Ein Bergdorf an der schweizerischen Grenze zu Italien: Die Bewohner haben sich eingerichtet, mit ihren Erinnerungen und Sehnsüchten. Doch dann stören zwei Neuankömmlinge das gewohnte Leben: ein ausgebrannter junger Großstadt-Künstler und ein Adler ...
Andreas ahnt bei seiner Ankunft in einem abgeschiedenen Bergdorf noch nicht, worauf er sich eingelassen hat. Den ganzen Winter soll er hier verbringen, um über seine Kunst nachzudenken. Doch die interessiert ihn zunächst gar nicht. Denn er ist nicht der einzige Gast in dem herrschaftlichen Palazzo: Ein kranker Adler wurde von der schönen Maddalena zur Pflege abgegeben. Der Raubvogel und die Frau ziehen ihn gleichermaßen in ihren Bann. Als an Weihnachten auch noch ein Kind verschwindet, wird Andreas unvermittelt Teil einer Gemeinschaft, die ihm zu Beginn völlig fremd erschien.
In Elisabeth Binders Roman bricht sich das Licht des Lebens wie in einem Schneekristall. Eine bewegende Meditation über das Schweigen der Natur und das Verlangen der Menschen nach einer Offenbarung.
Leseprobe
Der Mensch verlangt und scheut zugleich, aus seinem gewöhnlichen Selbst vertrieben zu werden ...
Eduard Mörike, Mozart auf der Reise nach Prag
Ankunft
Kurz hatte der Postautochauffeur den Motor abgestellt. Der einzige Fahrgast war zwar ausgestiegen, und neue Fahrgäste warteten nicht, waren auch nicht zu erwarten, aber der Fahrplan musste doch eingehalten werden. Und nun war er fast fünf Minuten zu früh.
Einen Moment lang überlegte er, was der junge Mann da wollte, der gerade ausgestiegen war, mit Sack und Pack. Ein Einheimischer war das nicht, und wie ein Berggänger sah er auch nicht aus. Ziemlich verschlossen der Bursche, er hatte nicht einmal, wie das sonst üblich war auf dieser Strecke, wo das Postauto selten voll, eher halb leer war gewöhnlich, gegrüßt beim Aussteigen, bloß flüchtig zurückgenickt, als er ihm, in den Rückspiegel schauend, einen guten Abend zugerufen hatte.
Er schaltete das Radio an, um die Nachrichten zu hören. Die Sonnenblende hatte er heruntergeklappt. Trotzdem musste er sich ganz zurücklehnen in seinem Fahrersitz, um nicht geblendet zu werden, da ihm die Sonne direkt entgegenschien und so tief stand, dass sie das leere Postauto von vorn bis hinten durchflutete.
Er hörte die abendlichen Tagesmeldungen. Mit dem Sonnenuntergangslicht strömten sie zu ihm herein. Etwas Unentwirrbares plötzlich.
Licht und Gerede.
Ein glühender Brei wie Lava in seinem Kopf -
Nur ein paar Herzschläge lang. Dann löste es sich wieder voneinander. Dann waren es wieder die Aktualitäten. Ausland, Inland. Und der Tag mit seinem Licht drum herum. Die gewohnte Aura.
A ls er den Motor wieder startete, fuhr noch ein anderes Auto auf den Kiesplatz, der Postautohaltestelle und zugleich Parkplatz für das ganze Dorf war, denn die Gassen waren zu eng für parkende Autos und der Dorfplatz, für das Postauto mindestens, zu klein zum Wenden.
Der Chauffeur lächelte unwillkürlich, grüßte mit der Hand im Wegfahren. Diesen alten, zerbeulten Landrover kannte er gut und die Frau, die darin saß. Wer kannte hier nicht die Pfarrerin Maddalena? Die schöne Maddalena. Mit ihren Extravaganzen.
Die jetzt ausstieg, großgewachsen, ungewöhnlich groß für eine Frau, rasch um den Wagen herumging, den Wagenschlag öffnete ... etwas vom Beifahrersitz hob. Etwas recht Unhandliches musste das sein, etwas recht Schweres, das sie jetzt in den Arm nahm, mit umständlicher Vorsicht ... Das sah er noch.
Dann verlor er sie aus dem Rückspiegel, als er in die Hauptstraße einbog, wo er sich wieder ganz auf die Fahrt konzentrieren musste, auch wenn das Postauto nun wohl leer blieb bis Chiavenna. So kurz vor der Grenze stieg gewöhnlich niemand mehr ein, auf dieser letzten Kursfahrt am Abend sowieso nicht.
Da sie keine Hand frei hatte, die eine Hand außerdem mit dem Taschentuch notdürftig verbunden, stieß sie die Wagentür mit der Schuhspitze zu. Schuhspitze ist nicht ganz das richtige Wort, denn es waren ziemlich schwere Bergschuhe, die sie zu tragen pflegte auf ihren Wanderungen. Wann immer sie Zeit hatte. Hoch hinauf. Weg von dem Talgrund, dem Dorf auf der Schattenseite. Wo im Winter kein Strahl Sonne hinkam, wochenlang, monatelang.
Aber diesmal war sie froh, als sie wieder zwischen die Häuser des Dorfs kam, wo die Gassen schon im Schatten lagen. Gerade der Schatten war ihr jetzt willkommen und die Nähe der Berge, die Kühle, die man spürte, den kühlen Atem gewaltiger Massen.
Seit Stunden befand sie sich in einer Anspannung, die sie viel länger nicht ertragen hätte. Außerdem verlor sie Blut. Das Taschentuch war völlig durchtränkt. Nichts Lebensgefährliches. Kennedy würde das schon wieder in Ordnung bringen. Aber es hätte auch die Schlagader treffen können, dann wäre es aus gewesen, dort oben, auf der Alp, wo kein Mensch war, weit und breit. Auch so hatte sie aufgeschrien vor Schmerz, als eine Kralle seiner Fänge in ihre Hand eindrang, einfach durch alles hindurchdrang.
Kurz sah sie zu den Bergen hinauf. Aus dem dunkelbewaldeten Taleinschnitt hinter dem Dorf stiegen sie, mit ihren Steilwänden, Kanten und Spitzen.
Drei Spitzen, eng zusammengewachsen. Hausgötter. Nah und unnahbar.
