MERKUR

Heft 07 / Juli 2011

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Aus dem Juliheft 2011, Nr. 746

Die Vernachlässigung des Städtebaus ist der wichtigste Grund für das weitverbreitete Unbehagen über die Baukultur in unserem Land. Die charakteristische Siedlungsform der Moderne und Nachmoderne ist die "Zwischenstadt", also die Mischform, die weder Stadt noch Land ist, sondern Einzelbauten locker in die Landschaft streut. In der Zwischenstadt gibt es keine Außenräume mehr, die durch lesbar gestaltete Innenwände eingefasst wären. Es gibt nur zerfranste Resträume, wo Gras wächst und Autos parken. Vor fast fünfzig Jahren wurde dies für die "Unwirtlichkeit unserer Städte" verantwortlich gemacht. Dennoch sind die Zwischenstädte mit ungebremster Wucht weiter gewachsen und haben sich inzwischen zu einem flächendeckenden Siedlungsbrei vereinigt. Nun, da die Landschaften zugebaut sind, stellen wir fest, dass diese Siedlungsstruktur definitiv nicht nachhaltig ist. Die Agglomeration wird zusammengehalten durch ein exzessives Aufkommen an motorisiertem Individualverkehr. Die Wege sind zu lang geworden, um noch zu Fuß oder mit dem Fahrrad bewältigt zu werden, die bauliche Dichte ist zu gering für die Erschließung mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Lebenssaft der Zwischenstadt ist das billige Öl, ihr Atem ein unverantwortlich hoher Ausstoß an Kohlendioxid. Was ansteht, ist eine Redimensionierung der Städte im Zeichen der "walkable city". Alle Überlegungen einer nachhaltigen Siedlungsstruktur laufen auf eine kompakte Stadt hinaus. Allerdings sind die Überlegungen, wie eine Rekompaktifizierung anzustellen wäre, nicht weit gediehen. Es wäre ja nicht damit getan, hier und da aufzustocken und anzubauen. Vielmehr wäre mit einer punktuellen Nachverdichtung die nächste städtebauliche Katastrophe programmiert. Was ansteht, ist ein gründliches Durchdenken des Organismus, den der Stadtkörper darstellt.

Georg Franck, Die urbane Allmende

 

Die Geschichte der Geschichtsschreibung hat nicht nur einen ungeheuren Erkenntnis-, sondern einen nicht minder bedeutenden Formenreichtumhervorgebracht. Die Spannbreite der Zugänge und Methoden spiegelt die Komplexität der Welt wider, auf die sich Geschichtsschreibung einlässt. Sie entfaltet sich nicht nur in Genres und Spezialuntersuchungen, in Einzelforschungen und Synthetisierungsanstrengungen, Epochendarstellungen und Mikrostudien, Institutionen- und Geistesgeschichten, Biographien und Sozialgeschichten, und ihre Vitalität zeigt sich in einer unentwegten Verschiebung von Perspektiven und Neuerschließung oder Neubewertung von Quellen. Demgegenüber scheint die Arbeit mit dem Formenreichtum historischer Erzählung fast zweitrangig, so als könnte das Was vom Wie getrennt werden. Könnte es nicht sein, dass die Art und Weise, wie wir über das 20. Jahrhundert sprechen, hoffnungslos zurückgeblieben ist gegenüber dem, was sich ereignet hat? Könnte es sein, dass wir noch immer an den Formen des Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts uns orientieren, wo wir längst in die Abgründe des 20. katapultiert sind? Und könnte es nicht sein, dass wir in einem Schematismus befangen bleiben, der uns daran hindert, den Abenteuern und Abgründen, die wir doch ausgemacht haben, eine angemessene Sprache zu geben? Vieles spricht dafür, dass die Neigung, sich auf "Haupt- oder Sonderwege" zu fixieren, dass die Sucht, alles auf den Begriff bringen zu müssen, nicht bloß forschungslogische Gründe hat, sondern zutiefst in einem Sicherheitsbedürfnis des historischen Betriebs begründet ist, der zu glauben scheint, dass sich die chaotische Unübersichtlichkeit des geschichtlichen Tumults durch Modelle und Begriffe bändigen ließe.

