MERKUR

Heft 10 / Oktober 2014

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Zitate aus dem Oktoberheft, Nr. 785

 Der öffentliche, folgenreiche und mit Risiken behaftete Gebrauch von Urteilskraft ist also ein Quellgrund für die Entstehung von Eliten. Eliten sind diejenigen, die sich der Ungewissheit, den Paradoxien und dem Zeitdruck stellen und dies aushalten. Sie stellen sich erhöhten Anforderungen im Gebrauch von Urteilskraft. Dabei sind Deutungseliten damit befasst, ein Wissen zu entfalten, das das Ungewissheitsproblem reduziert und damit Paradoxien durchschaubar sowie Zeitdruck aushaltbar macht. Entscheidungseliten profitieren davon; sie sind auf Deutungseliten angewiesen, konkurrieren mit ihnen aber immer auch um Rang und Stellung.

Herfried Münkler, Politische Urteilskraft

 

Veronese scheint, wie wir alle, zunächst in Dichotomien zu denken: männlich/weiblich, Natur/Architektur, nackt/bekleidet, aufrecht/liegend. Doch die Gegensätze leiten fast augenblicklich zu Überschneidungen über, halben Entsprechungen, Anverwandlungen. Doppeldeutigkeit scheint der Schlüsselbegriff für seine Haltung als Maler zu sein. Wir können spüren, wie die Frau in Infedeltà nach einer Balance sucht, die sie längst verloren hat. Sie hat die Männer offensichtlich in der Hand, und doch bedarf sie deren Unterstützung.

T. J. Clark, Veroneses Allegorien der Liebe

 

Ein Unternehmen kann sich zur Durchsetzung seiner Eigentumsansprüche an ein extraterritoriales Schiedsgericht für Investitionsschutz wenden. Hingegen kann ein Betroffener einer Menschenrechtsverletzung ein Unternehmen weder direkt vor internationalen Gerichten verklagen noch stehen ihm im Zivilrecht effektive Mittel zur Rechtsdurchsetzung zur Verfügung. Er bleibt auf internationale Beschwerdeverfahren verwiesen, die keinerlei Sanktionsmechanismen enthalten.

Ilja Braun, Zweierlei Maß. Investitionsschutz und Menschenrechte

 

Kann die Geschichte des Kriegs im Zeitalter der Industrialisierung geschrieben werden ohne Bezug zu Systemtheorie, Theorien der Selbstorganisation, Informations- und Kommunikationstheorie, Differenztheorie, Psychologie oder Verhaltensforschung? Die neuen Geschichten des Weltkriegs gehen von der Intentionalität persönlicher Subjekte aus, als ob die Konzeption des handelnden Subjekts in den Handlungstheorien nicht seit vielen Jahrzehnten destruiert worden wäre.

Bernd Hüppauf, Zur Wiederkehr der Kontroverse über den Ersten Weltkrieg

 

Der Zweite Weltkrieg zerstörte die meisten Gebäude des Berliner Zentrums, aber keineswegs alle und keineswegs den Stadtgrundriss und die übriggebliebene Parzellenstruktur. Diese wurden erst in der DDR-Diktatur beseitigt – aufbauend, das ist wichtig, auf den Eigentumsverhältnissen der Nazizeit, da der Raub jüdischer Grundstücke nicht rückgängig gemacht wurde. Im Rahmen der Durchsetzung sozialistischer Verhältnisse wurde der Enteignungszugriff auf Grundlage des Aufbaugesetzes von 1950 nunmehr auch auf verbliebene Privatgrundstücke ausgedehnt.

Harald Bodenschatz, Urbanismuskolumne. Die Berliner Mitte – Produkt zweier Diktaturen

 

Zeitgenössische Kunst ist nicht mehr über Stil, ein bestimmtes Idiom, über ein konsistentes Verhältnis zur Geschichte der Kunst identifizierbar und als eine Einheit bestimmbar. Sie bezieht sich auf Themen, diese Themen sind zeitgenössische Themen, sie bringt Positionen hervor, und diese Positionen können in einer Ausstellung, einer Messe, einer Biennale aufeinander treffen, ohne dass sie vorweg miteinander koordiniert worden wären. Das Museum für zeitgenössische Kunst wird gebaut, bevor es die Kunst gibt, die in ihm ausgestellt wird. Diese Kunstwerke treffen dort erstmals aufeinander, treten in einen Dialog, der seine Einheit durch die Themen erhält, die zeitgenössische Themen sind.

Rudolf Stichweh, Soziologiekolumne. »Zeitgenössische Kunst«: Eine Fallstudie zur Globalisierung

 

Es gibt in Der Schatten des Fotografen diese eingestandene Sehnsucht nach Erlösung und Unmittelbarkeit. Punktuell kommt es in Lethens Lebensgeschichte, die er hier als Geschichte von Ausstellungsbesuchen, Fotobetrachtungen, gelesenen Büchern erzählt, auch zu »hautnahen Berührungen mit der Wirklichkeit«, wie er das nennt. Von Erlösung kann aber keine Rede sein. Es bleibt beim Wechselspiel von Berührung und Distanz. Und das hat einen ganz spezifischen Grund: Den Dingen haften die »Spuren ihrer Transportwege« und die der Kontexte ihrer Entstehung immer an. Und genau das interessiert auch den sehnsüchtigen Helmut Lethen brennend.

