Die Schiffbrüchigen

Roman
Buchdeckel „978-3-608-93663-6
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Jean Amérys Debüt als Erstausgabe. Ein Glücksfund und ein radikales Stück Literatur.

Ein früher Versuch des späteren, Aufsehen erregenden Essayisten, die Wundbrände des 20. Jahrhunderts zu benennen – und seine Entschlossenheit, sich ihnen zu stellen.

Dies ist die Geschichte von Eugen Althager, einem Intellektuellen und Außenseiter im Wien Anfang der dreißiger Jahre. Althager ist arbeitslos, und wir erleben seinen Kampf und seinen Abstieg – zusammen mit dem Verfall der bürgerlichen Kultur in Österreich. Denn die soziale und politische Lage ist äußerst gespannt: Ein Generalstreik bricht unter den Waffen der Staatsgewalt zusammen, jüdische Mitbürger werden auf offener Straße drangsaliert.
Ein äußerst farbiges, gedankenreiches und künstlerisch durchgearbeitetes Werk: voller Eindrücke aus den großen Caféhäusern Wiens, mit Großstadtszenen und einer Reihe eindrucksvoller Frauenfiguren. Althager wird durch die Zeitläufte in seine jüdische Identität förmlich hineingezwungen, und er zerbricht an diesem Prozess.
»Die Schiffbrüchigen« ist das spannende, weil subversive Gegenmodell zum Bildungsroman. Geschichte einer verratenen Freundschaft und Künstlerroman, enthält dieser Text schon alle gedanklichen Komplexe, die später Amérys Werk so einzigartig machten.

Zur Geschichte von »Die Schiffbrüchigen«:
Ein unerhörter Glücksfall, dass das Manuskript sich durch die Zeit der Verfolgung, Flucht, KZ-Haft und Emigration in einer Wiener Manuskript-Agentur erhalten hat. Im Marbacher Literatur-Archiv wurde es bei den Arbeiten zur Améry-Gesamtausgabe entdeckt.

Die Schiffbrüchigen erschienen auch im ersten Band der Améry-Gesamtausgabe.