Jetzt aber rosenrot leuchtend an ihren Flanken.
Als sie auf den Dorfplatz kam, sah sie einen jungen Mann, der ein paar Gepäckstücke beim Brunnen abgestellt
hatte, sich über die Brunnenröhre beugte (eine dunkelrote Baseballmütze auf dem Hinterkopf, so dass der Schirm
steil zum Himmel zeigte) und wie ein Verdurstender Wasser trank. Sonst war niemand auf dem Platz. Nur der junge Unbekannte.
Vor dem Palazzo, dem hohen, breiten Portal, blieb sie stehen. Tagsüber war es gewöhnlich nicht abgeschlossen. Sie stemmte mit der Schulter den schweren Türflügel auf. In der Eingangshalle war es noch kühler als draußen und dunkel, als die Tür ins Schloss fiel, und nur hinten, wo die Tür zum Garten war, noch hell.
Susanna, rief sie. Dann noch einmal. Aber es blieb alles still. Wahrscheinlich war sie im Garten beschäftigt.
Was nicht schwer zu erraten war. Schon die ganze Zeit hätte man Susanna im Garten beschäftigt sehen können, wäre er nicht von einer mehr als mannshohen Mauer umschlossen gewesen. Bloß drei hohe alte Bäume, eine Buche, eine Eiche und eine Konifere von schon biblischem Alter, ragten mit ihren Kronen weit darüber hinaus.
Da er gegen Westen zu ging, talauswärts, lag er noch im allerletzten Licht, es fiel direkt durch das geschmiedete Gittertor, das in die Mauer eingelassen war, und spielte mit dem Wasser des Springbrunnens, wo die Wege zusammenliefen in einem Rondell.
Mit ihr im Garten war ihr einziger und ständiger Begleiter, ein grauer Wolfsspitz. Auf die Dauer ertrug sie sonst niemanden mehr in ihrer Nähe, nicht einmal eine Hausangestellte.
Höchstens noch einen Stipendiaten, ab und zu. Einen jungen Mann. Ausgerechnet sie, die einst, in ihren Starzeiten, nicht genug Menschen um sich haben konnte, nicht genug Publikum, das vor allem? So dass sie anfangs sogar hier noch manchmal, wenn sie in die Kronen der Bäume sah, sich statt des bewegten Laubs klatschende Hände vorgestellt hatte. Noch einmal von fern einen anhaltenden frenetischen Applaus. Nun war ihr das Laub lieber, das glühte im Untergangslicht und sich bewegte - in einem eigenen Rausch.
In der großen Voliere unter der Eiche befand sich zur Zeit nur ein Pflegling, ein außergewöhnlich schön gefärbter und gezeichneter Falke. Ein Wanderfalke. Ein Peregrin. Er saß still auf einem Ast, der auf Dreiviertelhöhe quer durch die Voliere gelegt war. Aber er flog schon gut. Ihn würde sie demnächst fliegen lassen können. Je eher desto besser, damit er sich noch an die neue Freiheit gewöhnte, ehe der Winter kam.
Sie war dabei, einen alten Rosmarinbusch zusammenzubinden, der schon groß war, bald so groß wie sie selber, damit er nicht vom Schnee zerrissen würde.
Da hörte sie einen Schrei über sich.
Sie sah hinauf in den klaren Abendhimmel.
(Auch der Falke sah hinauf.)
Ein Bussard. Von unten angeleuchtet. So glitt er über den Garten hinweg -
Ohne einen Flügelschlag.
Im Aufwind des Lichts.
Und obschon sie sich da nichts vormachte, zu einem Mäusebussard, selbst wenn man ihn gesund gepflegt hatte ein paar Wochen lang, gab es keine Beziehung, das blieben wilde Kerle, immer, durchschoss sie dieses scharfe, helle Fiepen jetzt wie ein Zuruf, ein ekstatisch begeisterter.
Da wurde auch der Falke unruhig. Er flog gegen das Gitter der Voliere und begann, am Drahtgeflecht festgekrallt, zu flattern, am Gitter hochzuflattern, flatternd am Gitter hochzukrabbeln wie eine Nachtmotte, als sei er schon fast kein Vogel mehr.
Ja, sagte sie, du möchtest raus. Aber das hat Zeit bis morgen. Noch eine Nacht, mein Herzensariel, dann bist du frei.
Auf dem Dorfplatz war es still. Einmal hatte noch die Kirchenuhr geschlagen. Ein einziges Mal. Ein zaghafter Versuch gegen das Schweigen der Berge. Nun war es wieder still. Nur der Brunnen plätscherte. Und noch immer lehnte er an dem Brunnenrand.
Was ist los mit ihm, Andreas?
Das fragte er sich selber. Und wusste es selber nicht. War er vielleicht bergkrank? Gab es das? Oder hatte ihm das Brunnenwasser nicht gut getan, das frische, kalte Bergwasser, von dem er gierig getrunken hatte, so gierig, wie er schon lang kein Leitungswasser mehr getrunken hatte, und das da aus der Röhre immerzu weiter in den Brunnen plätscherte?
Dabei hatte er diesen »Palazzo«, wo er hin sollte und mit dem er spöttelnd noch wichtig getan hatte zuhause, unter seinen Freunden, mit dem »Palazzo« und mit der »alten Dame« (pass auf, hatten sie gesagt, vielleicht sucht sie einen Gigolo), natürlich gleich gefunden. Am Dorfplatz, hatte es geheißen. Und viel mehr als den Dorfplatz gab es hier gar nicht. Und da gab es auch nur einen winzigen Dorfladen (Negozio stand in Schreibschrift auf einer altertümlichen Blechtafel, darunter Osteria, und auf einer anderen das Wort CALANDA BRÄU , aber sichtbar waren nur ein dunkler Hauseingang und eine leere Bank an der Hauswand), den allerdings herrschaftlichen Palazzo, ein paar einfache Dorfhäuser - und eine kleine Kirche gegen den Berghang zu. Klein und alt.
Aber steinalt schien ihm hier überhaupt alles. Und grau. Wie die Berge, deren Übermacht er in seinem Rücken spürte. Und sie machten ihn klein. Und so allein.