Karl Schlögel, Narrative der Gleichzeitigkeit

 

Einen von ihm 1988 herausgegebenen Sammelband über das Denken nach Auschwitz nannte Dan Diner Zivilisationsbruch, und im Vorwort zitierte er Hannah Arendts Sätze aus dem Jahre 1943: "Aber dies ist ganz anders gewesen. Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet. Weil man die Vorstellung gehabt hat, alles andere hätte irgendwie noch einmal wieder gut gemacht werden können, wie in der Politik ja alles einmal wieder gut gemacht werden kann. Dies nicht. Das hätte nie geschehen dürfen." In den Beiträgen des Bandes ging es um den Einfluss, den Auschwitz auf das Denken deutscher Juden − Theodor W. Adorno, Günther Anders, Hannah Arendt, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse, Franz Neumann und Walter Benjamin − geübt hatte, und so gewann der Titel seinen Sinn: den deutsch-jüdischen Denkern war ihre Zivilisation zerbrochen. Eine Katastrophe hatte Arendt mitten im Weltkrieg die Sprache verschlagen, und hierin lag einer der Gründe für die spätere Vielstimmigkeit der Postmoderne. 1979 hatte Jean-François Lyotard die großen Erzählungen der Aufklärung und des Idealismus für gescheitert erklärt, den Pluralismus der Narrative an ihre Stelle gesetzt und damit einen universalen Verlust angezeigt: Es gab keine allgemein verbindliche, richtungweisende Wahrheit mehr. Man mochte es Zivilisation nennen oder Moderne, gemeinsam war ihnen ein Untergang, und der Rückblick macht es sichtbar. Mit den achtziger Jahren ging die Nachkriegszeit zu Ende, und die Erinnerung an den Krieg stand nun zur Disposition. Im Historikerstreit meldeten sich konkurrierende Narrative an, die man bisher nicht vernommen hatte, und Diners Sammelband war zugleich das Requiem für die letzte Generation eines deutschen Judentums, das es nie wieder geben würde. Nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die Juden war es eine Wende. In den Jahrzehnten seit dem Kriegsende lebten in Westdeutschland eine konstante Zahl von etwa dreißigtausend meist aus Osteuropa eingewanderter Juden, die eine überalterte Gemeinde bildeten. Nach der Wiedervereinigung stieg diese Zahl sprunghaft an und ist heute auf das Zehnfache gewachsen; das ist jedoch keine Wiederauferstehung der von Hitler zerstörten Welt, sondern die Folge eines politischen Kalküls. Die auseinanderbrechende Sowjetunion gab ihre Juden frei, und die Bundesregierung nutzte die Gelegenheit, um sie nach Deutschland einzuladen. Die Entscheidung war sicherlich gut gemeint und hatte ihren moralischen Wert, sie warf aber auch Fragen an ein deutsch-jüdisches Selbstverständnis auf, das sich durch die rasanten demographischen Veränderungen überfordert sehen musste. Einige literarische Texte, in den Jahren der Wende entstanden, werfen Licht auf diese Fragen. Die heterogene Herkunft ihrer Autoren zeigt bereits, wie schwierig es in dieser Zeit des Umbruchs geworden ist, eine deutschjüdische Identität auszumachen: Maxim Biller, Sohn russischer Eltern, kam 1960 in Prag zur Welt und wanderte 1970 in die Bundesrepublik ein; Irene Dische, 1952 in New York geboren, lebt in Berlin und Amerika, sie schreibt auf Englisch und ist jüdischer Abstammung, wuchs aber als Katholikin auf; und Robert Schindel ist kein Deutscher, sondern Österreicher − das deutsche Judentum, das hier noch einmal in den Blick kommen soll, hat nicht nur in Preußen, sondern auch in den Ländern der Habsburgermonarchie gelebt.

