Ich habe die Lage nicht richtig verstanden: Am Seeufer hat sich eine Horde Jugendlicher versammelt, boys and girls, die freundlich zuschauen, wie der Hund ins Wasser steigt. "Cocker sind Jagdhunde", kommentiert einer fachmännisch. Weshalb einer der Boys, dunkelhaarig und - äugig, knapp an der Böschung vor dem Wasser steht, sich die Wange hält mit schmerzverzerrtem Gesicht, geheult zu haben scheint; dass er mich, der ernst und zweifelnd, vielleicht sorgenvoll ihn anschaut, verzweifelt fixiert, diese Aufforderung entgeht mir. Wir gehen weiter, und allmählich schwindet mein Unbehagen und Schuldgefühl, als Kathrin ruft: "Jetzt haben sie ihn ins Wasser geschmissen!" Das sehe ich noch fragmentarisch, wie sein dunkelrotes T-Shirt von seinem Standplatz verschwunden ist, platsch. Kathrin rennt zurück und beginnt wütend zu schimpfen, "ihr Feiglinge, was macht ihr da mit dem Jungen?!". Außerdem läuft mit erheblicher Geschwindigkeit ein schwerer Mann von Mitte fünfzig über den Platz und hat zu brüllen begonnen. Die Horde lässt sich leicht auflösen. "Ich war es nicht", versichert ein kleinerer Junge, und ein anderer beginnt dem Mann zu erzählen, wie der verprügelte Bursche hier zu angeln versuchte, wie die Horde ihn einkreiste und ihm Hiebe ins Gesicht verpasste und ihn schließlich in den See warf. "Ich beobachte euch schon eine ganze Weile!", brüllt der Mann, der ein weißes Arbeitssakko trägt und vermutlich dort hinten in einem Laden arbeitet, bei dem es sich wohl um ein Maler- und Farbengeschäft handelt. "Haut ab hier! Verschwindet!" Er zittert vor Empörung. Kathrin hat sich des nassen Jungen angenommen. Sie zückt ihr Portemonnaie und gibt ihm Geld, zwanzig Mark, wie sie mir später erzählt. Er möge doch unbedingt gleich nach Hause gehen. Der Junge nickt. Der dicke Mann nimmt ihn "unter seine Fittiche", und sie gehen entschlossen in die Stadt zurück. Der kleinere Junge, der dem Mann die Geschichte erzählt hat, geht hinterher; er scheint mit dem Angler zusammenzuhängen. Die drei sehen nicht mehr, was sich in ihrem Rücken entwickelt. Die Horde hat sich, vom Angeschrienwerden leicht eingeschüchtert, in Richtung der Stadtmauer, wo Bäume und Büsche sie ein wenig verbergen können, zurückgezogen. Dort reorganisieren sie sich. Insbesondere ein großer Blonder, schon sechzehn, während die anderen noch vierzehn sind, schickt sich an, die Verfolgung wieder aufzunehmen. Später stellen wir ausgiebig Spekulationen über ihn an: dass er sich, vielleicht wegen einer abgebrochenen Schulkarriere, zum Häuptling dieser Horde gemacht hat; dass er, weil es hier um die Quelle allen verbliebenen Selbstgefühls geht, unmöglich die Niederlage hinnehmen kann. Er kommt nicht weit, obwohl er sich große Mühe gibt, den Entschlossenen zu machen, den niemand aufhält. Der Junge "mit der schönen Haut" (Kathrin), der sich vorhin fachmännisch über Cockerspaniels äußerte und die Adjutantenrolle bei dem Häuptling inne hat, umtänzelt ihn lächelnd und versucht ihn von dem neuerlichen Angriff abzubringen, "lass ihn! Was willst du denn noch?". Er umklammert ihn, spielerisch, er versucht nicht, die Kräfte zu messen, und hat endlich Erfolg. Dass ich nebenher gehe und die beiden beobachte, wird seine eigene Wirkung tun. Kathrin wird die restliche Zeit dieses Ausflugs nach Neuruppin und bis in die halbe Nacht hinein von der Geschichte verfolgt. "Ein Kind wird geschlagen." Dass Jungs so etwas anstellen, sagt sie, weiß man. Aber dass sie es in aller Öffentlichkeit tun, muss sich aus der Anomie des Beitrittsgebiets erklären. Immerhin, in der Gestalt des dicken Mannes mit der weißen Jacke hat ein Einheimischer eingegriffen.
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