MERKUR

Heft 06 / Juni 2014

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Zitate aus dem Juniheft, Nr. 781

In den achtziger Jahren machte sich ein Rollenwandel des Gerichts bemerkbar. Wesentliche Rechtsprechungsfelder wurden nicht mehr von utopischem Denken beherrscht. Vielmehr machten sich im Rechtsdenken des Bundesverfassungsgerichts Spuren eines postpolitischen Aufgabenverständnisses bemerkbar. Damit soll hier ein Handlungsverständnis bezeichnet werden, das von der Maßgeblichkeit der jeweiligen Rahmenbedingungen geprägt ist. Postpolitisches Handeln kann etwa von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, von Sicherheitserwägungen oder auch von der Sorge um die Abwehr von Gefahren und Bedrohungen getrieben sein. Der Handlungsmaßstab ist, »beste Lösungen« verstandesmäßig zu finden, ohne einen politischen Streit austragen zu müssen.

Martin Nettesheim, Postpolitik aus Karlsruhe

 

Dass es 1945 keine vollständige »Stunde Null« gab, ist längst gesicherter Stand der Forschung. Das gilt aber eben nicht nur für die personelle Kontinuität belasteter Personen in Justiz und Verwaltung oder die Überhänge antidemokratischer oder autoritärer Ideenwelten in der frühen Bundesrepublik. Es gilt ebenso für diejenigen, die für die neue politische und gesellschaftliche Ordnung standen. Auch sie fingen nicht erst 1945 an.

Friedrich Kießling, Lauter Anfänge?

 

Dass neuerdings literarische Manuskripte schon vor ihrer Drucklegung das Marbacher Archiv erreichen, weiß dessen Leiter Ulrich von Bülow ebenso zu berichten wie den Umstand, dass manche Autoren ihre literarischen Arbeiten schon wenige Tage nach der Abfassung an die Archivare am Neckar schicken: Bei elektronischen Texten tendiere der Abstand zwischen Niederschrift und Archivierung sogar »potentiell gegen null«. Werden die Autoren demnächst also direkt auf einem Marbacher Server dichten und ihre Arbeiten dann augenblicklich auf einer Archiv-Cloud abspeichern?

Carlos Spoerhase, Postume Papiere

 

Nach dem Ersten Weltkrieg sind die Familien meiner Mutter und meines Vaters in die Bukowina zurückgekehrt, wo man sie aufklärte, sie seien nunmehr Rumänen. Mein Vater und seine Brüder, die im Krieg nach Zürich geflohen waren, beschlossen, in der Schweiz zu leben, wo sie dann auch Staatsbürger wurden. Josef, der Bruder meiner Mutter, kam aus Sibirien zurück und brachte meiner Mutter als Geschenk einen Affen mit, den meine Großmutter nicht leiden konnte. Das arme Tier starb bald darauf, man weiß nicht, woran.

Edith Lynn Beer, Das Österreich-Ungarn meiner Familie

 

Doppelformen werden dort fleißig im Munde geführt, wo die Macht verteilt wird: in der Politik, in der Staatsverwaltung und in den Zentralen von Konzernen im Rahmen ihrer Compliance-Attitüde. Keines dieser Unternehmen wird von einer Frau geführt, in den Vorständen tauchen sie nur als mütterliche Galionsfigur für das Personalressort auf. Zwei Drittel der Bundestagsabgeordneten sind Männer. Schuld daran sind nicht wir Wähler, sondern die Kandidatenlisten von CDU, CSU und SPD. Wo Männer das Sagen haben, wird keine Gelegenheit ausgelassen, die Frau durch Doppelformen zu würdigen.

Daniel Scholten, Sprachkolumne. Gendersprech

 

Big history lässt das, was wir üblicherweise als die gesamte Weltgeschichte bezeichnen, fast wie eine Art Mikrogeschichte erscheinen. David Christian beginnt seine Erzählung mit dem Urknall und der Entstehung des Sonnensystems, der Entstehung der Erde, und kommt schließlich auch zu den letzten fünftausend Jahren, also zur Evolution des Homo sapiens bis ins 21. Jahrhundert hinein. Die Geschichte der menschlichen Spezies nimmt dann nur noch wenige Seiten in diesem Großentwurf ein. Big history fragt also nach der Bedeutung des Menschen für das Universum und umgekehrt.

Sebastian Conrad, Geschichtskolumne. World History Goes Big and Deep

 

Was ist also beispielsweise von den Gewaltexzessen zu halten, die bis in widerliche Details von antiken Tyrannen oder üblen Kaisern wie Caligula, Nero oder Elagabal erzählt werden? Haben diese vermeintlichen Psychopathen ihre Opfer tatsächlich über Tage in der von Geschichtsschreibern und Biografen beschriebenen Weise zu Tode gequält und schier unvorstellbare Sexorgien gefeiert? Bei unvoreingenommener Betrachtung wird rasch deutlich, dass die unkritische Übernahme der Überlieferung hier mehr über den neuzeitlichen Voyeur aussagt als über den Alltag antiker Herrschaftspraxis.

