Ein Klotz von Buch. Der Suhrkamp Verlag hat die 2006 postum erschienene monumentale Werkbiographie Walter Benjamins aus der Feder von Jean- Michel Palmier, dem 1998 verstorbenen französischen Kulturhistoriker der Weimarer Republik übersetzen lassen und als Standardwerk annonciert. Die Rezensionen waren durchweg positiv, von einigen skeptischen Obertönen überwölbt. Kein homogenes Ganzes. Nach Lektüre der knapp 1300 Fragment gebliebenen Seiten Text sogleich mein Haupteinwand: Dieses Buch bewegt sich nicht. In vier großen Teilen angeordnet, nimmt der erste, eigentlich biographische, ziemlich genau die Hälfte des Gesamtumfangs ein, ohne dass Palmier doch darauf verzichten wollte, bereits hier tief in die Werkexegese einzusteigen. Danach werden in wuchtigen Blöcken Hauptmotive des Benjaminschen Denkens aufgearbeitet: Mit fast jedem neuen Unterkapitel entsteht der Eindruck eines Atemholens, Neuansatzes, wobei es zu zahllosen Wiederholungen und Überschneidungen kommt, manche Zitate werden immer wieder bemüht. Deshalb entwickelt schon die Rekonstruktion von Benjamins Lebensspur keinen rechten Drive, was hauptsächlich aber daran liegt, dass er recht eigentlich nicht dabei war: eine in jeder Hinsicht isolierte Existenz. "Benjamin blieb skeptisch", "Benjamin hielt auf Abstand", "Benjamin zeigte wenig Interesse" ist geradezu das Mantra von Palmiers Ausführungen zu Benjamins Realbiographie. Die sozialen und politischen Umstände einer denkbar bewegten Zeit, beginnend mit dem Ersten Weltkrieg, blieben Benjamin äußerlich, bis die Ereignisse endlich zu ihm kamen und die Emigration unausweichlich wurde. Abschottung war die Bedingung der Möglichkeit seines eigentümlichen Denkens aus dem Schneckenhaus heraus. Manche Mythe wird geknackt, so diejenige, dass Max Horkheimers Institut für Sozialforschung Benjamin in Europa habe "hängenlassen" − allein sein Zaudern hat ihn das Leben gekostet. Dafür bleiben trotz des Umfangs irritierende Lücken: Wie Benjamin zu seiner Frau Dora kam, wird nicht verraten, ebenso wenig, wie die eminent wichtige Vertrauensbasis der Bekanntschaft mit Adorno gelegt wurde; der Umstand, dass man 1922 zusammen im Frankfurter Seminar des Simmel-Schülers Gottfried Salomon saß, rutscht in eine Fußnote. Biographisch keine großen Überraschungen: Die Person Benjamin war das, was man heute einen "nerd" nennt. Verschlossen, ungeschickt im Alltagsleben und in höchstem Maße eigenbrötlerisch, zur Gänze humorfrei und ständig von Plagiatsängsten getrieben, dem winzigen Bekanntenkreis gegenüber autoritär auftretend, bis zum vierzigsten Lebensjahr bei den Eltern wohnend, ihnen auch die Erziehung des Sohnes überlassend, unfähig gar, wie Palmier notiert, sich einen Kaffee zu kochen. Das Recht der ersten Dinge vor den letzten blieb Benjamin immer fremd.
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