Zitate aus dem Augustheft, Nr. 771
Pussy Riot haben uns klargemacht, dass wir nicht die Mehrheit sind. Für manche war das ein ziemlicher Schock, für mich übrigens auch. Mir war nicht klar, wie stark der Konservatismus und reaktionäre Gedanken in der Gesellschaft dominieren. Ehrlich gesagt verstehe ich es noch immer nicht wirklich. Ich finde Pussy Riot mutig, lustig, nett, sexy und freiheitsliebend. Ihre Aktion in der Kirche war kühn und überzeugend – mal abgesehen davon, dass viele diese Kirche gar nicht als Kirche wahrnehmen. Die Jesus-Christus-Erlöser-Kirche ist noch keine zehn Jahre alt und sieht eher wie eine Shopping Mall oder ein Geschäftszentrum aus.
Oliver Carroll/Peter Pomerantsev/Artemy Troitsky, Russlands 1968?
Ein anschauliches Beispiel für das, was da vor sich geht, ist das Schicksal zweier »Leitfiguren«, die Russland als ein Land nicht sehr strenger, dafür kluger und amüsanter kulturphilosophischer Denker für die Deutschen eine Zeitlang repräsentiert haben. Zuerst, Ende der Achtziger und in den Neunzigern, war das Boris Groys – ein Kronprinz der russischen ästhetischen Avantgarde. Aber der ging irgendwann nach Amerika, und seine imagologische Funktion für die kulturelle Community in Deutschland ging an Michail Ryklin über, der aber – anstatt Antwort zu geben auf die Frage: Wie sollen wir Russland verstehen? – das Fenster von und nach Europa sozusagen mit einem großen schwarzen Quadrat vernagelt hat. Was ich menschlich sehr gut verstehen kann, und es gibt genügend rationale Gründe dafür, dass einem die Haare zu Berge stehen, doch der philosophische Gehalt des Russlandbildes, das sich aus diesem Horror speist, Horror in Potenz, trägt wenig dazu bei, Russland zu erkennen. Ryklin malt uns den Totentanz eines autoritären Regimes und nichts sonst, ausweglos und undurchdringlich.
Irina Doronina/Gasan Gusejnov, Russland und Deutschland
Die Revolutionen, die 1989 dem osteuropäischen Totalitarismus sein verdientes Ende bereiteten, wurden vorbereitet und angeführt von der antikommunistischen Intelligentsia. Die osteuropäischen Aufständischen des letzten Jahrhunderts waren Leser , stolz auf ihre literarisch-philosophische oder theologische Bildung und eher desinteressiert an den verschiedenen Formen visueller Kultur. Abstrakte Moralfragen bildeten das Thema ihrer Diskussionen, bei denen Kette geraucht und Wodka getrunken wurde. Die Fremdsprache, in der sich die Intelligentsia noch heute mühelos bewegt, war Russisch. Die Träger der color revolutions dagegen sind eine oder zwei Generationen jünger. Nennen wir sie, nach einem Titel auf Our Favourite Shop , dem 1985 erschienenen Album von The Style Council über Mode, Boheme und Revolution: Internationalists.
Stephan Wackwitz, Eine unerhörte Begebenheit
Erfolg ist ein Parvenu der Begriffsgeschichte, ein ideologischer Emporkömmling, und erst in einer Gesellschaft, in der Parvenus, Emporkömmlinge, Aufsteiger nicht mehr Ausnahmefälle sind, sondern ein gesellschaftsweit zumindest mögliches Muster beruflicher und sozialer Karrieren, ist Erfolg als attraktives und stände- oder schichtenneutrales Lebensziel überhaupt denkbar. »Erfolg« durchläuft um 1900 einen Bedeutungswandel und eine Singularisierung, ähnlich wie im 18. Jahrhundert »Geschichte« (Koselleck): nicht mehr die vielen partikularen Geschichten, sondern die Geschichte im Singular, nicht mehr Erfolge im Sinne des glücklichen Ausgangs von einzelnen Unternehmungen und Bestrebungen – also militärische, politische, künstlerische, kaufmännische und bald auch sportliche Erfolge (mit ganz unterschiedlichen Erfolgsprämien) –, sondern der Erfolg.