Jakob Hessing, Fluchtpunkte

 

Freitag, 16. August, Neuruppin

Ich habe die Lage nicht richtig verstanden: Am Seeufer hat sich eine Horde Jugendlicher versammelt, boys and girls, die freundlich zuschauen, wie der Hund ins Wasser steigt. "Cocker sind Jagdhunde", kommentiert einer fachmännisch. Weshalb einer der Boys, dunkelhaarig und -äugig, knapp an der Böschung vor dem Wasser steht, sich die Wange hält mit schmerzverzerrtem Gesicht, geheult zu haben scheint; dass er mich, der ernst und zweifelnd, vielleicht sorgenvoll ihn anschaut, verzweifelt fixiert, diese Aufforderung entgeht mir. Wir gehen weiter, und allmählich schwindet mein Unbehagen und Schuldgefühl, als Kathrin ruft: "Jetzt haben sie ihn ins Wasser geschmissen!" Das sehe ich noch fragmentarisch, wie sein dunkelrotes T-Shirt von seinem Standplatz verschwunden ist, platsch. Kathrin rennt zurück und beginnt wütend zu schimpfen, "ihr Feiglinge, was macht ihr da mit dem Jungen?!". Außerdem läuft mit erheblicher Geschwindigkeit ein schwerer Mann von Mitte fünfzig über den Platz und hat zu brüllen begonnen. Die Horde lässt sich leicht auflösen. "Ich war es nicht", versichert ein kleinerer Junge, und ein anderer beginnt dem Mann zu erzählen, wie der verprügelte Bursche hier zu angeln versuchte, wie die Horde ihn einkreiste und ihm Hiebe ins Gesicht verpasste und ihn schließlich in den See warf. "Ich beobachte euch schon eine ganze Weile!", brüllt der Mann, der ein weißes Arbeitssakko trägt und vermutlich dort hinten in einem Laden arbeitet, bei dem es sich wohl um ein Maler- und Farbengeschäft handelt. "Haut ab hier! Verschwindet!" Er zittert vor Empörung. Kathrin hat sich des nassen Jungen angenommen. Sie zückt ihr Portemonnaie und gibt ihm Geld, zwanzig Mark, wie sie mir später erzählt. Er möge doch unbedingt gleich nach Hause gehen. Der Junge nickt. Der dicke Mann nimmt ihn "unter seine Fittiche", und sie gehen entschlossen in die Stadt zurück. Der kleinere Junge, der dem Mann die Geschichte erzählt hat, geht hinterher; er scheint mit dem Angler zusammenzuhängen. Die drei sehen nicht mehr, was sich in ihrem Rücken entwickelt. Die Horde hat sich, vom Angeschrienwerden leicht eingeschüchtert, in Richtung der Stadtmauer, wo Bäume und Büsche sie ein wenig verbergen können, zurückgezogen. Dort reorganisieren sie sich. Insbesondere ein großer Blonder, schon sechzehn, während die anderen noch vierzehn sind, schickt sich an, die Verfolgung wieder aufzunehmen. Später stellen wir ausgiebig Spekulationen über ihn an: dass er sich, vielleicht wegen einer abgebrochenen Schulkarriere, zum Häuptling dieser Horde gemacht hat; dass er, weil es hier um die Quelle allen verbliebenen Selbstgefühls geht, unmöglich die Niederlage hinnehmen kann. Er kommt nicht weit, obwohl er sich große Mühe gibt, den Entschlossenen zu machen, den niemand aufhält. Der Junge "mit der schönen Haut" (Kathrin), der sich vorhin fachmännisch über Cockerspaniels äußerte und die Adjutantenrolle bei dem Häuptling inne hat, umtänzelt ihn lächelnd und versucht ihn von dem neuerlichen Angriff abzubringen, "lass ihn! Was willst du denn noch?". Er umklammert ihn, spielerisch, er versucht nicht, die Kräfte zu messen, und hat endlich Erfolg. Dass ich nebenher gehe und die beiden beobachte, wird seine eigene Wirkung tun. Kathrin wird die restliche Zeit dieses Ausflugs nach Neuruppin und bis in die halbe Nacht hinein von der Geschichte verfolgt. "Ein Kind wird geschlagen." Dass Jungs so etwas anstellen, sagt sie, weiß man. Aber dass sie es in aller Öffentlichkeit tun, muss sich aus der Anomie des Beitrittsgebiets erklären. Immerhin, in der Gestalt des dicken Mannes mit der weißen Jacke hat ein Einheimischer eingegriffen.