Dass ihn seine Freundin endgültig verlassen hatte, schien ihm zum ersten Mal vollkommen sicher. Zunehmend uninspirierend hatte sie ihn zuletzt gefunden, und da mochte sie wohl recht haben. Aber es kümmerte ihn jetzt nicht einmal. Und dass sein Handy schon während der Fahrt im Postauto nicht mehr geklingelt, keiner seiner doch recht zahlreichen Freunde sich mehr gemeldet hatte, wunderte ihn zwar, möglich, dass er hier in einem Empfangsloch saß, aber er hatte gar kein Bedürfnis, angerufen zu werden, noch weniger Lust, selber jemanden anzurufen.
Er war gar nicht mehr der einerseits ziemlich gewöhnliche junge Mann und andrerseits schon halb verkrachte Künstler, der einmal fast ein Shootingstar geworden wäre, aber eben nur fast, dann hatte sich das Interesse von ihm abgewandt, er wusste nicht, warum, und das konnte man auch nicht wissen, aber dass er es nicht wusste, hatte ihn schier verrückt gemacht. Diese verzweifelte Suche nach Erfolgsrezepten! Bis er zuletzt gar nichts Eigenes mehr zustande brachte, die Schaffenslust ihn irgendwann ganz verließ, so dass ihm, da er keinen Beruf gelernt hatte, einzig die Gelegenheitsjobs blieben, immer ödere, mit denen er sich durch immer aussichtslosere Tage schlug. Und nur die Tatsache, dass er vor zwölf Uhr gar nicht mehr aufstand und also selbst für das Wenige, was er tat, nie genug Zeit hatte, verschaffte ihm noch halbwegs die Illusion, ihm und anderen, trotz allem ein gestresster Mensch zu sein.
Das alles war jetzt von ihm abgefallen. Er lehnte am Brunnenrand, das Gepäck neben sich. Atmete die Luft ein. Etwas, das er lang nicht mehr eingeatmet hatte: Bergluft?
Er nahm seine Mütze ab, die vielleicht längst nicht mehr zu ihm passte, seiner Freundin war sie auch bereits auf die Nerven gegangen, die er aber noch immer trug wie ein Maskottchen, Markenzeichen einer alten Rolle, in der es ihm einmal gut gegangen war, damals, als es ihn fast hinaufgetragen hätte, an die Spitze. Er hielt das Überfliegermützchen in den Händen und spürte nun erst recht die Kühle, jetzt auch an seinem Kopf.
Er sah den Palazzo, vornehm geweißt zwischen den Steinhäusern. Auf dem Dach hatte er eine Unmenge Kamine, aber er schien unbewohnt, verlassen, wie das ganze Dorf.
Und sekundenlang hatte er das Gefühl, angekommen zu sein in diesem toten Winkel wie am Ort seiner Verbannung. Mehr noch: seines Todes. Hatte er nicht immer gedacht, früh zu sterben? Ein kometenhafter Aufstieg, kurzer Glanz im Startum und dann weg. Mehr als dreißig, vierzig Jahre alt zu werden, hatte er sich gar nicht vorstellen können. Nun war es mit dem Startum nichts geworden. Aber vielleicht mit einem frühen Tod?
Still ist es auch in der kleinen Kirche. Noch stiller als draußen. Oder anders still.
Denn das Portal steht offen.
Sperrangelweit.
Beide Flügel nach innen aufgestoßen. Damit die Sonne herein kann, die Abendsonne, wenigstens die.
Die letzten, flachen Strahlen -
Sonst kommt sie nirgendwo herein, zu keiner Tages- und Jahreszeit. Ein wenig Helligkeit schon, aber nicht viel durch die schießschartenschmalen Fenster. Auch steigt auf der Südseite, nicht weit von der Kirche, der tannendunkle Berghang in die Höhe. Und im Chor sind gar keine Fenster. Nur Fresken in der höhlenartigen Wölbung.
Alte Fresken, die wieder zum Vorschein gekommen sind, vor noch nicht allzu langer Zeit, unter der Tünche, wo sie die Bilderstürme und die Jahrhunderte seither überdauert hatten. Nicht unversehrt. Es gibt blinde Flecken, wo der Farbauftrag verschwunden ist. Und nur die Figur des Weltenherrschers in der Mitte, sitzend in aufrechtester Haltung, die linke Hand auf einem Buch ( ego sum lux mundi ), die rechte Hand erhoben zum Segens- oder Siegeszeichen, umschlossen von der Mandorla in den Farben des Regenbogens, ist ganz erhalten. Und zu beiden Seiten der Mandorla noch gut erkennbar die vier Evangelisten, halb Engel, halb Tier, Halbverwandelte: Engelfiguren mit Tierköpfen, Adler, Löwe, Stier.
Und noch weiter draußen: die beiden Erzengel. Die Flügel gelüftet wie zum Abflug. Durch das offene Portal fällt jetzt eine Lichtbahn in den Mittelgang zwischen den Bankreihen.
Langsam hat sich das Licht vorangetastet, mit der sinkenden Sonne, der wegkippenden Erdkugel, Millimeter um Millimeter, auf dem Steinboden, bis zur Apsis, bis zur Halbkugel der Wölbung, bis zum Weltenherrscher in der Mandorla. Bis zu IHM .
Maddalena hatte das Kirchenportal aufgestoßen, beide Flügel, bis zum Anschlag. Und war dann schnell weggegangen, alles liegen und stehen lassend, die angefangene Sonntagspredigt, um nur hinauszukommen an diesem leuchtenden Spätherbsttag.
Von einem Dorf auf der Sonnenseite, etwas erhöht über dem Tal, wo sie das Auto abstellte, war sie aufgestiegen. Sie kannte den Weg, war ihn oft gegangen. Ein schmaler Pfad, links die Felswände und rechts der Blick in die Tiefe, wenn sich der Laubwald einmal lichtete oder der Weg auf eine freie Anhöhe kam.
Immer tiefer unten:
Der Talgrund.
Das Dorf auf der Schattenseite, eine kleine Ansammlung
von Häusern, grau in grau, wie Ausläufer eines Steinschlags vor dem engen Taleinschnitt.
Die Kirche, in der sie noch immer predigte, wie wenn nichts wäre, Sonntag für Sonntag, ein schwarzer Vogel im schwarzen Talar, schwerfällig, flügellahm.
Aber heute waren ihr Flügel gewachsen, in dem Glühen und Leuchten rings herum, dem Flirren des farbigen Laubs, des Schattenmusters auf dem Weg, in einem leichten Wind.
