MERKUR

Heft 07 / Juli 2013

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Zitate aus dem Juliheft, Nr. 770

In Arendts Revisionsprozess geht es also nicht nur um die Angemessenheit oder Unangemessenheit des in Jerusalem gefällten Urteils, sondern des Rechts überhaupt gegenüber diesen Taten; es geht um nicht weniger als um eine Reflexion, genauer: eine Selbst reflexion des Rechts – eine Reflexion auf das Recht und seine Grenzen, aber: im Recht. Indem sie die Revision des Jerusalemer Verfahrens bis zu dieser radikalen Selbstreflexion des Rechts führt, setzt sich Arendt mithin nicht bloß, wie es zuerst schien, an die Stelle, sondern oberhalb des höchsten Gerichts. Oberhalb des höchsten Gerichts, aber innerhalb des Rechts: Das ist die paradoxe Position, aus der Arendts Buch geschrieben ist.

Christoph Menke, Auf der Grenze des Rechts

 

Vergleicht man die Rezepte von damals mit denen von heute, drängt sich der Schluss auf, dass unsere größte Innovationsbremse die theoretisch abgestützte Innovationsobsession selbst ist. Sie hat Wissenschaftler und Techniker dem Gesetz unterworfen, dass nur Höchstleistungen erbringen könne, wer den Konkurrenzkräften eines Marktes ausgesetzt sei; wo kein Markt existiert – wie in der staatlichen Forschungsförderung –, muss einer herbeisimuliert werden. Vor 1960 hatte die Organisation von Innovation genau dem gegenteiligen Prinzip gehorcht: Es galt, die universitäre und industrielle Forschung von Marktzwängen so weit wie möglich abzuschotten; wo es einen Markt gab – wie in der Industrieforschung –, musste er wegsimuliert werden. Im Zentrum dieses Prinzips stand die Idee der Grundlagenforschung.

Caspar Hirschi, Die Organisation von Innovation

 

Der Kern der Auseinandersetzung dreht sich also um die Furcht, das französische Modell der staatlich gelenkten Wirtschaftspolitik könnte funktionsuntüchtig geworden sein und in einen uneinholbaren Rückstand kommen gegenüber der deutschen Politik der Reformen und Haushaltssanierung. Das Problem der Kritiker einer allgemeinen Spar- und Austeritätspolitik liegt dann darin, dass diese zwar als unsozial gebrandmarkt wird, aber andererseits offenkundig erfolgreich ist und – durch die deutlich niedrigere Arbeitslosigkeit – auch deutlich sozialer. Aus diesem Grund gelingt es nicht, das Wirtschaftsproblem in jenes starre Links-Rechts-Schema zu pressen, wie es in Frankreich noch immer mit Vorliebe benutzt wird.

Wolfgang Matz, Die Nation oder Europa?

 

Die zweite Reaktion lässt sich – gerade auch im Blick auf die internationale Situation der Germanistik – als doppelte Klassik beziehungsweise doppelte Kanonisierung fassen. Es ist die Klassik »großer Texte, großer Autoren«: Lessing, Goethe, Kafka, Musil usw. Nahezu überlagert oder zumindest gekoppelt wird dies mit den kanonisierten Autoren der Kulturtheorie (Walter Benjamin, Giorgio Agamben, Jacques Derrida, Hannah Arendt usw.), deren Schriften als »Greatest Hits« und affirmativer Referenzrahmen gern zitiert werden. Damit schrumpft das kulturelle Archiv, und es entsteht sowohl eine (literar)historische Ahnungslosigkeit als auch eine semantische Redundanz, die dem Fach kaum zum Segen gereicht.

Jürgen Fohrmann, Weltgesellschaft und Nationalphilologie

 

Der Massenkonsum antwortete eben gerade nicht auf die Probleme der Ober- und oberen Mittelschichten, für die auch die älteren Formen der Herstellung und des Konsums von Gütern und Dienstleistungen zumindest ausreichend waren; er antwortete auf das Konsumbedürfnis der armen und wenig wohlhabenden Schichten – und, in der Tat, er machte daraus ein Geschäft. Auf die Idee, Konsumgüter gezielt für einfache Menschen herzustellen, kam zuvor schlicht niemand. Diese hatten sich selbst zu versorgen oder irgendwie durchzuschlagen. Mit der kapitalistischen Massenproduktion wurde das grundlegend anders. Über den dadurch bedingten Ramsch großer Serien mag man die Nase rümpfen; dies aber ist die einzige Möglichkeit, armen Menschen überhaupt bestimmte Güter zugänglich zu machen.