Leseprobe

Ein Morgen.
Eugen erwachte. Der kalte Aprilmorgen sah weiß und silbrig zitternd zum Fenster herein. Draußen flatterte auf den Teppichstangen unruhig die Wäsche. Im Fenster gegenüber sah man den Postboten mit weichen, durchgedrückten Knien die Treppe hinaufschlürfen. Neun Uhr also, dachte Eugen schläfrig. Er strich die Haare aus der Stirn. Es schien ihm völlig gleichgiltig, sein arbeitsloses Leben um neun Uhr oder später wieder aufzunehmen, jene Last und Schwere zu tragen, die in der Dunkelheit, in den Stunden des Versinkens in Körperwärme, jenes maßlosen, haarwirren Hineingewühltseins in Polster und schmutzig-warmes Bettzeug ferne war.
Wie schwer war doch das tägliche Erwachen. Trümmer der Träume ragten jedesmal noch herüber in den Tag, der schon einen Boten seiner Wirklichkeit in das träge Hirn gesandt hatte. Und rascher dann, Hammerschlägen gleich hintereinander, rückten die Mächte des Tages heran und die schweren, verworrenen Dinge, deren die morgendlich zerwehte, beinahe noch keusche Seele nicht Herrin werden konnte, die wurden dann fortgeschoben, verschüttet, und an die gleichgiltigen, oft lächerlich albernen klammerte sie sich.
Eugens allmorgendliches Erwachen war ein Kampf. Es galt, die Gewalten des Schlafes, der Wärme, der hemmungslosen räkelnden Bewegungen zu überwinden. Der tierisch-dunkelrote Schleier der späten Träume mußte zerrissen werden. Der Lust an der Wärme der eigenen Glieder mußte man sich entziehen. Die wundervolle, große Gleichgiltigkeit des Einschlafens war es, die er bekämpfte. Die Boten der Tageswirklichkeit galt es zu stützen gegen die Mächte des Hinunterwollens.
Als sei gar keine Zeit mehr zu verlieren, als müsse er in irgendeine Ordnung des Tages sich einreihen, sprang Eugen jeden Morgen um neun aus seinem Bett. Und vor ihm lag doch nur das öde, tötende Nichts seines Tages, das zu füllen er mit der Seele letzter Kraft sich täglich mühte. Trübblasses Nichts aus Hunger und Einsamkeit, das ihn umbrauste; Stunden der kalten Glieder und trockenen Lippen, leise wimmernde Leere des Herzens. Mattklang der Stimme. –
Das Nachthemd warf er ab und stand nun nackt im ebenerdigen Zimmer. Im Hof vor seinem Fenster sang mühselig und heiser ein Bettler. Den kalten Strahl des klaren Wassers goß Eugen über seinen Körper und mit den letzten Spuren des nächtlichen Schweißes, die die gläserne Klarheit des Wassers aus Achselhöhlen und Kniekehlen riß, versickerten die dunkel-feuchten Gewässer der nächtlichen Träume in seiner Seele. Die verstreuten Kleider sammelte er und zog sie an. Die tägliche Sorge: wie lange hält mein Anzug noch? düsterte in ihm auf. Hauchzarte Fäden hingen vom Kragen seines Hemdes und den Manchetten. Um wieviel einfacher wäre es doch gewesen, den Kragen daheim liegen zu lassen. Den Kragen – Sinnbild für Eugens bürgerliche Verkleidung. Den Schritt erschlaffen zu lassen wäre besser gewesen, die Haare nicht mehr aus der Stirn zu streichen, wohlig das Grau des Schmutzes seine Kleider eindunkeln zu lassen und bis zum Morgen in den Schenken zu hocken.
(Die Tage waren schwer.) Nur noch die Nächte waren gut. Heut hatte Agathe bei ihm geschlafen und noch vor Morgengrauen war sie gegangen, ohne daß Eugen darum gewußt hatte. Wie gut das war: nicht allein in seinem Bett entschlafen zu müssen, Weichheit und Wärme an seinem Körper zu spüren, sich müde zu machen. Ach, in den Nächten, die Agathe mit ihm schlief, war allein vielleicht noch Ruhe und Gleichmaß, Andacht und Glaube. Da war noch ein: Das Leben ist gut, oder: das Leben ist warm, oder: dunkel. – Und das ist nicht zu sagen, was es in den Nächten ist, den Arm über Taille und Rücken einer Frau zu legen und in ihren Achselhöhlen eine Ahnung Schweißes zu spüren, sein Antlitz in fremdes Haar zu betten.
Doch am Tage verlor es seine Geltung. Was sein Eigen sein konnte zu jeder Stunde, Trost und Heimat, blieb ihm in der Helligkeit des Tages unerfühlbar ferne und wenn er daran dachte, kam oft ein schmerzhaftes Gefühl der Angst in ihm auf.
Zart wehten ein paar Sonnenstrahlen in den Lichthof. Klarer hoben die blassen Konturen der Möbel sich nun und der bleiche, kühle April erhellte kalt und ohne Trost Eugens Gefängnis.
Vollends verflogen war nun der Dämmer des Morgens, fordernd und hart war der Tag heraufgebrochen. Eugen hatte seinen Mantel genommen und das Fenster geöffnet. Nun also galt es fortzugehen, das Wehen des Aprilwindes, der durch das offne Fenster brach, die halbdunkle Stube reinigen zu lassen von Nacht und Traum und dem Duft von Agathe. An der Zeit war es nun, Überschriften der Morgenblätter zu ertragen, die tagblassen Mädchen, die Beamten – und Zughunde vor Fleischerwagen. Schwer ächzte draußen das Haustor. Eugen stand auf der Straße.