Südwind, vom Mittelmeer kommend, vom Golf von Genua, um all die Biegungen, bis hier herauf.
(Aber schon morgen konnte er von Norden kommen, scharf und bitterkalt. Polarluft, die weiter oben im Tal innert Stunden alles gefrieren ließ, über Nacht konnten dann Eiszapfen hängen an den Felsen.)
Noch aber war es warm. Weich die Luft. Und schimmerten nicht die Felsen so hell, als seien sie nach Süden gewandert, ausgewandert, angestiftet vom
Licht, dem Wind, als gehörten sie zu einem noch viel südlicheren Tal? Und stürzten sich nicht die Wasserfälle, die sie überquerte, wo sie sich schäumend zum ersten Mal ein wenig beruhigten, nach dem Sturz, so Hals über Kopf in die Tiefe, um nur schnell genug zum Bach im Talgrund zu kommen, zum nächsten Fluss, zum Meer? Herzensergießungen, tief innen gesammelt, des harten Gesteins.
So dass der Weitblick, den sie hatte von der Alp oben, ihr diesmal fast zu eng war, zu eng für das Welt- und Weitegefühl in ihrem Inneren, als könnte sie überall hinreichen, sich ausbreiten, sich verwandeln, ohne sich zu verlieren.
Aber die Berge ringsherum, und noch am Talende der Bergriegel im Südwesten, bildeten hartnäckige Hindernisse.
Wie immer standen die Hausgötter vis-à-vis. Hellgrau und weiß, Granit und ewiger Schnee.
Und nur das Licht so südlich gleißend auf den Schneefeldern. Dieser Glanz von hinter den Bergen. Und der Wind -
Und wieder einmal hatte sie das Gefühl, noch größer geworden zu sein vor lauter Sehnsucht, gedehnt bis zur Schmerzgrenze -
Als sie plötzlich ein Geräusch hinter sich hörte, ein Rauschen von schwerem Gefieder, und, als sie sich umdrehte - nein, keinen Erzengel: den Vogel im Gras taumeln sah.
Die gewaltigen Schwingen hilflos ausgebreitet.
Was sie nicht wusste, dass einer sie beobachtete in diesem Augenblick.
Von der anderen Talseite.
Dort stand Christoph, der Wildhüter, mit seinem Hund, weit oben, bei der Schutzhütte für die Bergsteiger, zu Füßen der drei Himmelhohen, das Fernglas an den Augen. Ganz nach drüben konzentriert, seit er dort den Adler entdeckt hatte, denn er verfolgte das sichtlich entkräftete Tier schon seit Tagen.
Einmal hätte er ihn beinahe gefangen gehabt, aber dann war er ihm doch wieder entwischt. Und nun sah er ihn überm Tal drüben die Felsen entlangflattern, dann niedergehen auf der Alp. Er hatte ihn tags zuvor auf der hiesigen Talseite gesehen und war extra hoch hinaufgestiegen, in der vagen Hoffnung, ihn hier zu finden. Nun ärgerte er sich furchtbar, dass er gerade wieder auf der falschen Talseite war.
Dafür war sie an der richtigen Stelle. Eine Einzelgängerin, die nur Maddalena sein konnte. Wer stieg sonst, außer ihm, um die Jahreszeit noch in der Höhe herum? Er sah sie erst, als der Vogel direkt hinter ihr ins Gras niederging.
Sah, wie sie sich umdrehte, wartete, vorsichtig ein paar Schritte näher ging. Nun würde er gleich wegfliegen, wie es ihm auch passiert war. Aber nichts geschah.
Im Gegenteil. Hüpfte der Vogel auf sie zu?
Sie wich ein paar Schritte zurück. Der Vogel folgte ihr, taumelnd, flatternd. Sie ging noch einen Schritt zurück. War der Vogel verrückt geworden?
Eine Weile stand sie jetzt still, der Vogel dicht zu ihren Füßen.
Wahrscheinlich sprach sie mit ihm, nur war davon nichts zu hören in dem lautlosen Bild, das sogar in seinen geübten Händen leicht zitterte.
Dann löste sie die Windjacke, die sie um die Taille geknotet hatte, legte sie über den Vogel, bückte sich - er hielt den Atem an: wagte sie das wirklich? - richtete sich plötzlich wieder auf.
Hatte sie sich verletzt? Das konnte leicht geschehen, wenn man bei diesen Krallen nicht aufpasste. Wenn man einen Greifvogel nicht sofort sicher bei den Beinen packen konnte. Das war die Voraussetzung, dass man sie dort fest im Griff hatte. Und bei einem Adler hätte man sowieso Handschuhe gebraucht, fester noch als Falknerhandschuhe, wie er sie in seinem Jeep immer mit sich führte.
Sie stand einen Moment lang da, offenbar mit ihrer Hand beschäftigt, aber er sah sie jetzt nur von hinten. Doch dann bückte sie sich wieder. Und wie sie sich aufrichtete, hatte sie - er schnaubte vor Erstaunen - den Vogel, in ihre Windjacke eingehüllt, im Arm. Ein großes Bündel, mit dem sie sogleich über die Alp abzusteigen begann. Er verlor sie aus dem Blick, als der Weg in dem Laubwald, zwischen gefleckten Stämmen und glühendem Laub, verschwand.
Die schöne Maddalena! So allein, immer und überall. Dass es einem Mann, einem Mann wie ihm, fast weh tat. Er ließ den Feldstecher sinken.
Davon verstehst du nichts, sagte er zu seinem Hund, der zu ihm hochsah. Luchs, er strich ihm über den Kopf. Sei froh, sei froh!
Sie vermute eine Vergiftung, sagte Susanna. Eine Bleivergiftung, wie es ja vorkomme in dieser Jahreszeit, nach der Jagd. Gut möglich, dass er sich an einem mit Bleischrot geschossenen und liegengebliebenen Kadaver vergiftet habe. Denn eine Verletzung konnte sie nirgendwo sehen. Keine Flügelfraktur. Und ein altes Tier war es auch nicht.
Dem Aussehen nach ein junges Tier: das füllige, um den Schnabel herum lebhaft gefärbte Gesicht, der jugendliche Gesichtsausdruck, die weißen Flügelspiegel, die weiße Schwanzbasis, das noch immer leicht gesträubte Kopfgefieder. Sie hatte schon alle Arten von Greifvögeln in ihrer Vogelstation gehabt. Einen Adler noch nie.