Michael Rutschky, Meine deutsche Frage

 

Wie man Heimat bewahrt, lässt sich wissenschaftlich und rechtlich nicht exakt beschreiben. Dennoch muss das Eintreten für Bewahrung von Heimat im Rahmen einer Bürgerbeteiligung ernst genommen werden, aber nicht dadurch, dass diejenigen, denen Heimat wichtig ist, einen anderen Grund, vor allem aus dem Bereich Natur, vorschieben, damit eine Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit eines Bauvorhabens möglich wird. Vielmehr muss bei den Emotionen geblieben werden: Es besteht die große Herausforderung, positive Emotionen hervorzurufen, die mit einem Bauvorhaben verbunden werden können. Dies ist bei vorangegangenen Systemwechseln gelungen. Im Zusammenhang mit der Vernetzung von Stadt und Land im 19. Jahrhundert kam das Ideal des Dorfes so gut zur Geltung wie zu keiner anderen Zeit, und der Wohlstand der meisten Menschen mehrte sich. Das schuf Akzeptanz in der Bevölkerung: In erstaunlich kurzen Zeiträumen gelang es damals, die Eisenbahn als ein neuartiges Verkehrsmittel zu etablieren und Strecken zu verlegen, die Tausende von Kilometern lang waren. Bürgerbeteiligung sollte also als Chance verstanden werden, mit der man gemeinsam eine neue Zukunft erreichen kann. Aber in deren Zentrum dürfte dann gerade nicht die Konfrontation stehen, sondern das Bemühen um gegenseitiges Verstehen, um Aufklärung, um das Wecken von Verständnis, gerade auch für systemische Zusammenhänge, in denen unsere Umwelt zu jeder Zeit stand und auch heute steht. Umwelt ist keine Gegenwelt, sondern im Lauf der letzten Jahrtausende immer maßgeblicher von Menschen gestaltet worden. In ihr bestehen Landschaften, die von Natur, menschlicher Nutzung und Ideen oder Metaphern abhängig sind. Wenn die Nutzung verändert wird, entstehen neue Landschaften. Gerade bei einem Übergang von einem Umwelt- oder Landschaftssystem auf ein anderes sollte man auch neugierig sein auf das Neue. Vor allem aber ist das kulturelle Ziel zu verfolgen, ein neues System von Umwelt und Landschaft so aufzubauen, dass wir auch in Zukunft genauso gut oder vielleicht sogar besser leben werden als im System der Gegenwart. Eine gute Bürgerbeteiligung kann dazu beitragen; wir brauchen Experten dazu, die Bürger beteiligen, und Bürger, die bereit sind, auf Neues einzugehen.

Hansjörg Küster, Ökologiekolumne

 

Manche der großen Themen von öffentlichem Interesse, zu denen Historiker jenseits aller fachinternen Richtungskämpfe etwas beizutragen hätten, sind leicht identifiziert: das Verhältnis religiös geprägter Gesellschaften zueinander, insbesondere das von christlicher und islamischer Welt; die Geschichte des Kapitalismus, auch die seiner verschiedenen Spielarten, im Horizont globaler Expansions-, Transfer- und Abwehrprozesse; die Aufklärung und ihre Weltwirkungen bis heute; die wechselnden Herausforderungen durch Umweltkrisen und die Veränderung von Umweltbewusstsein; Voraussetzungen und Folgen von Revolutionen und Bürgerkriegen; Weltordnungsmodelle in Theorie und Praxis und die Dialektik von Ordnung und Unordnung (vor allem "failed states"); die Entwicklung kultureller Globalisierung mit einem besonderen Blick auf Medientechnologien und die weltweit operierende Kulturindustrie; die kulturelle Autorität von Wissenschaft und Expertentum und ihre politischen Konsequenzen ("Verwissenschaftlichung des Sozialen"). Manche alten Themen treten in den Hintergrund, andere werden wiederentdeckt und neu definiert. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Industrielle Revolution. Man hatte sie fast schon vergessen und ins Abiturwissen weggepackt, denn es schien ja alles klar zu sein (und so klar und simpel ist es immer noch für Ian Morris): In England erfanden einige kluge Köpfe nach etwa 1760 die Dampfmaschine, und bald ratterten die Baumwollspinnmaschinen, schnaubten die Dampfschiffe und keuchten die Eisenbahnen. Großbritannien wurde ein reiches Land (mit Ausnahme der Industriearbeiter) und beherrschte etwa ein Jahrhundert lang Weltmeere und Weltmärkte. Die Kontinentaleuropäer und Nordamerikaner, später auch die Japaner, schauten sich das eine Weile an und machten es dann nach. Aus der einmaligen Industriellen Revolution wurde eine breite Industrialisierung. Um 1890 war die Welt ins Industriezeitalter eingetreten. Wer bis dahin den Sprung zu den neuen Technologien nicht geschafft hatte, war dazu verurteilt, in kolonialer oder halbkolonialer Abhängigkeit zur späteren "Dritten Welt" zu werden. Dieses konventionelle Bild ist aus unterschiedlichen Richtungen angefochten worden.

