In einer ersten Annäherung wird das Jahr 1989 meist einfach mit dem Sieg des Westens über den Osten assoziiert. Doch diese Assoziation ist falsch, denn die Bürger im Osten haben sich über diesen Sieg sichtlich mehr gefreut als die im Westen. Daher muss der Gedanke korrigiert werden: Nicht der Westen hat über den Osten gesiegt, sondern die westlichen "Systeme" haben über ihre östlichen Herausforderer triumphiert. Nicht die Menschen, sondern die Institutionen des Ostblocks haben den Kampf verloren, was die Freude der Ersteren verständlich macht. Die Deutung der Wende im Jahr 1989 als einen friedlichen Transfer der westlichen Institutionen in den Osten hat sich in der öffentlichen Meinung fest etabliert. Aus der heutigen Perspektive wird jedoch sichtbar: Auch diese Deutung verfehlt den wesentlichen Aspekt der damals initiierten Prozesse. Die Öffentlichkeit hat die Verschiebungen der politischen Grenzen auf der Landkarte mit Spannung verfolgt; von der politischen Geographie abgelenkt, ist ihr indes eine weit wichtigere Verschiebung verborgen geblieben. Diese hat sich nicht in geographischen, sondern in Geltungsdimensionen ereignet: leise, ohne tektonische Brüche. Erst jetzt, da die zwanzig Jahre lang vorherrschende Ordnungskonstellation langsam erschüttert wird, wird allmählich klar, dass es 1989 nicht nur zur geographischen Ausdehnung der westlichen Institutionen, sondern auch zu einer inneren Transformation ihres Ordnungsgefüges gekommen ist. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks hat die politische Ordnung des Westens einen Sieg auf der Akteursebene und eine Niederlage auf der Ordnungsebene erfahren. Und wegen ihres Sieges über den bürokratischen Autokratismus des Ostens hat sie den Kampf um die privilegierte Position in der Konstellation der Lebensordnungen zugunsten der wertpolitisch indifferenten Wirtschaftsordnung verloren. In dem über vierzig Jahre lang andauernden Kalten Krieg hatte die westliche Politik einen leichten Zugriff auf materielle Ressourcen und die Aufmerksamkeit der Akteure. Zudem ließ sich die Öffentlichkeit leicht davon überzeugen, dass im existentiellen Kampf gegen die Tyrannei des Ostens eigenständige politische Werte auf dem Spiel stünden. An diesen Werten hatten sich die übrigen Wertansprüche, insbesondere die der Wirtschaftsordnung, zu relativieren. Mit dem Niedergang des Ostblocks hat sich die Situation gewandelt. Die Politik hat den Frieden zwischen Ost und West als einen Wertfrieden missinterpretiert. Diesen jedoch gab es nie. Stattdessen kam es zu einer stetigen Expansion der Wirtschaftsordnung, welche die Lethargie der Politik nutzte, um ihre Rationalitätskriterien in immer weitere Bereiche des sozialen Handelns hineinzutragen.
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