Schön bist du, sagte sie.
Schön und fremd, dachte Maddalena, plötzlich schaudernd, dass sie ihn gerade noch im Arm gehabt hatte, den Riesenvogel, dessen wildbraunes Gefieder rauschte wie ein verhaltener Sturm, wenn er nur einmal die Flügel lüftete, die Schulterschwingen anhob wie zu einem großen Atemholen. Als probe er, noch eben zögernd, demnächst den Aufstand.
Aber er dachte nicht an Aufstand.
Er saß ruhig zwischen den zwei großen Frauen. Wie zwischen seinen Leibwächtern. Einmal den einen, dann den anderen Fuß entlastend.
Die Krallen zur Faust verkrampft. Auch das, sagte Susanna, deute auf eine Vergiftung.
Sie hatte ihn in die kleinste der drei Volieren getan, damit er nicht entwischen konnte, wenn sie ihn behandeln und vielleicht auch füttern musste. Was bei einem Adler unter Umständen nicht ganz ungefährlich war. Aber im Augenblick ließ er sich problemlos anfassen. Er zeigte überhaupt keine Menschenscheu.
Auch sie habe ihn problemlos anfassen können, sagte Maddalena. Er habe nicht den geringsten Fluchtversuch gemacht. Im Gegenteil sei er ihr sogar nachgehüpft, mit einem leisen, flehenden Laut, wie sie ein paar Schritte rückwärts gegangen sei im ersten Schreck. Als solle sie ihn keinesfalls allein lassen in seiner Not.
Und die Verletzung an der Hand?
Sie habe einen Moment lang nicht aufgepasst, als sie ihn aufgenommen habe und er sich reflexartig festzukrallen versuchte.
Geh aber gleich zu Kennedy, sagte Susanna, solche Verletzungen sind nicht harmlos.
Der Landrover stand schon da, als Christoph auf den Parkplatz fuhr. War sie also schneller gewesen als er. Und neben dem Landrover ein anderes Auto, ein kleiner eleganter Flitzer, silbergrau und himmelblau.
Elegant wie sein Besitzer. Der kleine Doktor.
Du bleibst da, Luchs, sagte er zu seinem Hund, der wie üblich die Fahrt auf dem Beifahrersitz verfolgt hatte, so aufmerksam, als sitze er selber am Steuer. Ich komme bald wieder. Dann schloss er seinen Jeep ab und ging auf das Dorf zu.
Nun standen drei Autos nebeneinander auf dem Parkplatz. Wie Stallgefährten. Aber in dem Jeep des Wildhüters sitzt ein brauner Hund mit Hängeohren. Nicht sehr glücklich, allein zu sein. Aber was sollte er machen? Bis er sich hinlegt, sich zusammenrollt. Sein bewährtes Mittel anwendet: die Zeit verschlafen.
War es der blutige Verband, als käme sie gerade von einer Messerstecherei, so dass Andreas das Gefühl hatte, nach der Stille noch eben, mit einem Mal in die leidenschaftlichste Szene hineinzuplatzen, als er sich endlich ein Herz gefasst, sich aufgerafft hatte aus seiner Verlorenheit und gerade den altertümlichen Glockenzug betätigen wollte, aber bevor er dazu kam, der Portalflügel sich öffnete, oder dass sie sehr groß, sehr bleich und irgendwie sehr schön war -
Irgendetwas.
Weshalb er ihr nachsah, bis sie vor der Kirche in eine Gasse hinein verschwand, sogar noch einen Augenblick länger, ehe er die Eingangshalle betrat. Er solle nur hineingehen, hatte sie gesagt. Susanna sei im Garten.
Als er aber das Gepäck abgestellt, den Tramperrucksack abgenommen hatte, sich einmal umsehend (es auf Anhieb zwar altfeudal, aber wohnlicher fand als erwartet), und auf die offene Gartentür zuging (flüchtig im Nobelgefühl eines Palazzobewohners) ... auf einen Park zuging, mit hohen Bäumen ... und hinter der Parkmauer eine Wiesenfläche ... und hinter der Wiesenfläche das Tal, in Stufen abfallend, zwischen gestaffelten Felsvorsprüngen rechts und links, tiefer und tiefer, in einen ungewissen, leuchten-den Dunst hinein - sah er etwas, was er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, obschon es täglich geschieht, überall auf der Welt, eine Angelegenheit von Sekunden im entscheidenden Augenblick.
Gerade hatte die Sonne über dem Bergkamm am Talende, wo schon Italien sein musste, noch als winzige glührote Sichel gestanden. Nicht größer als der Mond eines Daumennagels.
Dann war sie von einer Sekunde zur nächsten verschwunden. Wo sie aber noch eben gewesen war, blieb für einen kurzen Moment eine heftig entzündete Stelle.
Was war denn im Palazzo heute für ein Kommen und Gehen?
Gerade war der Wildhüter hineingegangen, vorher schon der junge Unbekannte mit seinem Gepäck dort drin verschwunden und die Pfarrerin wieder herausgekommen: Jeans, Windjacke, Bergschuhe. Wie viel Zeit die immer hatte zum Herumwandern. Erstaunlich. Was tat die eigentlich den ganzen Tag?
Ada sah auf ihre Armbanduhr, die kleine goldene Armbanduhr, etwas von dem Wenigen, was sie sich an Luxus hatte leisten können in ihrem Leben. Die Uhr freute sie noch immer oder immer einmal wieder.
Das Wort aber fiel ihr immer noch nicht ein, obschon es ihr die ganze Zeit auf der Zunge lag. Verdient sein Geld an der Börse. Sechs Buchstaben. Ein E hatte sie schon von senkrecht: Himmelsbote.
Es war kein weiter Weg zu Kennedy, aber als sie an der Kirche vorbeiging, wurde es ihr plötzlich schlecht, und sie musste erbrechen, obschon sie krampfhaft darüber wegzukommen suchte. Sie stützte sich mit der linken Hand an die Kirchenmauer, beugte sich vor und begann zu würgen, am ganzen Körper zitternd.
