war die Bedingung der Möglichkeit seines eigentümlichen Denkens aus dem Schneckenhaus heraus. Manche Mythe wird geknackt, so diejenige, dass Max Horkheimers Institut für Sozialforschung Benjamin in Europa habe "hängenlassen" − allein sein Zaudern hat ihn das Leben gekostet. Dafür bleiben trotz des Umfangs irritierende Lücken: Wie Benjamin zu seiner Frau Dora kam, wird nicht verraten, ebenso wenig, wie die eminent wichtige Vertrauensbasis der Bekanntschaft mit Adorno gelegt wurde; der Umstand, dass man 1922 zusammen im Frankfurter Seminar des Simmel-Schülers Gottfried Salomon saß, rutscht in eine Fußnote. Biographisch keine großen Überraschungen: Die Person Benjamin war das, was man heute einen "nerd" nennt. Verschlossen, ungeschickt im Alltagsleben und in höchstem Maße eigenbrötlerisch, zur Gänze humorfrei und ständig von Plagiatsängsten getrieben, dem winzigen Bekanntenkreis gegenüber autoritär auftretend, bis zum vierzigsten Lebensjahr bei den Eltern wohnend, ihnen auch die Erziehung des Sohnes überlassend, unfähig gar, wie Palmier notiert, sich einen Kaffee zu kochen. Das Recht der ersten Dinge vor den letzten blieb Benjamin immer fremd. Ingo Meyer, Legitimationsdiskurs Dem Zuschauer eines Fußballspiels stehen grundsätzlich verschiedene Optionen offen. Im Stadion kann er den Blick frei schweifen lassen. Er kann den Laufwegen der Spieler folgen und dabei, wenn er will, auch den Ball aus den Augen verlieren. Der Stadionbesucher hat mitunter Einsichten in strategische Entscheidungen und taktische Verläufe. Sein Blick wird nicht dazu gezwungen, immer auf Ballhöhe zu verharren. Gleichwohl ist der Blick von den Stadionrängen immer auch ein artifizieller Überblick über das Spielfeld, der mit der räumlichen Perspektive des Spiels selbst sehr wenig zu tun hat. Diejenige Perspektive, aus der heraus sich ein Spiel entwickelt, ist die der zweiundzwanzig Spieler. Wie sich Fußball aus der Perspektive der Spieler darstellen kann, sieht man im Fernsehen selten. Ausnahmen sind Hellmuth Costards Film Fußball wie noch nie (1971), der ein ganzes Spiel lang nur George Best ins Kameraauge fasst. Und ein 2006 erschienenes Filmporträt von Zinédine Zidane. Der Film entwirft eine ungewohnte Ästhetik des Fußballs, indem er den Zuschauerraum ausblendet und sich gänzlich auf den Spielerraumbeschränkt. Der Film bricht zudem mit unseren Sehgewohnheiten, indem er über neunzig Minuten allein Zidane ins Visier nimmt und nicht etwa den Ball. Er rückt eine einzige Spielerfigur ins Zentrum des Geschehens. Das Spiel ereignet sich somit in einer − vom Ball aus gesehen − dezentralen Perspektive. Es hat mit dem Fußball der Sportschau nur noch wenig zu tun. Der Film macht ferner deutlich, worin sich der Überblick des Zuschauers und der Blick des Spielers unterscheiden: Die zweiundzwanzig Spieler verfügen am wenigsten über einen Überblick. Sie sind immer gezwungen, ihre Entscheidungen für Laufwege und Abspiele aus einem äußerst spitzen und verengten Blickwinkel auf das Spielfeld zu treffen. Die räumliche Erstreckung des Spielfeldes zeigt sich gerade nicht aus ihrer eigenen Perspektive. Interessanterweise ist es meist die Perspektive des Beobachters von außen, die zur Grundlage eines entsprechenden sprachlichen Berichts über ein Spiel wird. Schon deshalb kann der Bericht die Wahrnehmung der am Spiel Beteiligten gerade nicht wiedergeben. Er verfehlt in dieser Hinsicht das Spiel selbst. Denn das eigentlich Verwunderliche oder wenn man will Atemberaubende an Vierzig-Meter-Pässen aus der Tiefe des Raumes ist: Sie werden von Spielern geschlagen, die vor sich nicht den offenen Raum sehen, sondern die gegnerischen Beine, an denen der Ball wie an Slalomstangen vorbeigespielt werden muss. Yvonne Wübben, Was heißt, sich im Fußball orientieren? Eines Morgens betritt der Lehrer sein Arbeitszimmer in der Universität (das freilich noch andere benutzen) und findet einen sonderbaren Brief ohne Absender. Darin steht etwas Nettes über die Augen des Lehrers und die Wirkung seines Blicks. Kein Name, aber