Die von Darwin beschriebene biologische Evolution hört nicht mit dem Homo sapiens auf, aber sie setzt sich in einem so langsamen Zeittakt fort, dass sie keinen merklichen Einfluss auf unsere Geschichte und kulturelle Entwicklung hat. Stephen Jay Gould, der die Zeitverschiebung zwischen Natur und Kultur besonders betonte, hielt deswegen jeden Versuch, die Kultur von der Natur her begreifen zu wollen, für aussichtslos. In beiden Fällen folgen die Entwicklungen einem so verschiedenen Zeittakt, dass sie aufeinander nicht abgebildet werden können. Allenfalls könne man versuchen, schmerzhafte Reibungen zwischen natürlicher und kultureller Entwicklung zu vermeiden. Doch das Tor zur Biologie wurde von der Kultur her wieder aufgestoßen. Mit wachsendem Unbehagen in der Kultur begann der lamarckistische Glaube auch auf diesem Gebiet zu zerfallen. Die Wohltaten der Kultur, die auf wunderbare Weise vererbbar waren, wurden als solche in Zweifel gezogen. Freuds Das Unbehagen in der Kultur ist das bedeutendste Zeugnis für diesen Zweifel am Sinn der Kulturleistungen. In der Kultur erbte sich nicht nur vieles fort, was der Mühe wert war, sondern auch vieles, was sich als Last und Glücksminderung erwies. Dieser durch den Ersten Weltkrieg erstmals zu deutlichem Bewusstsein gelangte Sachverhalt führt dazu, die biologische Seite der Kultur mit neuen Augen zu sehen. Fragen der Kultur wurden wieder zu Fragen der Biologie − oft ohne dass man sich darüber klar wurde. Paul Kammerer war ein Beispiel für die ständige Verwechslung von Biologie und Kulturtheorie, die ihm offenbar nie störend ins Bewusstsein getreten ist. Im Gegenteil, seine Theorie der Serialität sollte ein neues Bindeglied zwischen Natur und Kultur schaffen. Für Zufälle, Serien und Perioden des Alltags suchte er ganz selbstverständlich in der Biologie ein Fundament, so dass, wäre seine Konstruktion insgesamt haltbar gewesen, ein neuer, auf den Zufall begründeter Biologismus sich der Kultur bemächtigt hätte. Unschwer lässt sich auch erkennen, dass seine Forschungen einen Beitrag zur Diagnose einer Übergangsperiode geleistet haben, in der eine Ordnung durch eine andere ersetzt wurde. Die Obsession mit Zufällen ist symptomatisch für eine unwillkürliche Lenkung des Verhaltens in neue, ungekannte Bahnen. Das "Gesetz der Serie" kompensiert die Vertrauensverluste, die eine Gesellschaft im radikalen Umbruch erlebte. Wenn alles wankt, sucht der Mensch Halt beim Zufall, der im glücklichen Fall mit einem überwältigenden Entgegenkommen der Dinge antwortet. In dieser Hoffnung steckt der Wunsch, dass menschliche Anstrengungen belohnt werden − wenn nicht in diesem Leben, so doch, dank der Kultur, in einem nächsten, nämlich dem eines anderen Menschen, mit dem er durch die Kultur verbunden ist. Es macht die Stärke der Kultur, aber auch ihre Kälte aus, dass sie gleichgültig dagegen ist, wann solches geschieht oder wem es zuteil wird.
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