Jürgen Osterhammel, Geschichtskolumne

 

Domenico Losurdo ist ein Autor von gespenstischer Produktivität. Allein die umfangreichen Monographien des an der Universität Urbino lehrenden, 1941 geborenen Philosophiehistorikers zu Kant, Fichte, Hegel, Marx, Lukàcs und Gramsci würden für mehr als eine akademische Karriere reichen. Angesichts des Umstands, dass seine Referenzautoren bevorzugt dem Umfeld des Deutschen Idealismus und seiner engeren Filiationen entstammen, ist die Spannweite der Themen, die er aus dieser Perspektive in den Blick bekommt, kaum weniger erstaunlich. Losurdo, seit fast zwanzig Jahren Mitherausgeber der marxistisch ausgerichteten philosophischen Halbjahresschrift Topos, hat umfangreiche Beiträge zur deutschen Revisionismusdebatte verfasst, eine Geistesgeschichte des Liberalismus, eine Stalin-Biographie, eine vergleichende Bilanz der Revolutionen in Russland und China, er hat Bücher über Universalismus und Ethnozentrismus geschrieben und über Heidegger als Ideologen des Krieges. Zuletzt ist in Italien eine Ideengeschichte des Gewaltverzichts von Tolstoi bis zum Dalai Lama erschienen. Dass er nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als kämpferischer Linksintellektueller ein unermüdlicher Arbeiter ist, beweist Losurdo in seinem Weblog, in dem er das aktuelle politische Weltgeschehen regelmäßig ebenso ausführlich und ingrimmig kommentiert wie die Reaktionen seiner Leser. Was seine geistes- und ideologiegeschichtlichen Arbeiten besonders auszeichnet, sind eine unaufgeregt konzentrierte, auf jeden akademischen Theaterdonner verzichtende Prosa, stupende Quellenkenntnis und argumentative Gründlichkeit. Am eindrucksvollsten führt er diese Tugenden in seinem bisherigen Opus magnum vor, einer zweibändigen Nietzsche-Monographie, mit der er den ambitionierten Versuch unternimmt, die gesamte intellektuelle Entwicklung des Philosophen vom Frühwerk bis zu den späten Fragmenten mit einer kritischen Bilanz seines Denkens zu verbinden. Das Buch, 2002 in der italienischen Erstausgabe erschienen, stieß fast durchgehend auf wohlwollende bis begeisterte Resonanz. Selbst zurückhaltendere Rezensenten billigten Losurdo zu, ein Standardwerk vorgelegt zu haben. So viel geballte Sympathie für ein immerhin gut tausendseitiges, in strengem Ernst vorgetragenes philologisches Exerzitium ist angesichts der unübersehbaren Fülle weit kurzweiligerer Sekundärliteratur erstaunlich.