eine Telefonnummer. Neugierig und geschmeichelt, versäumt der Lehrer den erwünschten Anruf nicht. Am Apparat die aufgewühlte Stimme einer Studentin. Was beruhigt: Sie hat gerade ihre Abschlussprüfung absolviert. Ansonsten hätte der Lehrer geargwöhnt, nicht sein wertvolles Selbst, sondern ein Prüfungs- beziehungsweise Notenvorteil sei das Ziel der erotischen Avancen (wie er sie im Laufe der Jahre mitunter erlebt hatte, indes mit professioneller Kälte von sich abprallen ließ). Alsbald trifft man sich in einem "Irish Pub". Giovanna entpuppt sich als wohlgeformte Rothaarige mit rauchiger Stimme. In den Stunden des späten Nachmittags ist der Pub noch leer, schummriges Licht. Sie stürzt sich auf den Deutschen wie eine ausgehungerte Löwin. Manchmal blickt er besorgt in die Richtung, wo er den Barmann vermutet. Der Vater Giovannas ist Gynäkologe. Er unterhält eine Hassliebe zu Deutschen, die er fürchtet und bewundert. Giovanna wiederum unterhält eine Hassliebe zu ihrem Vater, den sie fürchtet und provoziert. Einmal gesteht sie ihrem deutschen Geliebten, wie erregend sie es fände, wenn er bei der Liebe eine Naziuniform trüge, am liebsten Totenkopf-SS. Eines schönen Tages kommt der Lehrer, wie verabredet, zur Piazza San Francesco. Er wartet auf den Bus, mit dem Giovanna ankommen soll. Als der Bus endlich verspätet eintrifft, kann der Lehrer im Menschengewühl Giovanna nicht entdecken. Der Lehrer wartet weiter, auf den nächsten Bus der Linie. Auf seinem Weg zum Rendezvous wanderte er noch auf Wolken, malte sich das ersehnte Treffen aus. Das war falsch. Jetzt sieht sich der Lehrer als eine Art abgeklärten Existentialisten, der Zufällen gelassen begegnet, sie sein lässt. Er entsinnt sich, dass, wie er irgendwo las, im Reich der Liebe der Zufall regiert und Liebende sich dem Zufall anvertrauen sollten. Der Lehrer wartet. Der nächste Bus kommt an. Der übernächste. Der Lehrer ist nun kein gelassener Existentialist mehr. Er erlebt jetzt, was er bisher nur als philosophisches Hirngespinst kannte: Er ist in heller Panik und Angst wahrhaft vor das Nichts gestellt. Seine Gefühle greifen ins Leere. Lieben kann er die Ersehnte nicht mehr, die ihn − möglicherweise − schnöde versetzt, verraten hat, vielleicht sogar absichtlich quält. Hassen kann er sie aber auch nicht, hofft er doch, zunehmend verzweifelt, auf ihre Unschuld, einen unglückseligen Zufall, etwa einen Unfall in der Familie. Die Dunkelheit senkt sich über den Platz, der vor Leben wimmelt. Der Lehrer fühlt sein Ich im Strom der Menge zerbröckeln. Er bildet sich ein, seine Geliebte womöglich verfehlt zu haben, die ihn jetzt ihrerseits suche. Er heftet sich an die Fersen der einen oder anderen Rothaarigen. Er bildet sich ein, am Nichterscheinen seiner Geliebten selbst schuld zu sein, weil er sich ihr Erscheinen im Voraus ausgemalt, weil er Gelassenheit nur gespielt hatte. Schwere Verstöße gegen magische Gebote der Kindheit. Er klammert sich an einen Rest von Selbsterhaltungsinstinkt, flieht den Platz in der Angst, den Verstand zu verlieren. Lange braucht der Lehrer, sich von dieser Lektion zu erholen. Fachmännisch hat man ihm den Kopf verdreht. Ein, zwei Mal erliegt er der Versuchung, im Haushalt des Gynäkologen anzurufen. Eine tiefe, raue Männerstimme weist ihn ab. "Giovanna non c´è!" Dietmar Voss, Capricci salernitani

MERKUR Jahrgang 64, Heft 733, Heft 06, Juni 2010
100 Seiten, broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Hubert Markl, Henning Ritter, Peter N. Miller, Mateusz Stachura, Udo Di Fabio, Karen Horn, Wolfgang Ullrich, Ingo Meyer, Horst Meier, Yvonne Wübben, Dietmar Voss,


Unser Service für Sie

Zahlungsmethoden
PayPal (nicht Abos),
Kreditkarte,
Rechnung
weitere Infos

PayPal

Versandkostenfreie Lieferung
nach D, A, CH

in D, A, CH inkl. MwSt.
 
weitere Infos

Social Media
Besuchen Sie uns bei


www.klett-cotta.de/im-netz
Facebook Twitter YouTube
Newsletter-Abo

Klett-Cotta-Verlag

J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH
Rotebühlstrasse 77
70178 Stuttgart
info@klett-cotta.de