Julia Encke, Dinge ohne Wiederkehr. Über Helmut Lethens »Der Schatten des Fotografen«

 

Andererseits ist Fried selbst so tief in die Bedeutungsproduktion verstrickt, dass einen bei der Lektüre das ungute Gefühl beschleicht, es gehe ihm gar nicht um Aufklärung der Frage, warum Fotografie als Kunst so bedeutend ist – sondern um deren systematische Verdunklung. Mit hohem historischem und theoretischem Aufwand werden hier Qualitätskriterien entwickelt, die sich zufälligerweise exakt mit jenen decken, die der Markt ohnehin etabliert hat: nämlich, dass gute Kunst teure Kunst (und daher vorzugweise auch großformatige Kunst) ist.

Jan von Brevern, Ganz große Kunst. Michael Frieds Lob der Fotografie

 

Europa ist nach Bernal ein Abkömmling, eine hybride und recht eigenartige Weiterentwicklung historischer und prähistorischer Vorlagen, die sich auf dem großen Kontinent im Süden finden. Dieser Deutung Bernals – in einigen Details bis heute heftig umstritten6 – folgen nun etliche Musikstücke, etwa von Drexciya, von Underground Resistance aus Detroit, von George Clinton oder von Sun Ra, die Bilder und Objekte von Hebru Brantley, Krista Franklin oder Mati Klarwein, die Romane von Octavia Butler, Samuel R. Delany oder Steven Barnes, die dem Afrofuturismus zuzurechnen sind.

Holger Schulze, Das afrikanische Europa

 

Die Vorstellung Scharouns und seiner Generation, dass man in Zehlendorf ins Auto steigt und über die kommode Avus und die anschließende Stadtautobahn bis in die Tiefgarage oder auf den splendiden Betonsee des Philharmonieparkplatzes fährt, ist aus heutiger Sicht schlicht irrsinnig. Scharoun pflegte noch die Illusion, das Kulturforum könne einem landschaftlichen Tal gleichen, durch das der Autoverkehr entlang den architektonischen Weinhängen von Staatsbibliothek und Philharmonie murmelt – das ist so obsolet geworden, dass man sich kaum noch getraut, es zu zitieren.

Gerwin Zohlen, Kulturforum, neu verortet

 

Ohne große Widerstände setzte sich eine lebenslang gültige, für administrative Zwecke verwendete Personennummer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert insbesondere in den skandinavischen Ländern durch. So wurde in Island bereits in den 1950er Jahren nach schwedischem Vorbild eine nationale Identifizierungsnummer eingeführt, Vorläuferin der ab 1988 verwendeten sogenannten kennitala. Diese erhalten in Island geborene Kinder, noch bevor sie einen Namen bekommen, und sie muss selbst bei Banküberweisungen angegeben werden. Viele Jahre konnte die kennitala in öffentlich zugänglichen Datenbanken abgefragt werden: Wer auch immer wollte, erhielt zu einem gegebenen Namen die damit verknüpfte Personennummer und zu einer abgefragten kennitala den Namen der Person samt ihrer Wohnadresse.

Anton Tantner, Nummerierung

 

Wenn jeder Vogel eine Idee ist, dann könnte der Spatz die des gefiederten Proletariers sein, eines Unterdrückten, der von verschiedensten Obrigkeiten durch die Jahrhunderte immer wieder mit äußerstem Vernichtungswillen gejagt wurde, dabei von Geistesadligen wie Goethe verhöhnt; der sich den Verfolgungen aber stets gewitzt zu entziehen und seine Verluste schnell wieder durch Fortpflanzungsfreude auszugleichen verstand, bis er schließlich im postindustriellen Netzzeitalter zur hinderlichen biologischen Verfügungsmasse degradierte, zum Opfer eines Apparats mit arbiträren Regeln, der nicht bekämpft werden kann und immer weniger Platz zum Ausweichen lässt. Die Geschichte der Sperlinge mit dem Menschen, ihr Sozialleben im Schwarm, ihre Nähe zu uns, ihr offen einsehbares Leben, laden zur Empathie ein. Wir sind wie die Spatzen, die Spatzen sind wie wir.

Günter Hack, Spatz und Klassenbewusstsein

 

Nicht nur im richtigen Leben, auch in Kriegsromanen wird zu viel gelabert. Gerade als im Roman die Körperteile eines in eine Sprengfalle geratenen italienischen Soldaten von seinen Kameraden zusammengesammelt und in Plastiktüten verpackt werden, beginnt rechts neben mir die Mutter von Salomé von ihrer kürzlich neubezogenen Luxuswohnung in São Paulo zu erzählen. Sechs Schlafzimmer, Elternbad, Gästebad, Kinderbad und Dienstmädchenzimmer. »C´est top«, sagt sie.

Stephan Herczeg, Journal (XIX)

MERKUR Jahrgang 68, Heft 785, Heft 10, Oktober 2014
96 Seiten, broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Herfried Münkler, T. J. Clark, Ilja Braun, Bernd Hüppauf, Harald Bodenschatz, Julia Encke, Jan von Brevern, Holger Schulze, Gerwin Zohlen, Anton Tantner, Günter Hack, Stephan Herczeg, Rudolf Stichweh,


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