Und anschließend fühlte sie sich so elend, dass sie sich einen Augenblick an die Mauer lehnen musste, die kalt war. Sie spürte es fröstelnd an ihren Schultern. Da sie kein Taschentuch mehr hatte, wischte sie sich den Mund mit dem Handrücken. Dabei roch sie den Wildgeruch des Vogels. Und sekundenlang kam sie sich selbst schon halb verwildert vor.
Wild und fremd.
Hatte er sie nicht, als er ihre Nähe suchte dort oben, statt zu flüchten, schon akzeptiert als seinesgleichen? Und hatte sie nicht seine Körperwärme gefühlt während des ganzen Abstiegs - und dass sie jetzt wusste, wie einem so großen, freien Tier das Herz pochte?
Er war es gewohnt, dass sie einfach still hereinkam und sich auf den für sie bereitstehenden Stuhl setzte, rittlings auf den hochbeinigen, hochlehnigen Stuhl, der ihr der langen Beine wegen bequem war und weil sie so besser zuhören konnte: die Hände auf der Stuhllehne verschränkt, das Kinn draufgestützt. Sie hörte ihm oft zu, wenn er abends Cembalo spielte, regelmäßig, wenn er nicht gerade zu einem Notfall gerufen wurde, vor dem Abendessen eine Stunde.
So achtete er zunächst nicht sonderlich darauf, als er sie hereinkommen hörte. Bis ihm doch irgendetwas merkwürdig vorkam. Er wandte, noch im Spielen, den Kopf und erschrak, als er sie nicht, wie gewohnt, auf dem Stuhl sitzen, sondern auf dem Sofa im Hintergrund des Raums halb sitzen, halb liegen sah, hilflos lächelnd und kreidebleich.
Mein Gott, Maddalena!, sagte Kennedy und unterbrach eine lebhafte Passage mit einem Ruck.
Als er aber hörte, wie es passiert war, wurde er kurz wütend. Susanna habe doch schon diesen Spleen mit den Vögeln. Und auch noch ein Adler!
Er schüttelte den Kopf, während er ihr das Taschentuch reichte, um das sie ihn bat, sein eigenes, taufrisches, das er aus der Hosentasche zog.
Sie faltete zitternd das Tuch auseinander, das sorgfältig gebügelte, zu Gleichkantigkeit gefaltete.
Das roch nun nicht nach wildem Tier, sondern piekfein und sehr anziehend nach Kennedy.
Und sekundenlang überfiel sie dieser Geruch wie eine Intimität, eine ihre diskrete Freundschaft mit einem Mal weit übersteigende. Sie spürte es, zugleich mit dem Gefühl, nächstens ohnmächtig zu werden, während sie in sein nicht mehr junges, gutaussehendes Gesicht sah, in seine Augen, die sie prüfend musterten, dann seine Hände sah, die feingliedrigen, an dem kleinen Mann immer erstaunlich großen Männerhände, mit denen er rasch und konzentriert den Verband aufknotete.
Abend
Auf der Abdeckung des Taufsteins, wo ein kleines Lesepult steht, liegt die Bibel, aufgeschlagen. Von der Pfarrerin an der Stelle aufgeschlagen, denkt das Kind, das die Verse liest, langsam, halblaut, mit dem Zeigefinger den Zeilen nachfahrend.
Che profitto ha l'uomo di tutta la sua fatica,
nella quale egli s'affatica sotto il sole?
Una età va via, ed una altra età viene;
e la terra resta in perpetuo.
Il sole si leva anch' esso, e poi tramonta;
ed, ansando, tira verso il luogo suo,
ove egli si deve levare.
(Was für einen Gewinn hat der Mensch von all seiner Mühsal, mit der er sich abmüht unter der Sonne?
Ein Zeitalter vergeht, und ein anderes Zeitalter kommt,und die Erde bleibt in Ewigkeit.
Auch die Sonne erhebt sich und geht dann unter;und im Untergehen kehrt sie zu dem Ort zurück,wo sie wieder aufgehen soll. )
Als es die Verse gelesen hatte, atmete es einmal tief ein und wieder aus, denn es hatte fast den Atem angehalten vor Konzentration. Aber verstanden hatte es doch nur den letzten Vers. Und es überlegte, wie die Sonne zurückkehrte zu dem Ort, wo sie wieder aufgehen soll.
Ein Bub? Ein Mädchen?
Das ist vom Aussehen her nicht genau zu sagen. Der kastanienbraune Lockenkopf könnte für beides stehen, das Gesicht, der schmale kindliche Körper. Und auch der Name, Andrea, hätte hier keinen Aufschluss gegeben.
Selber wäre sie lieber ein Bub gewesen. Sie war in dem Alter, wo sie lieber oder mindestens so gern ein Bub gewesen wäre. War also eigentlich ein Mädchen. Aber wenn sie groß wäre, ein großer Mann, würde sie Maddalena heiraten. Oder selbst Pfarrerin werden. Denn sie bewunderte die Pfarrerin. Und liebte wohl vor allem deshalb die Kirche, den Ort, ihren Ort.
Es war das Enkelkind Celestinas, der Mesnerin. Deshalb hatte sie auch einen Schlüssel, mit dem sie die Kirche schließen sollte jeden Abend. Und wenn an schönen Tagen das Portal offenstand, von Maddalena weit geöffnet, sollte sie auch die Flügel zuziehen, das Portal schließen, denn gewöhnlich war nur ein Seiteneingang offen, die Woche über. Für die paar Besucher, kaum Einheimische, aber während der Sommerzeit manchmal Feriengäste, Wanderer, die der Fresken wegen kamen, genügte der kleine Seiteneingang. Der war noch offen, die Tür angelehnt, während das Portal schon geschlossen war, so dass jetzt wieder die dem Raum eigene Dämmerung herrschte, das jahrhundertealte Höhlendunkel.
Die Bilder waren trotzdem zu erkennen, fast eindringlicher, als würden sie erst am Abend richtig lebendig. Der Mann in der Mandorla erst jetzt ein Wesen, mit dem man sprechen konnte.
Dass der Angesprochene nicht antwortete, war nicht schlimm. So konnte man ihm alles sagen. Das war sogar besonders schön, dass er sich alles sagen lassen musste, dass er nicht widersprechen konnte, obschon er so mächtig war. Bis der Moment kam, wo es doch ärgerlich wurde, dass er bei allem so stumm blieb. Und mit der Zeit wurde das Spiel recht übermütig, recht herausfordernd.