Christian Demand, Size matters

 

Der Wirtschaftswissenschaftler Edward Glaeser von der Harvard-Universität ist einer der einflussreichsten Stadttheoretiker in den USA, und das zu Recht. In seinen wissenschaftlichen Abhandlungen, seinen häufigen Beiträgen in der New York Times und in Essays für Zeitschriften wie The New Republic und City Journal beschäftigt sich Glaeser auf kreative Weise mit wichtigen Fragen wie "Sind Bürgermeister wichtig?", "Lässt sich der Immobilienboom durch billige Kredite erklären?", "Wann sind Ghettos schädlich?". Er schreibt lebhaft und vermag die Dinge aus einem neuen, überraschenden Blickwinkel zu betrachten. Und soeben ist Glaesers ungeduldig erwartetes neues Buch erschienen. Für diejenigen, die Glaesers Werk nicht kennen, wird Triumph of the City als willkommene Einleitung dienen. Für diejenigen unter uns, die bereits seine begeisterten Leser sind, bietet es etwas anderes: eine Gelegenheit, Glaesers Gedanken als ein zusammenhängendes Ganzes zu sehen, was einen Denker zum Vorschein bringt, der sich auch von großen Namen nicht einschüchtern lässt, Jane Jacobs zum Beispiel, der ikonischen Stadttheoretikerin des 20. Jahrhunderts. Seit dem Erscheinen von Death and Life of Great American Cities im Jahre 1961 sahen Politiker, Stadtplaner und Wissenschaftler die Stadt mit Jacobs´ Augen. Ihre Feier des "Ballets" des Straßenlebens, ihre Bewunderung vielfältig strukturierter Stadtviertel mit Nutzungsmischung und Wohnverdichtung und ihre Aversion gegen "Monotonie" sind alle Teil einer gemeinsamen Idee der "guten" Stadt geworden. Glaeser bietet auf der Grundlage der Stadtökonomie eine andere Sicht, und sein Thema ist umfassender als das von Jacobs. Sein Buch diskutiert neben anderen Orten Bagdad, Detroit, Rio de Janeiro, Chicago, Bangalore, San Francisco, London, Mumbai, Paris, Singapur, Houston, Tokyo, Dubai, Atlanta, Vancouver und Hongkong. Es ist zugleich ein weit ausholendes Geschichtswerk, eine Darstellung des Aufstiegs der Stadt im Verlauf der Menschheitsgeschichte. Aber er kommt immer wieder auf Manhattan zurück. Das überrascht nicht, ist Glaeser doch im eigentlichen wie im übertragenen Sinne ein Kind Manhattans, wo er in den siebziger Jahren aufwuchs. (Sein Vater war Architekt, der Hitlers Drittes Reich in Berlin durchmachte und dann das Mies van der Rohe-Archiv in New Yorks Museum of Modern Art leitete.) Wie Jacobs´ zum Klassiker gewordenes Buch besingt auch Triumph of the City die Vorzüge einer bestimmten Art von Stadt − und warnt vor bestimmten Gefahren. Aber Glaesers Rezept für die Stadt unterscheidet sich von dem Jacobs´. Ist es nach drei Generationen für Stadtplaner, Politiker und Stadtaktivisten an der Zeit, sich einer marktfreundlicheren Politik zuzuwenden?

John Buntin, Der Triumph der Stadt

 

