MERKUR

Heft 09/10 / September 2011

Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind.

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Printausgabe vergriffen, Artikel als PDF erhältlich, siehe unten

Editorial . von Karl Heinz Bohrer, Kurt Scheel

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Zitate:

Zu diesem Heft

Anstoß zu unserem Thema gab Michel Foucault, nicht unbedingt ein Darling dieser Zeitschrift. In seinen 1983/84 gehaltenen Vorlesungen Der Mut zurWahrheit charakterisiert Foucault die philosophische Form, dieWahrheit zu sprechen, mit dem altgriechischenWort »parrhesia«. Dessen strukturelle Merkmale sind: Offenheit, Engagement, Risiko. Die Parrhesia entwickelt sich seit dem Denken von Sokrates und Platon bis zur kynischen Lehre: Die freie, offene Rede, ohne Rücksicht auf diemögliche Reaktion des anderen, ist das, was Foucault den parrhesiastischen Pakt nennt, und er vollzieht sich in einem Zirkel vonWahrheit und Tapferkeit.

Die Pointe der Parrhesie ist, dass sie praktisch ins Leben tritt. Das ist Foucaults wichtigster Punkt: Wahrheit als eine Form des risikoreichen Lebens selbst. Es geht amEnde also nicht bloß ums Aussprechen derWahrheit, sondern um die unumwundeneRede, wo allesÜbliche ansonsten sehr gewunden ist. Erst dadurch lässt sich von derWahrheitsrede als Mut sprechen.

In der Gestalt des Außenseiters und desNonkonformisten finden wir zeitgenössische Varianten eines solchen Kynismus. Doch wählt man die Rolle des Außenseiters? Wird man nicht vielmehr zu einem gemacht? Und wer kann sich in einem emphatischen Sinne einen Nonkonformisten nennen in einer Gesellschaft, die kaum etwas mehr fürchtet als Konformismus und in der sich nahezu jeder als Nonkonformist imaginiert? Dieses Dilemma, um nicht von Dialektik zu sprechen, ist logisch nicht aufzuheben. Aber vielleicht in einer Tat, in einem Akt sprachlichen Handelns, der keine Gewissheit darüber hat, was denn die Wahrheit sei, die es auszusprechen gilt. Der aber darauf vertraut, dass diese seineWahrheit in Gefahr steht, verschwiegen oder verfemt zu werden. Und der im Zweifel eher Unsinn spricht, als dass er sich, um des lieben Friedens willen, ins Bockshorn des nickenden Beipflichtens jagen lässt.

Die Aufforderung »Sag dieWahrheit!« bedeutet also keineswegs eine Sicherheit, dass dann auch dieWahrheit gesagt wird. Sie will auf einen existentiellen Nonkonformismus hinaus, der das Risiko des Aussprechens als Verpflichtung nimmt, nicht alsWarnung. No risk, no fun.Womit auch klar ist, dass die gängigen Meinungen durchaus die richtigen und vernünftigen und hilfreichen sein mögen, dass also diejenigen, die prinzipiell das Gegenteil behaupten, weder einen privilegierten Zugang zurWahrheit noch den Ehrentitel des Nonkonformisten für sich reklamieren können.

Nonkonformismus ist kein Geschäftsmodell. Und die »mutigen Tabubrecher «, die sich in den Talkshows dafür feiern lassen oder clever das liberale Juste-milieu in Erregung versetzen, indem sie sich als verwegene Unzeitgemäße geben und eine Lanze für den Papst, den Kommunismus oder irgendeine andere Orthodoxie (nur schrill muss es sein) brechen, diese blinzelnden Opportunisten des Zeitgeistes sind hier nicht gemeint: Sie sind, um ihr feuilletonistisches Frömmlertum aufzugreifen, eine blasphemische Verballhornung des existentiellen Nonkonformisten.

Das Heft wird eröffnet mit fünf Essays, die einen Überblick über das Thema geben und verschiedene Möglichkeiten vorführen, sich ihm zu nähern: akademisch, journalistisch, polemisch, persönlich. In der ersten Abteilung werden Typen des Außenseiters beziehungsweise Nonkonformisten vorgestellt: An ihnen wäre zu studieren, wodurch sich diese Figuren − es können historische oder fiktionale sein − als Archetypen der Verstörung und desWidersprechens ausgezeichnet haben und warumsie bis heute unsere Aufmerksamkeit, ja Phantasie fesseln. Die zweite Abteilung versammelt Beiträge, in denen der Bedeutung nonkonformen Denkens fürWissenschaft und Ästhetik, für die Psyche des Individuums und die Seele der Gesellschaft nachgegangen wird.

Das Ziel dieses Heftes wäre es, ein Manual, eine Art Graci´anisches Handorakel für den zeitgenössischen Nonkonformisten vorzulegen. Dass es keine Gebrauchsanweisung werden kann, liegt in der Natur der Sache und der Gegenwart. Aber dieUnmöglichkeit eines existentiellenNonkonformismus im Spiegelkabinett unserer liberalen und permissiven Gesellschaft bedeutet ja umso mehr, mit Trotz und Treue, und sei es nur sich selbst gegenüber, das Wagnis derWahrheit und des Freimuts einzugehen.

K.H.B. /K.S.

MERKUR Jahrgang 65, Heft 748/749, Heft 09/10, September 2011
238 Seiten, broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Peter Bürger, Jörg Lau, Jürgen Kaube, Norbert Bolz, Gustav Seibt, Karl Heinz Bohrer, Henning Ritter, Ulrike Ackermann, Karin Westerwelle, Reinhard Steiner, Gerhard Neumann, Rainer Hank, Lothar Müller, Ute Frevert, Adam Krzemiński, Siegfried Kohlhammer, Hans Ulrich Gumbrecht, Jürgen Paul Schwindt, Christian Demand, Ingo Meyer, Joachim Fischer, Michael Rutschky, Harald Welzer, Sebastian Wessels, Heinz Bude, Kurt Scheel,


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