Und von der Seitenwand, dem anderen Bild, wo sie zum Abendmahl zusammen saßen an dem langen Tisch, mit Fisch und Brot und Wein und Krebsen und anderen unberührten Sachen, sahen sie alle zu. Steif und feierlich auf ihren Stühlen. Das aber war vielleicht das Beste, dass es so viele Zuschauer gab.
Bloß wenn ein richtiger gekommen wäre in diesem Moment, irgendein später Besucher, der noch schnell einen Blick in die Kirche werfen wollte, ehe es dunkel wurde, und wenn er den Lärm gehört hätte, zuerst dachte, es treibe ein Verrückter hier sein Wesen oder ein Geist, Kirchengeist, Berggeist - diesen Besucher hätte sie, von einem Moment zum anderen das artigste, stillste Kind, errötend lächelnd gegrüßt mit einem Guten Abend. Wäre mit einem buona sera an ihm vorbeigeschlüpft - ins Freie.
Es war dann alles ein bisschen anders, als er es sich vorgestellt hatte, von weitem. Wer stellt sich schon vor, mit einem Adler zusammen anzukommen am Ziel seiner Reise? Auch hatte in der Einladung nichts von einer Vogelstation gestanden, und dass hier neben verunglückten Künstlern auch kranke oder verletzte Greifvögel gepflegt wurden.
Und einen Moment lang trauerte er noch der etwas gewöhnlicheren, umgänglicheren, freundlich um ihn besorgten »alten Dame« nach, die er aus irgendeinem Grund erwartet hatte, bis sie hinter dieser nicht so gar alten oder anders alten, großen, schlank gewachsenen Frau in Hosen und Rollkragenpullover (war er hier in das Reich der großen Frauen geraten?), die ihn aufmerksam, aber kühl empfing, kühl und kritisch musterte von oben herab, als setze der Vogel in der Voliere einen besonders strengen, nicht unbedingt menschenfreundlichen Maßstab (was bildete er sich denn ein: die Latte lag hier hoch, hoch!), sang- und klanglos verschwand.
Ah, da kommt ja unser Gast, sagte sie, ohne im Geringsten zu lächeln, als sie ihn auf dem Kiesweg daherkommen sah, begleitet von dem Hund, der ihn schon an der Treppe zum Garten freudig begrüßt hatte (wenigstens der Hund!) wie einen lang Ersehnten. Seien Sie willkommen, Andreas. Sie wies auf den Vogel: zwei Gäste auf einmal.
Sie hatte sich zuerst ausführlich um den kranken Adler gekümmert, auch des Langen und Breiten mit dem Wildhüter geredet (auch ein großer Mann, ein Hüne geradezu), und am Handy, das sie aus der Gesäßtasche ihrer Jeans zog, sehr fachmännisch mit einer Ärztin vom Tierspital, die sie ehrerbietig mit Frau Doktor anredete, bis sie sich endlich ihm zuwandte, kommen Sie, Andreas, und mit ihm hineinging, über herrschaftlich breite Treppen in den ersten Stock, um ihm sein Zimmer zu zeigen. Was sie ihm dann aber zeigte, wie beiläufig, war eine ganze Flucht von Zimmern, der halbe Palazzo, so kam es ihm vor, sollte ihm hier zur freien Verfügung stehen. Er solle sich einrichten, wie und wo er wolle, sagte sie. Dann rief sie den Hund zu sich. Übrigens, sagte sie, schon im Weggehen, sie esse immer pünktlich um acht, er solle dann auch herunterkommen zum Nachtessen. Dann war er wieder allein.
Er hatte noch nie in seinem Leben so viel Platz gehabt.
Er wusste gar nicht, wo er hinsollte mit dem Wenigen, das er bei sich hatte. Er hatte in der WG , in der er wieder wohnte, seit er sich von seiner Freundin getrennt hatte (eine provisorische Trennung, hatten sie es beide genannt, aber dann war es ganz von selber etwas Endgültiges geworden), nur ein kleines Zimmer gehabt. Und so vollgestopft, dass er sich kaum darin bewegen konnte. Darüber hatte er oft geflucht. Nun erschien es ihm wie ein Nest aus Gemütlichkeit, Geselligkeit, mit den Altersgenossen rings herum: wie eine Stammhöhle, im Vergleich.
Zwar hatte er das Gepäck, den großen Rucksack, eine Sporttasche, ein Mappe mit Fotos von dem, was er zuletzt gebastelt hatte, als er noch irgendwie an Kunst dachte, aber weder an die Kunst noch an sich selber mehr glaubte, instinktiv in das kleinste Zimmer gestellt. Es hatte grüngoldene Tapeten an den Wänden und über dem Kamin einen großen goldgerahmten Spiegel und war noch das Wohnlichste von allen.
Aber sein Stil war das alles nicht. Wie er hier einen ganzen Winter zubringen sollte, konnte er sich überhaupt nicht vorstellen. In diesem leeren Palazzo, mit dieser ungemütlichen Frau. Dass sie einmal eine berühmte Opernsängerin gewesen war, wie einer seiner Freunde behauptete, konnte er sich überhaupt nicht vorstellen. Wie sollte diese strenge, abweisende Frau jemals auf der Bühne gestanden, ein Publikum begeistert, vor allem gesungen haben?
Und statt auszupacken, nahm er den CD -Player aus der Tasche, legte eine CD ein, setzte den Kopfhörer auf, um wenigstens etwas Vertrautes um die Ohren zu haben, setzte sich aufs Bett, stützte die Ellbogen auf die Knie, das Gesicht in die Hände.
Auf dem Dorfplatz hatte es sich unterdessen belebt.
Auf der Bank an der Hauswand, wo die Blechtafel mit der Schreibschrift angebracht war und die Tafel mit dem Wort CALANDA BRÄU , direkt darunter saßen jetzt vier Männer im Gespräch.
Eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren lehnte am Hauseingang, neben dem hohen Zylinder eines Aschenbechers, der schon voller Stummel war, und rauchte. Manchmal sagte einer der Männer etwas zu ihr. Miralda, sagten sie. Dann antwortete sie kurz.