Zeremoniell betrachtet, kennt das Sammeln drei verschiedene dramatische Stadien: Es vollzieht sich im Erwerb, im Arrangement sowie im Zeigen der Objekte. Das sind jeweils verschiedene Schauplätze sozialen Handelns − und manchmal, was für das Sammeln nicht untypisch ist, auch asozialen Handelns. Der Erwerb kennt viele Formen, sowohl technisch wie ökonomisch: Suchen und Finden gelten als seine normale kulturelle Motorik, aber nicht zwangsläufig in dieser Reihenfolge. Denn manchmal entsteht und wächst eine Sammlung, weil man etwas findet, ohne dass man es gesucht hat. Ohnehin kann man viele Dinge, die sich zum Sammeln eignen, gar nicht suchen, sondern nur durch Zufall aufgreifen. Es setzt freilich eine gewisse Sensibilität voraus, dass einem Dinge ins Auge fallen, ohne dass man nach ihnen gesucht hat, oder dass sie sogar scheinbar selbständig, also magisch, dafür sorgen, wahrgenommen zu werden. Sammleranekdoten ranken sich gerne um dieses Moment unvermuteter Begegnungen, die sich in der Tat so ausnehmen können, als hätten die Dinge sich ihren Sammlern bemerkbar machen wollen, gleichsam nach ihnen gerufen, und diese sich dann nur noch umdrehen müssen. Gerade dann lässt es das Sammeln als besonders dramatisch erscheinen, wenn man Dinge nicht erwerben kann, nachdem man sie auf diese Weise gefunden hat. Die Abenteuer des Erwerbs machen auch einen eminent sozialen Anteil dieser Obsession aus, zumal für Verkäufer und Käufer, für Konkurrenten oder Neider. So hat Honoré de Balzac in seinem Sammlerroman Cousin Pons behauptet, dass Sammler eine bestimmte Form des Erwerbs den anderen vorzögen, dass nämlich gerade im Tauschhandel das "unaussprechliche Glück der Sammler" liege − was ich übrigens nicht glaube: Wie öfters in seinen Romanweisheiten neigt Balzac auch beim Thema Sammeln zu apodiktischen Übertreibungen. Aber ohne Zweifel ist das Sammeln auch deswegen ein der Geldwirtschaft entzogenes Residuum, weil Tausch eine durchaus verbreitete Form des Erwerbs oder Veräußerns ist. Das ökonomisch Rätselhafteste am Erwerbsverhalten von Sammlern ist jedoch, dass sie meist Dinge suchen, die sie in der einen oder anderen Form schon besitzen; und das ist, könnte man sagen, eine entgrenzte Vorratshaltung und verleiht dieser Zeremonie eine Nähe zu Formen des entgleisten Konsumverhaltens, zumal zu den besonders tragischen Fällen, wenn Menschen in einer offenbar durchaus nicht seltenen Hilflosigkeit nicht mehr in der Lage sind, sich ihres Mülls zu entledigen und sich in der eigenen Wohnung schließlich nur noch durch Maulwurfgänge zwischen den aufgehäuften Schlacken ihres Konsums bewegen können.

Walter Grasskamp, Entgleiste Vorratshaltung

 

Gibt es eigentlich eine neuere Architektur, die nicht in mehr oder minder direkter Traditionslinie des Rationalismus steht? Sich nicht nur graduell und im Maß der qualitativen Durcharbeitung von dessen kategorialen Vorgaben der Typisierung, Abstraktion und baukörperlichen Einfachheit unterscheidet? Wo sind die Architekturen, die mit bauplastischem Schmuck offensiv hantieren, die Fensterbedachungen und Faschen, Gesimse und Prellsteine, selbstbewusste Risalite und Bossierungen verwenden oder individuell auf die jeweilige Situation und den Kontext antworten? Gewiss, da tauchten in der letzten Dekade die von David Chipperfield so genannten "Wow-Architekturen" der turbokapitalistischen Finanzspekulation auf, die Signature-Buildings und Eye-Catching-Designs. Als Kronkorken oder Kapselheber, als Gurke oder Bleistift traten sie an, als Maiskolben und Segel, geknickte Giraffe oder aufgesteckter Baumkuchen mit Zuckerringen, gar als Wolke, selbst wenn man von ihr nur Stahl sieht. Sie pflanzten sich in Dubai und Shanghai, Peking, London, New York, sogar in München und Hamburg und anderswo auf. Nur Berlin blieb bislang frei von solchen Extravaganzen. Der Berliner Architekturtheoretiker Fritz Neumeyer hat diese Gebäude präzise als "Ornamente ohne Architektur" bezeichnet und damit den Bogen zum frühen Ornamentverbot des Rationalismus zurückgeschlagen, dessen überdrehte Rache sie sind. Und mögen sie auch manchem ästhetisch scheußlich erscheinen oder im Verhältnis von materialem Aufwand und beabsichtigtem Effekt ans Irrationale oder gar Absurde grenzen, so folgen sie gleichwohl nicht nur einer technischen und konstruktiven, sondern auch einer wirtschaftlichen und kulturellen Rationalität. Nur dass diese eben nicht die Rationalität ist, die aus dem Grund der Urbanität, sondern nur aus dem Wirbel der globalisierten Finanzteilchen spricht, könnte man einwenden. Und damit Recht und Argumentationsboden gewinnen. Doch bei Lichte betrachtet sind diese Gebilde bloß Rüschen am Kleid der rationalistischen Architektur, das unsere Epoche sich angelegt hat. Die übelsten Auswüchse des Großornamentgeschwurbels scheinen mit dem Fallieren der überdrehten Finanzindustrie ja auch schon wieder aus den Portefeuilles der Immobilienentwickler und Investorenfonds zu verschwinden − zumindest vorübergehend. Allenthalben ergeben sie keine breite Tendenz, sondern bleiben Ausrufezeichen, wie sie auch sonst in Texten vereinzelt auftauchen. Die breite Masse des zeitgenössischen Bauens ist von ihnen nicht infiziert. In Wirklichkeit hat der Rationalismus lange schon obsiegt, eigentlich seit er seinen historischen Sparringspartner und Gegner verloren hat, die gründerzeitliche Stadt und ihre feine Architektur, den Historismus und weiland auftretenden Expressionismus; wohlgefällig gedenken wir noch des Jugendstils. Gegen sie hatte er sein Vernunftargument der architektonischen Reduktion und Einfachheit, der Abstraktion und Kargheit in Anschlag gebracht, und dabei auf Geometrie und Typisierung gesetzt. Der Rationalismus verdrängte die reformwillige Architektur der verhaltenen Weiterentwicklung, die sich im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts zeigte und wurde zur architektonischen Moderne schlechthin.

