Eines Morgens betritt der Lehrer sein Arbeitszimmer in der Universität (das freilich noch andere benutzen) und findet einen sonderbaren Brief ohne Absender. Darin steht etwas Nettes über die Augen des Lehrers und die Wirkung seines Blicks. Kein Name, aber eine Telefonnummer. Neugierig und geschmeichelt, versäumt der Lehrer den erwünschten Anruf nicht. Am Apparat die aufgewühlte Stimme einer Studentin. Was beruhigt: Sie hat gerade ihre Abschlussprüfung absolviert. Ansonsten hätte der Lehrer geargwöhnt, nicht sein wertvolles Selbst, sondern ein Prüfungs- beziehungsweise Notenvorteil sei das Ziel der erotischen Avancen (wie er sie im Laufe der Jahre mitunter erlebt hatte, indes mit professioneller Kälte von sich abprallen ließ). Alsbald trifft man sich in einem "Irish Pub". Giovanna entpuppt sich als wohlgeformte Rothaarige mit rauchiger Stimme. In den Stunden des späten Nachmittags ist der Pub noch leer, schummriges Licht. Sie stürzt sich auf den Deutschen wie eine ausgehungerte Löwin. Manchmal blickt er besorgt in die Richtung, wo er den Barmann vermutet. Der Vater Giovannas ist Gynäkologe. Er unterhält eine Hassliebe zu Deutschen, die er fürchtet und bewundert. Giovanna wiederum unterhält eine Hassliebe zu ihrem Vater, den sie fürchtet und provoziert. Einmal gesteht sie ihrem deutschen Geliebten, wie erregend sie es fände, wenn er bei der Liebe eine Naziuniform trüge, am liebsten Totenkopf-SS. Eines schönen Tages kommt der Lehrer, wie verabredet, zur Piazza San Francesco. Er wartet auf den Bus, mit dem Giovanna ankommen soll. Als der Bus endlich verspätet eintrifft, kann der Lehrer im Menschengewühl Giovanna nicht entdecken. Der Lehrer wartet weiter, auf den nächsten Bus der Linie. Auf seinem Weg zum Rendezvous wanderte er noch auf Wolken, malte sich das ersehnte Treffen aus. Das war falsch. Jetzt sieht sich der Lehrer als eine Art abgeklärten Existentialisten, der Zufällen gelassen begegnet, sie sein lässt. Er entsinnt sich, dass, wie er irgendwo las, im Reich der Liebe der Zufall regiert und Liebende sich dem Zufall anvertrauen sollten. Der Lehrer wartet. Der nächste Bus kommt an. Der übernächste. Der Lehrer ist nun kein gelassener Existentialist mehr. Er erlebt jetzt, was er bisher nur als philosophisches Hirngespinst kannte: Er ist in heller Panik und Angst wahrhaft vor das Nichts gestellt. Seine Gefühle greifen ins Leere. Lieben kann er die Ersehnte nicht mehr, die ihn − möglicherweise − schnöde versetzt, verraten hat, vielleicht sogar absichtlich quält. Hassen kann er sie aber auch nicht, hofft er doch, zunehmend verzweifelt, auf ihre Unschuld, einen unglückseligen Zufall, etwa einen Unfall in der Familie. Die Dunkelheit senkt sich über den Platz, der vor Leben wimmelt. Der Lehrer fühlt sein Ich im Strom der Menge zerbröckeln. Er bildet sich ein, seine Geliebte womöglich verfehlt zu haben, die ihn jetzt ihrerseits suche. Er heftet sich an die Fersen der einen oder anderen Rothaarigen. Er bildet sich ein, am Nichterscheinen seiner Geliebten selbst schuld zu sein, weil er sich ihr Erscheinen im Voraus ausgemalt, weil er Gelassenheit nur gespielt hatte. Schwere Verstöße gegen magische Gebote der Kindheit. Er klammert sich an einen Rest von Selbsterhaltungsinstinkt, flieht den Platz in der Angst, den Verstand zu verlieren. Lange braucht der Lehrer, sich von dieser Lektion zu erholen. Fachmännisch hat man ihm den Kopf verdreht. Ein, zwei Mal erliegt er der Versuchung, im Haushalt des Gynäkologen anzurufen. Eine tiefe, raue Männerstimme weist ihn ab. "Giovanna non c´è!"
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