Die kommenden Stunden niederzuringen, war außerordentlich schwierig. Um diese Zeit saß Agathe gebückt vor einer grünbeschirmten Lampe und übertrug Zahlen aus vielen färbigen Zetteln in ein unmäßig großes Buch. Und unweit von dort, an einem niedrigen Pulte sitzend, schrieb Heinrich Hessl ebenfalls an Zahlen. So verschiedener Art die Zahlen auch waren, in deren engen Kreisen Agathe, die Geliebte, und Heinrich Hessl, der Freund, lebten, hielt sie doch der schmale Gurt irgend eines Gemeinsamen zusammen. Denn: wirklich waren die Geschäftsfälle gewesen, die Agathes Feder zu selbständigen geistigen Dingen machte, und wirklich waren die Kriege, Belagerungen und Stadteinnahmen gewesen, deren Jahrzahlen Heinrich Hessl kalt und entseelend in seine blauen Kolleghefte schrieb. Ein Mensch hatte von Agathes Firma am 16. Jänner fünf Fässer Wein gekauft und sie entsprechend bezahlt. Ein kleiner Mensch vielleicht, mit rundlich wintergerötetem Antlitz und blinkenden, dicken, ungefaßten Brillen. Unmenschlich aber und kalt, jedoch klar und bestimmt stand in Agathes Buch: Jänner 16., M. Korn & Sohn, 5 Faß Burgunder A.
Und auch aus Heinrich Hessls Zahlen stieg kein Geruch von Lagerküchen, oder Stampfen von Pferdehufen. Und dennoch waren Agathe, die Geliebte, und Heinrich Hessl, der Freund, noch hineinverwoben in ein Allgemeines, das man Sinn oder Leben oder Gesellschaft nennen mag, waren umstützt und gehalten von einer äußeren Gestalt der Dinge. Sorgsam geführt waren sie vom vorbestimmten Lauf ihrer Stunden, der hinführen mochte, wohin er wollte: in irgend einen Traum oder eine ferne Landschaft, der aber da sein mußte, den sie mitliefen, hungrig und voller Angst, ihn zu verlieren.
Eugen Althager aber schwebte im Leeren. In eine unpersönliche Ferne waren ihm die Tage gerückt, in denen er gearbeitet hatte. Sachlich nur mehr und akademisch wußte er um eine Zeit, da er im Buchladen gestanden war und verkauft hatte. Unbeschwert von Erinnerungen daran war seine Seele. Das war vor drei Jahren gewesen: da sein Leben gegliedert und zielhaft gewesen war. Urlaube hatte es gegeben, die erstrebt und erhofft worden waren, Werktage der Arbeit, freie Abende, Sonntage der Einkehr und Andacht. Das waren Feiern gewesen, deren Leuchtkraft in den Jahren verblaßt war. Die ungeheure Menge freier Zeit, die nun sein Leben erfüllte, hatte jeden Begriff von Freiheit in ihm erdrückt. Er kämpfte einen erbitterten Kampf gegen diese Freiheit. Stunden um Stunden rang er ihr ab. Stunden, die trotz ihrer Sinnlosigkeit nicht würdelos versackten. Hell und hart waren seine Tage.
Nur in äußersten Fällen der inneren Trostlosigkeit, wenn drohend die Gefahr stumpfen Dämmerns vor ihm erwuchs, suchte er Umgang mit Freunden. Dann stieg er die sauberen, hellen Stiegen zu Heinrich Hessls Wohnung empor. Und Heinrichs Mutter, die ihn wohltuend und menschlich mit »Du« ansprach, öffnete ihm. Immer noch war es gut sein mit Heinrich Hessl. Achtzehn Jahre der Freundschaft lagen zwischen ihnen. Am ersten Schultag waren die Knaben damals nebeneinander gesetzt worden und nun stand Heinrich wenige Tage vor dem Rigorosum. Was alles zwischen jenem ersten Schultag und heute geschehen war! Die Tage einer ländlichen Kindheit mit den ungeheuer weiten und großartigen Spielen in den Wäldern. Was wissen davon die Knaben der Städte, die ihre mühseligen, armen Spiele hinter den grau verstaubten Büschen der Parks spielen, zwischen den Müllkübeln und Teppichstangen der Hinterhöfe. Höhlen hatten sie gemeinsam gegraben in den Wäldern, waren Reiter und Pfadfinder gewesen. Später waren die Knaben dann vorübergehend auseinandergekommen. Eugen, der die unteren Klassen eines Provinzgymnasiums besucht hatte, mußte frühzeitig einen Beruf erlernen und Heinrich wurde dem fragwürdigen städtischen Mittelschulbetrieb übergeben. Immer wieder, wenn die Freunde einander zu verlieren drohten, wenn starke Verschiedenheiten der Sphären und Lebensformen zwischen sie traten, dann war es das Erinnern der ländlichen Reiter- und Jägerzeit, das siegte.
Sehr fern war Eugen Althager das wohltemperierte Leben seines Freundes. Sehr fern war ihm die bürgerliche Wohnung mit ihren Schubertbildern aus Perlmutter, den unmöglichen Nippes und den vergoldeten Hufeisen an den Wänden. Gerade deshalb vielleicht, weil ihm all das fern und unwiederbringlich verloren war, konnte er es kühl und ohne Haß mitansehen, konnte manchmal sogar Schutz suchen in Heinrichs Wohnung vor den Mächten, die ihn täglich wilder und stärker in die Tiefe lockten. [...]

Klett-Cotta mit einem Nachwort von Irene Heidelberger-Leonard
2. Aufl. 2007, 333 Seiten, Gebunden
ISBN: 978-3-608-93663-6

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