Gerwin Zohlen, Ein Lob der Gewöhnlichkeit

 

Träumende sind nicht mehr als Scheinkünstler, vollständig der hochartistischen surrealen Bilderwelt der Träume ausgeliefert. Alles, was davon einer künstlerischen Gestaltung nutzbar gemacht werden soll, muss erst erinnert und gedeutet werden, wobei es ganz automatisch in andere Sinnkontexte hineinrutscht, in traumtranszendierende Bilder- und Gedankenverknüpfungen. Übrigens haben die Surrealisten selbst die Methode des freien, automatischen Assoziierens angeregt, die sie auch auf kreative Schreibprozesse übertragen wollten − eine Methode, die sie der psychoanalytischen Behandlungstechnik abschauten, in der sie das Unbewusste zutage fördern soll. Die dadurch freigesetzten flottierenden Gedanken- und Bilderströme aber bezeichnen genau ein Grundcharakteristikum des Tagtraums. Ohne den Tagtraum und spezieller unsere Phantasie rückt also kein Bild unserer Nachtträume in die Sphäre künstlerischer Gestaltung, sie sind die in dieser Hinsicht entscheidenden Medien. Ohne ihre transponierenden Leistungen können unsere Nachtträume uns zwar tagsüber beschweren oder beschwingen, aber sie öffnen keinen Weg zur Kunst. Sie bleiben, was sie sind: eine mit dem Ende des Traumes schon verflogene Scheinkunst. Wenn aber den Bildern des Nachttraums der Zutritt in die Sphäre des Tagtraums gelingt, in der sie unsere Phantasie in neuartige Verbindungen dirigiert, Verbindungen, die dann die künstlerische Praxis in einem Wahrnehmungsgebilde vergegenständlicht, dann ist den zwei Polen unserer Welt, der Außen- und der Innenwelt, ein Drittes hinzugefügt, das beide in einem Höheren vereinigt.

Friedrich Pohlmann, Wenn der Nachttraum zum Tagtraum wird


MERKUR Jahrgang 65, Heft 746, Heft 07, Juli 2011
broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Georg Franck, Karl Schlögel, Jakob Hessing, Michael Rutschky, Hansjörg Küster, Jürgen Osterhammel, Christian Demand, John Buntin, Walter Grasskamp, Gerwin Zohlen, Friedrich Pohlmann,


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