Experten werden in Talkshows und Nachrichtensendungen zu allem und jedem befragt, Experten übernehmen die Regierungsgeschäfte, Experten werden in der Finanzkrise, bei Flugzeug- und Kreuzfahrtunglücken, von Fukushima bis Klimawandel zu Hilfe gerufen. Die Lage der Dinge scheint für den Laien in unserer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft in vielen Bereichen längst zu kompliziert. Im Gegenzug führt die Omnipräsenz der Experten allerdings auch zu ihrem Ansehensverlust, denn man wird täglich Zeuge, wie schmählich sie irren. Um die paradoxe Konstellation, die sich aus der Unverzichtbarkeit der Experten im Angesicht ihrer Überforderung ergibt, geht es im diesjährigen Doppelheft.
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Der erste Teil lotet Möglichkeiten und Grenzen von Expertise in der politischen Welt aus. Der Rechtsphilosoph Uwe Volkmann etwa zeigt, dass die repräsentative Demokratie zwar wesentlich auf Experten angewiesen ist, da selbst Berufspolitiker in den meisten Bereichen, über die sie mitentscheiden müssen, Dilettanten oder bestenfalls Semiprofessionelle sind. Um die Rationalität politischer Entscheidungen sicherzustellen, bedarf es also zusätzlichen Sachverstands von außen. Das Problem ist allerdings, dass dabei allzu leicht der Eindruck entsteht, Expertise als solche könne die Aufgaben der Politik, nämlich zwischen Handlungsalternativen zu entscheiden, gleich miterledigen. Welche Folgen es hat, wenn man dieser Suggestion erliegt, zeichnet der Soziologe Wolfgang Streeck am Beispiel des europäischen Krisenmanagements in der gegenwärtigen Finanzkrise nach. Mit Misstrauen sieht Streeck eine »neue Expertokratie« entstehen, die beauftragt sei, »dem Kapitalismus die Demokratie auszutreiben«, und fragt: »Müssen wirklich dieselben, die den Wagen an die Wand gefahren haben, als Rettungssanitäter gerufen werden? Die Böcke als Gärtner und die Brandstifter als Biedermänner? Ist das, was sie angerichtet haben, tatsächlich derart, dass nur sie es wieder entwirren können?« Ralph Bollmann gibt diesen Legitimitätsüberlegungen noch einmal eine andere Wendung, wenn er darauf hinweist, dass es gefährlich sein kann, angesichts der Bewunderung spezieller Wirtschaftsexpertise den Sachverstand zu unterschätzen, der dazu nötig ist, um im politischen Geschäft zu bestehen: »Die Formel von den ´Expertenregierungen´, die vorübergehend in Griechenland und Italien an die Macht kamen, ist deshalb sehr irreführend. Eigentlich spräche man besser von einer ´Laienregierung´, denn auf dem Feld der politischen Machterringung und -ausübung sind die in Rede stehenden Minister und Regierungschefs zumeist blutige Anfänger.«
Der zweite Teil illustriert die Doppelgesichtigkeit der Figur des Experten anhand historischer Beispiele. So berichtet der Philosoph Rudolf Burger von der grenzenlosen Fortschritts-, Planungs- und Prognoseeuphorie der 1970er Jahre. Die komplexen Theorien und Systeme, die seinerzeit große Hoffnungen entfachten, man werde die künftige Gesellschaftsentwicklung rational steuern können, präsentieren sich in der Rückschau als bizarre futurologische Kulissenwelt. Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe geht der Frage nach, wie der Eindruck entstehen kann, in der Politik sei ökonomische Expertise »unabhängig davon erwünscht, ob sie zutrifft oder nicht«. Wirtschaftsexperten, so seine Beobachtung, reüssieren in der Regel vor allem deshalb, weil ihre fachliche Rückendeckung die Zielsetzungen der Politiker, die sich ihrer bedienen, als ökonomisch möglich erscheinen lässt. Vor diesem Hintergrund ist die Sachhaltigkeit der von ihnen vertretenen Theorien nachrangig. Wenn die erwünschten Effekte nicht eintreten, werden sie ohnehin ausgewechselt, und andere Experten treten an ihre Stelle. Jürgen Kaube verfolgt die Karriere des Begriffs der Technokratie, der etwa seit Ende des Ersten Weltkriegs kontinuierlich dem Verdacht Nahrung gibt, die Demokratie sei eine Scheinveranstaltung, die tatsächliche Macht im Staate liege bei Managern und Experten. Sein überraschendes Fazit: Technokratie ist »nicht Expertenherrschaft mit Legitimationsdefizit, sondern der moderne, wohlfahrtsstaatliche Zustand der Demokratie, wenn gerade keine Kamera auf sie gerichtet ist«.
Die Frage im dritten und letzten Teil des Hefts lautet: Was bedeutet Expertise in Kunst und Kultur? Christian Demand untersucht das merkwürdige Ritual der bürgerlichen Bausündenschelte, die seit gut hundert Jahren ein eigenes publizistisches Genre bildet. Dabei geißeln die Autoren, die sich selbst als Gestaltungsexperten verstehen, mit bußpredigerhaftem Furor den »ästhetischen Analphabetismus« ihrer Zeitgenossen und überbieten sich in apokalyptischen Visionen architektonischer Verwahrlosung. Wie ändert sich die Rolle des Kritikers als Experte in Zeiten, in denen dank Internet jeder weltöffentlich Werturteile abgeben und kritikähnliche Text schreiben kann – und sehr viele das tatsächlich tun? Das ist die Frage, der Ekkehard Knörer vor allem am Beispiel der Filmkritik nachgeht und die ihn zu Überlegungen über den Stand der Diskurse im Kulturbetrieb (und darüber hinaus) führt. Rudolf Helmstetter fragt, welche Expertise eigentlich zum Autor von Lebenshilferatgeberliteratur befähigt und was man als Leser dabei geboten bekommt. Er zeigt sich fasziniert und abgestoßen zugleich von dem »operativen Optimismus«, den die meisten dieser Bücher transportieren, von dem scheinbar unerschütterlichen »Glauben an Machbarkeit, Methodisierbarkeit und Technisierbarkeit des Erfolgs und des Glücks«. Helmstetter ist im Grundton ironisch, vermeidet aber billige Herablassung, denn schließlich gilt für jeden: »Der Schatten des Erfolgs ist die Angst, keinen zu haben.«
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