Werner Plumpe, Ökonomiekolumne

 

Egon Flaigs Motto lautet also: zurück in die attische Kleinstadtidylle oder ab nach Appenzell, komme doch heute den »Schweizer Landsgemeinden und Bürgerversammlungen« als Demokratieform »die höchste Würde zu«. Ein solches Verständnis schafft es schon gar nicht mehr zur Vorstellung einer demokratischen Stufenleiter – Parlamente und Regierungen bleiben daher in Flaigs Geschichte des Mehrheitsentscheids konsequent ausgespart beziehungsweise kommen allenfalls negativ, als Kontrastfolie vor, um den bedauernswerten Zustand unserer Demokratie zu veranschaulichen, um den Verlust an politischer Vernunft zu ermessen, unter dem wir zu leiden haben. Alles, was nicht Versammlungsdemokratie ist – also beispielsweise: Parteien mit ihrer Programmatik, Parlamentsausschüsse, Fraktionszwang, Gewaltenteilung, geheime Abstimmung –, ist damit nichts als Aberration, Stoff für das wortreiche flaigsche Klagelied über einen seit zweitausend Jahren sich vollziehenden republikanischen Niedergangsprozess.

Philip Manow, Politikkolumne

 

Mussolinis Regierungszeit, die von 1922 bis 1943 dauerte, ist größtenteils als relativ harmlos dargestellt worden. Mussolini »hat niemanden umgebracht«, sagte Berlusconi dem Spectator im September 2003. Wenn er seine Gegner in die Verbannung schickte, dann in italienische Ferienorte. Politiker wie Gianfranco Fini, dessen Karriere bei der neofaschistischen italienischen Sozialbewegung (Movimento Sociale Italiano, MSI) begann, hatten keine Probleme, unter Berlusconi hohe politische Funktionen zu erlangen; Fini war einige Jahre Außenminister. Er verkündete 1992, der Faschismus sei »Teil der Geschichte Italiens und Ausdruck ewiger Werte«. Alessandra Mussolini, Enkelin des Diktators, wurde (nachdem sie eine prominente, wenngleich nicht immer konstruktive Rolle in der postfaschistischen Politik gespielt hatte) Mitglied des italienischen Parlaments, in Berlusconis Allianz des rechten Flügels. Gianni Alemanno, der frühere Sekretär des jungen Flügels der MSI, wurde 2008 zum Bürgermeister von Rom gewählt – mit dem Wahlversprechen, illegale Einwanderer aus der Stadt zu vertreiben. Auf seine Siegesrede reagierte die Menge mit zum faschistischen Gruß erhobenen Armen und »Duce! Duce!«-Rufen.

Richard J. Evans, Küsse für den Duce

 

Längst hat die »deutsche Wissenschaft« aufgeholt, die Forschungen deutscher Politologen und Zeithistoriker zur Europäisierung füllen Bibliotheken. Die Juristen allerdings, so die These der Frankfurter Rechtswissenschaftlerin Anna Katharina Mangold, hätten die Erkenntnisse der Nachbarwissenschaften bislang kaum aufgegriffen. Weder hätten sie diese in ihre eigene Disziplin übersetzt und sich aus einer genuin juristischen Perspektive angeeignet noch hätten sie den Prozess der Europäisierung der deutschen Rechtsordnung mit Blick auf die historische Entwicklung selbst kritisch reflektiert.