Rudolf Helmstetter, Viel Erfolg
People´s Park liefert entformatierte Gegenbilder, funktioniert aber vor allem als orts- und zeitspezifisch markierte dichte Beschreibung, die ein sensorisches Surplus mit sich führt. Nicht nur, weil der öffentliche Raum als lokales Wissen in einen sinnlich erfahrbaren »Filmkörper« übersetzt wird, sondern auch, sofern hier über achtzig Minuten lang eine Begegnung von Wahrnehmungsformen ins Bild gesetzt ist. Unzählige Parkbesucher blicken fragend, widerwillig, gleichgültig in die an ihnen vorbeifahrende Kamera, drehen sich weg oder produzieren eine Bewegung, eine Geste nur für sie. Die rezeptionsästhetische Immersion in diesen Zeit-Raum findet ihre Grenze in zurückgeworfenen Blicken, die aus ihm heraus führen und auf den Standort des aktuellen Beobachters, des späteren Zuschauers verweisen.
Simon Rothöhler, Filmkolumne
Während die Progressiven von sich behaupteten, entweder – wie bei Coop Himmmelb(l)au und Zaha Hadid – durch ein neues formales Repertoire den Weg zu einer neuen Gesellschaft zu eröffnen oder – wie bei Rem Koolhaas – durch kritisches Reagieren auf gesellschaftliche Ansprüche zu einer neuen funktionellen Programmatik der Architektur zu gelangen und damit indirekt auch zu neuen Formen, betonten die Minimalisten die Autonomie der architektonischen Disziplin. Statt wechselnden gesellschaftlichen Ansprüchen nachzulaufen, sollte sich die Architektur auf ihre Fundamente besinnen, auf die gute Tektonik und die Atmosphäre des Raums. Was die Gesellschaft dann aus diesem Angebot mache, sei keine Frage der Architektur, sondern der sozialen Praxis und der Politik.
Christian Kühn, Architekturkolumne
Nur wenige Wochen nach Friedrich Kittlers Tod, im November 2011, erschien dann unter dem Titel Das Nahen der Götter vorbereiten ein hermeneutischer Schlüssel zum Spätwerk, der die Kontinuität des Lebensthemas und der abendländischen Geschichte von Mathematik und Musik betonte. Kittler sprach wieder von der von ihm verehrten Rockmusik der späten sechziger Jahre, von Jimi Hendrix, Pink Floyd und Jim Morrison, und schloss sein dionysisches Erleben mit den griechischen Anfängen zusammen. Das Credo lautete: »Die Stars sind also Götter und Aphrodita herrscht wie einst.« Kittler baute die Bühnenerektionen von Hendrix und Morrison zum grandiosen Geschichtszeichen des alten Einklangs von Musik und Mathematik auf und verklärte die alten Stars zu Göttern der Liebe.
Reinhard Mehring, Friedrich Kittler als Philosoph
Max Brod ist heute vor allem als Nebenfigur der Literaturgeschichte bekannt, als Kafkas Weggefährte, der nach dem Tod des Freundes dessen Manuskripte entgegen der testamentarischen Verfügung nicht verbrannt, sondern veröffentlicht hat. Er hat auch Franz Werfel gefördert, Jaroslav Hašeks Braven Soldaten Schwejk mit einer Bühnenadaption in Deutschland durchgesetzt und Libretti für Leoš Janáček geschrieben. Doch als Schriftsteller eigenen Rechts ist er weitgehend vergessen. Dabei wurden seine Bücher bis zum Zweiten Weltkrieg viel gelesen, der Roman Die Frau nach der man sich sehnt , eine melodramatische Femme-fatale-Story, ist 1929 mit Marlene Dietrich verfilmt worden.
