MERKUR

Heft 07 / Juli 2011

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Jakob Hessing

Fluchtpunkte . Über deutsch-jüdische Literatur

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Zitate:

Einen von ihm 1988 herausgegebenen Sammelband über das Denken nach Auschwitz nannte Dan Diner Zivilisationsbruch, und im Vorwort zitierte er Hannah Arendts Sätze aus dem Jahre 1943: "Aber dies ist ganz anders gewesen. Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet. Weil man die Vorstellung gehabt hat, alles andere hätte irgendwie noch einmal wieder gut gemacht werden können, wie in der Politik ja alles einmal wieder gut gemacht werden kann. Dies nicht. Das hätte nie geschehen dürfen." In den Beiträgen des Bandes ging es um den Einfluss, den Auschwitz auf das Denken deutscher Juden − Theodor W. Adorno, Günther Anders, Hannah Arendt, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse, Franz Neumann und Walter Benjamin − geübt hatte, und so gewann der Titel seinen Sinn: den deutsch-jüdischen Denkern war ihre Zivilisation zerbrochen. Eine Katastrophe hatte Arendt mitten im Weltkrieg die Sprache verschlagen, und hierin lag einer der Gründe für die spätere Vielstimmigkeit der Postmoderne. 1979 hatte Jean-François Lyotard die großen Erzählungen der Aufklärung und des Idealismus für gescheitert erklärt, den Pluralismus der Narrative an ihre Stelle gesetzt und damit einen universalen Verlust angezeigt: Es gab keine allgemein verbindliche, richtungweisende Wahrheit mehr. Man mochte es Zivilisation nennen oder Moderne, gemeinsam war ihnen ein Untergang, und der Rückblick macht es sichtbar. Mit den achtziger Jahren ging die Nachkriegszeit zu Ende, und die Erinnerung an den Krieg stand nun zur Disposition. Im Historikerstreit meldeten sich konkurrierende Narrative an, die man bisher nicht vernommen hatte, und Diners Sammelband war zugleich das Requiem für die letzte Generation eines deutschen Judentums, das es nie wieder geben würde. Nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die Juden war es eine Wende. In den Jahrzehnten seit dem Kriegsende lebten in Westdeutschland eine konstante Zahl von etwa dreißigtausend meist aus Osteuropa eingewanderter Juden, die eine überalterte Gemeinde bildeten. Nach der Wiedervereinigung stieg diese Zahl sprunghaft an und ist heute auf das Zehnfache gewachsen; das ist jedoch keine Wiederauferstehung der von Hitler zerstörten Welt, sondern die Folge eines politischen Kalküls. Die auseinanderbrechende Sowjetunion gab ihre Juden frei, und die Bundesregierung nutzte die Gelegenheit, um sie nach Deutschland einzuladen. Die Entscheidung war sicherlich gut gemeint und hatte ihren moralischen Wert, sie warf aber auch Fragen an ein deutsch-jüdisches Selbstverständnis auf, das sich durch die rasanten demographischen Veränderungen überfordert sehen musste. Einige literarische Texte, in den Jahren der Wende entstanden, werfen Licht auf diese Fragen. Die heterogene Herkunft ihrer Autoren zeigt bereits, wie schwierig es in dieser Zeit des Umbruchs geworden ist, eine deutschjüdische Identität auszumachen: Maxim Biller, Sohn russischer Eltern, kam 1960 in Prag zur Welt und wanderte 1970 in die Bundesrepublik ein; Irene Dische, 1952 in New York geboren, lebt in Berlin und Amerika, sie schreibt auf Englisch und ist jüdischer Abstammung, wuchs aber als Katholikin auf; und Robert Schindel ist kein Deutscher, sondern Österreicher − das deutsche Judentum, das hier noch einmal in den Blick kommen soll, hat nicht nur in Preußen, sondern auch in den Ländern der Habsburgermonarchie gelebt.

MERKUR Jahrgang 65, Heft 746, Heft 07, Juli 2011
broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Georg Franck, Karl Schlögel, Jakob Hessing, Michael Rutschky, Hansjörg Küster, Jürgen Osterhammel, Christian Demand, John Buntin, Walter Grasskamp, Gerwin Zohlen, Friedrich Pohlmann,


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