Martin Zimmermann, Antike Gewalt – moderne Gewalt

 

Eine Lektüre des interdisziplinären Briefwechsels, von Blumenberg ironisch als Praxis der »Fernmagie« beschrieben, ließe also erwarten, dass die beiden sich in ihren Anstrengungen für das interdisziplinäre Projekt wechselseitig bestärken, einander möglicherweise Aufgaben und Funktionsstellen zuschieben, dass sie über die Publikation von Tagungsbänden fachsimpeln und sich ein bisschen gegenseitig beweihräuchern, natürlich im Dienst des gemeinsamen Projekts. Doch weit gefehlt.

Annette Vowinckel, »Ich fürchte mich vor den Organisationslustigen«

 

Erst mit vierzig merkte ich, wie ähnlich ich ihm in vielem war, und es erfüllte mich Scham. Da war, zum Beispiel, ein gewisser missionarischer Anspruch, eine Flucht ins Schreiben, die Kirche nicht im Dorf lassen können. Tagsüber stand er hinter dem Schalter einer kleinen Bankfiliale, aber in den Nächten tippte er religiöse Verse ab, die er per Matrize vervielfältigte. Dann versandte er sie an die Evangelische Landeskirche im Rheinland, Abt. Predigt u. Seelsorge.

Andreas Laudert, Der geneigte Mensch

 

Übersetzen als Beruf: Wie wird man literarischer Übersetzer? Wenn dazu, neben sprachlicher Kompetenz und Fantasie, auch Alltagserfahrung nützlich ist, so fehlte es daran im Lebenslauf von Jacek Buras am allerwenigsten. Nach der Rückkehr aus Wien und dem Germanistikstudium in Warschau hätte er zwar gerne eine Doktorarbeit über deutsche Barockliteratur geschrieben und versucht, eine akademische Laufbahn als Literaturwissenschaftler einzuschlagen. Da er sich aber im März 1968 an den studentischen Demonstrationen gegen die repressive und antijüdische Politik der damaligen Machthaber in Polen beteiligt hatte, wurde ihm die Assistentenstelle verweigert und die Zulassung zur Promotion verwehrt.

Hans Altenhein, Literarischer Transfer

 

Die Bewunderung hat die Fähigkeit, den Abstand zu überwinden, den sie geschaffen hat. Bewunderung ist Liebe. Keine Bewunderung ohne Liebe: Abstand, aber aufgehoben. Die Fähigkeit zur Bewunderung macht die Menschen bildsam. Sie können ihre Gewohnheiten aufweichen und noch einmal unfertig werden. Bewunderung ist die Chance, über sich hinauszukommen. Sie schafft Vorbilder und setzt Nachahmung frei.

Hannes Böhringer, Spott und Bewunderung

 

Unser Kunsterziehungslehrer, ein akademischer Bildhauer, hat uns von seiner Zeit in Paris erzählt, wie er seinen Helden Alberto Giacometti aufgesucht und der ihn empfangen habe. Er zeigte Dias der berühmten Skulpturen von mageren Menschen und Tieren: den Mann, der über einen Platz schreitet, gegen den Regen. Den Hund mit dem tief durchhängenden Rücken. Giacomettis Skulpturen verschmolzen in meinem Hirn mit dem Bild des Storchs in der Wiese. Eigentlich, so dachte ich mir, hat er immer nur einen Storch modelliert, seine Figuren schwanden ihm unter den Fingern auf diese eine schmale Gestalt, immer und immer wieder.

Günter Hack, Heimat der Störche

 

Manchmal sehe ich aus der Ferne, auf der Straße von hinten, ältere Frauen mit Körperbau, Frisur und Haarfarbe meiner Mutter, und ein paar Augenblicke lang bin ich fest davon überzeugt, dass meine Mutter doch nicht tot ist, sondern heimlich ein paar Tage in meiner Stadt verbringt, ohne mich zuvor darüber in Kenntnis gesetzt zu haben. Leicht beleidigt beschleunige ich in diesen surrealen Fällen meinen Schritt, um das in meinem Viertel herumirrende Mutterbild etwas näher in Augenschein zu nehmen. Dann ist es aber natürlich doch nur irgendeine ältere Frau mit Körperbau, Frisur und Haarfarbe meiner Mutter, die ihr überhaupt nicht ähnlich sieht und mir auch keine geheimen, verschwörerischen Blicke zuwirft, um Reinkarnationsfantasien in mir aufkeimen zu lassen.

Stephan Herczeg, Journal (XV)

MERKUR Jahrgang 68, Heft 781, Heft 06, Juni 2014
94 Seiten, broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Martin Nettesheim, Friedrich Kießling, Carlos Spoerhase, Edith Lynn Beer, Daniel Scholten, Sebastian Conrad, Martin Zimmermann, Annette Vowinckel, Andreas Laudert, Hans Altenhein, Hannes Böhringer, Günter Hack, Stephan Herczeg,


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