Christian Schröder, Die Süßigkeit des Daseins
Bevor die russischen Behörden seine Firma wegen Geldwäscherei dichtmachten, setzte sich Farnood nach Dubai ab. Als wichtigster Knotenpunkt für das Hawala -Geschäft, das Afghanistan, Tadschikistan und den indischen Subkontinent umfasste, war Dubai für ihn eine perfekte Zufluchtsstätte. Er erlangte dort auch als gerissener Pokerspieler einige Bekanntheit. Das russische Innenministerium verfolgte ihn, erreichte aber erst 2007 die Ausstellung eines Haftbefehls durch Interpol. Da war Farnood bereits der ehrenwerte Vorstandschef der Kabul Bank (und Khalilullah Ferosi, sein früherer Leibwächter, Geschäftsführer). Seine Bank hatte fast eine Millionen Kunden gewonnen, darunter 250 000 afghanische Sicherheitssoldaten und Polizisten. Es überrascht also kaum, dass das Innenministerium in Kabul den Haftbefehl von Interpol ignorierte. Wie anscheinend auch die US-Botschaft in Kabul.
Dilip Hiro, Von Enduring Freedom zu Enduring Corruption
Es ist ein soziales Gesetz, dass Familien erhebliche Anstrengungen unternehmen, um den erreichten sozialen Status in der Generationenfolge zu sichern. Hat man mehr als drei Kinder, kann man lockerer und fehlerfreundlicher an diese Aufgabe herangehen, als wenn lediglich ein oder zwei Kinder in der Familie existieren. Es war immer schon das Geheimnis von Familien aus der Oberklasse, die ähnlich wie Familien aus der Unterklasse viele Kinder haben, dass sie »schwarze Schafe« hinnehmen, die ins Kloster gehen oder Künstler werden. In der Mitte freilich reduziert sich die Kinderzahl und steigt das Investitionsbewusstsein in Bezug auf das einzelne Kind.
Heinz Bude, Das prekäre Gut der Bildung
Deutschland muss ein zutiefst merkwürdiges Land gewesen sein damals: gefangen in der Schizophrenie von hellsichtigster Geistesklarheit in den kleinen Zirkeln und groteskester Rückständigkeit im Großen und Ganzen. Hier noch die hörnerschallende, trauliche, träumerische, religiöse Romantik, wie sie Madame de Stael bei diesen klugen, doch etwas unzivilisierten Waldmenschen, den lieben Deutschen, konstatiert hatte, zugleich hervorragende Schulbildung und demnächst die Explosion der Wissenschaften, die das Land bis zum Ende des Jahrhunderts an die Weltspitze katapultierten, zugleich und daneben die Landesgrenzen und Währungsumstellungen und Zölle und veränderten Maßeinheiten alle 25 Kilometer und die kleinen absolutistischen Fürsten, die mit »Serenissime« angeredet wurden wie im tiefsten Mittelalter.
Michael Kleeberg, Mut- oder Wutbürger Büchner?
Vielleicht ist für den Neuntöter auch die Zeit höher aufgelöst als für den Menschen: der hochfrequente Herzschlag, die schnellere Wahrnehmung. Die Lebenszeit streckt sich nach innen, verzögert die Zugvogelexistenz zu einem einzigen langen Sommer. Der Neuntöter sieht mich an. Er ist nicht synchron mit mir, sondern mit seiner Beute, winzigen schnellen Insekten und Mäusen, seine Welt wimmelt von Leben aller Art.
Günter Hack, Im Zeitfeld des Neuntöters
Dass es sich sowohl bei Bachmann als auch bei Celan um nicht gerade unkomplizierte Charaktere handelt, ist hinlänglich bekannt. Auch ihr beinahe zwanzig Jahre währender Briefwechsel zeigt dies deutlich. Erster, ungerecht und überspitzt formulierter Eindruck beim Lesen: Zwei Psychos haben einander gefunden. Ständig ist einer beleidigt oder verletzt, fühlt sich ungerecht behandelt, missverstanden oder zurückgesetzt. Alles ist kompliziert, wird nicht mehr so sein wie früher, und überhaupt macht das Leben nur selten Spaß. Da man selber auch Psycho ist, findet man das alles sehr nachvollziehbar und realistisch, auch wenn man sich als nachgeborener Außenstehender etwas dafür schämt, überhaupt Einblicke in solch persönliche, intime Briefe zu erhalten.
Stephan Herczeg, Journal (VI)
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