Alexandra Kemmerer, Ein ernstes Manko

 

Das System unseres Prozessrechts ist bedroht durch den Deal. Er ist im angloamerikanischen Strafverfahren gang und gäbe. In Deutschland hat er sich aus ganz pragmatischen Gründen etabliert, etwa seit den siebziger Jahren, zunächst langsam und im Verborgenen, dann verbreitet und ganz offen. Es handelt sich um eine Praxis, die sich nicht verbieten ließ oder rückgängig zu machen war. Der Bundesgerichtshof hat darauf reagiert und Regeln entwickelt, die die neue Institution an das geltende Recht anpassen sollten. Das war neues Recht, erfunden und »gesetzt« von Richtern. Das ist auch eine Methode, auf veränderte Verhältnisse zu reagieren. Sie ist nur in engen Grenzen mit dem Prinzip der Gewaltenteilung vereinbar, das besagt, dass Recht nur vom Gesetzgeber eingeführt werden darf, also vom Parlament. Deshalb haben wir seit kurzem ein Gesetz über Absprachen im Strafprozess. Es ist misslungen, weil es den conflict of cultures nicht löst, sondern leugnet.

Klaus Volk, Der Wandel des Strafrechts als methodisches Problem

 

Kein Geringerer als Karl Heinz Bohrer hat vor kurzem noch einmal benannt, was häufig unter Angela Merkels Nüchternheit verstanden wird: »Die Sprache unserer Kanzlerin ist extrem banal und wird von einer Drögigkeit der schieren Faktizität beherrscht, die nur sagen kann: Die Griechen stehlen!« Im gleichen Interview lobt Bohrer seine verstorbene Frau Undine Gruenter für ihren »Lakonismus« und ihre Fähigkeit, »Sachverhalte brutal zu benennen«. Mir scheinen nun Merkels »Drögigkeit« und Gruenters »Lakonismus« gerade als Ausprägungen weiblicher Performanz enger verwandt, als Bohrer dies zu ahnen scheint.

Julika Griem, Lob der Trockenheit

 

Betrachtet man die Sache von dieser Seite, so erweist sich die Dyschronie – also die Alternativgeschichte, die in den Farben grau und schwarz gemalt wurde – eigentlich als die fröhlichere Variante. Wer eine Dyschronie schreibt, sagt damit: Es könnte schlimmer sein. Uns geht es doch gar nicht so schlecht. Stellt euch vor, was passiert wäre, wenn die Bösen (die Rassisten aus den Südstaaten, die Hitlerdeutschen, die Anhänger von Charles Lindbergh) gesiegt hätten. Wer eine Euchronie verfasst, eine »positive« Uchronie, behauptet genau das Gegenteil. Er rüttelt an den Gitterstäben seiner Gegenwart. Er will hinaus, träumt sich weit weg. Er wünscht sich eine andere Geschichte.

Hannes Stein, Nachrichten aus Niemalsland

 

Gerade an der Stelle, als Gide vor etwa hundert Jahren aus dem Fenster einer Mansardenwohnung über die Dächer von Paris in Richtung Seine blickt, klopft mir jemand auf die Schulter. Ein riesengroßer, mit hundert Kilo Muskeln bepackter afrofranzösischer Mann stellt sich mir als Clubtrainer Pierre vor und erteilt mir freundliche, sich wichtig anhörende Übungsverbesserungsvorschläge, die ich gerne komplett verstanden hätte, wenn mein aktiver französischer Grundwortschatz bereits die Karteikartensätze anatomische Muskelgruppen und horizontale sowie vertikale Bewegungsaufforderungen beinhalten würde. So lächele ich unbedarft bis dumm, während mir Pierre auf den Schulterblättern herumdrückt. Ich bedanke mich dafür und verstecke schnell die Gide-Tagebücher, für die sich der Siebzigjährige mit dem roten Muscle-Shirt aus der Ferne zu interessieren scheint. Ein Fremdkontakt pro Tag muss ausreichen.

Stephan Herczeg, Journal (V)


MERKUR Jahrgang 67, Heft 770, Heft 07, Juli 2013
broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Christoph Menke, Caspar Hirschi, Wolfgang Matz, Jürgen Fohrmann, Werner Plumpe, Philip Manow, Richard J. Evans, Alexandra Kemmerer, Klaus Volk, Julika Griem, Hannes Stein, Stephan Herczeg,


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