Auf der anderen Seite des Eingangs saß ein kleiner schwarzer Hund mit einer altersgrauen Schnauze. Zu ihm sagte niemand etwas. Er hatte bloß jemanden begleitet und wartete nun geduldig auf den gemeinsamen Heimweg.
Wer hier wohnte, wusste, dass es der Hund von Gian Remo war, dem Gemeindepräsidenten (Gemeindepräsident, Kirchenpräsident, Feuerwehrkommandant, Hüter des Dorfgeists und was noch alles in einer Person, im Übrigen: Ökobauer, mit einer kleinen Herde von Hochlandrindern, woran niemand geglaubt hatte, dass dies hier gehe, aber nun ging es besser als gedacht). Der saß aber drinnen, in dem Raum links von dem dunklen Hausgang (rechts ging es in das Ladengewölbe), in der Dorfbeiz, hier Bar genannt.
Dort saßen ebenfalls vier Männer um einen runden Tisch und eine ältere Frau, die Wirtin und Ladenbetreiberin, beziehungsweise deren Schwester. Denn beides zusammen gehörte zwei Schwestern, von denen die eine arbeitete von morgens bis abends und die andere seelenruhig nichts tat, und das schon jahrzehntelang, und in bestem Einvernehmen.
Maria und Martha.
Aber sie hießen Ada und Franca. Und fromm waren sie beide nicht, keine von beiden sah man, außer an Weihnachten, jemals in der Kirche (sie mochten die Pfarrerin nicht, hätten, wenn schon, lieber einen Pfarrer gehabt, einen Mann), dafür im Laden und in der Bar alle Tage.
Offiziell war der Laden bereits geschlossen, doch solange die Bar offen war, konnte man auch in dem Laden noch etwas bekommen, da die Fleißige der beiden, Franca, sowieso alles zusammen besorgte - und auch auf jede Einnahme angewiesen war.
Jetzt stützte sie sich auf die Theke mit verschränkten Armen und hörte dem Gespräch am runden Tisch zu, wo Ada an ihrem Stammplatz zwischen den vier Männern saß. Da machte bereits der Adler die Runde. Außerdem der junge Mann, der Stipendiat, der angekommen war.
Denn einer von den Männern am Tisch war der Wildhüter Christoph, der seinen Alpenjägerhut neben dem Bierglas liegen hatte. Christoph, der immer alles sah, nichts entging ihm in dem Tal, von der Wildpopulation kannte er praktisch jedes Tier, hatte auch diesmal alles gesehen mit dem Fernglas: Maddalena und den Adler. Und bei Susanna dann den Adler von nahem.
Den jungen Mann aber hatte auch Ada gesehen (da hat er sich getäuscht, Andreas, als er dachte, dass es hier ganz ausgestorben sei). Hübsch, hatte sie gedacht, hübsch, mit seinen rötlichblonden Haaren, und ob sich da eventuell etwas anbahnte, eine Unterhaltung, die man so gut hätte brauchen können für die dunklen Tage. Ada, die stundenlang an dem runden Tisch neben dem Fenster saß, fast den ganzen Tag, Zeitung las oder ein Buch las oder Kreuzworträtsel löste, wenn niemand zum Reden da war, dabei mit den Jahren etwas füllig geworden, aber noch immer auf ein wenig Gold an ihrem Hals und an ihrem Brillengestell, noch immer auf ein wenig Prinzessinnenschmuck bedacht, sah immer alles, was auf dem Dorfplatz vorging. Selber unsichtbar, wie der liebe Gott.
Aber der, wie gesagt, spielte hier keine Rolle. Eher schon die Berge. Sogar in der Gaststube hingen noch Bilder von ihnen. Ältere Bilder und neuere Fotos. Keine Bilder sonst, aber die Berge, schwarz und weiß und farbig vor blauestem Himmel. Und noch gar nicht so lang gab es den kleinen Fernseher hoch über der Theke, der die bewegten Bilder brachte. Die Aufgeregtheiten aus aller Welt.
Die Musik half ihm aber nicht, im Gegenteil. In dieser Umgebung wirkte sie noch deplazierter als er selbst. Andreas machte sie aus, nahm den Kopfhörer ab, stellte sich ans Fenster. Er wäre gern irgendwohin gegangen, irgendwo unter Menschen. Aber in diesem Scheißkaff gab es ja bestimmt nicht die Spur eines Nachtlebens. Er sah auf seine Uhr. (Seine Weltumsegleruhr, die er sich in einem Anfall von Hochstapelei einmal gekauft hatte mit seinem ganzen Vermögen, als er dachte, es gehe jetzt nur noch hinauf mit ihm. Und wenn dann seine Glanzzeit anfange, habe er schon mal die passende Uhr dafür.) Erst halb sieben.
Über dem Bergzug am Talende, dort, wo vor kurzem die Sonne untergegangen war, stand jetzt schon der Mond. Lag vielmehr wie in einer Wiege, die er selber herstellte. Eine nagelfeine Sichel. Und in dieser Wiege oder wenig darüber ein sehr heller Stern.
Er wusste nicht, dass es die Venus war und dass es eine eher seltene Konjunktion war bei zunehmendem Mond und auch nur für einen Abend. Am Himmel kannte er sich nicht aus, auch sonst nicht groß mit der Natur. Von seinem Zimmer in der Stadt hatte er nichts vom Himmel, auch nichts von der Natur gesehen, keinen einzigen Baum, bloß eine abgasgeschwärzte Hausfassade auf der anderen Straßenseite.
Der Blick hatte ihn oft deprimiert. Nun machte ihn der Himmel auch nicht froh. Mit den hohen Bergen ringsherum. (Wären es doch Hochhäuser gewesen, Wolkenkratzer, die Skyline einer Metropole!)
Und kein einziges Flugzeug. Kein einziger Düsenstreifen. Nicht das geringste Zeichen des Weltverkehrs. Nur der Sichelmond und der Stern. Und der blau-dunkle Bergzug darunter.
Alles so hoch, still. Wie seit Ewigkeiten.
Als gehöre er gar nicht dazu.
Und er wurde plötzlich traurig, auf eine Weise, wie er noch nie traurig gewesen war. Er wusste gar nicht, wie dieses Gefühl in ihn hineinkam.
»Elisabeth Binder gelingen einprägsame Menschenbilder, die man noch lange vor sich zu sehen glaubt.«
Beatrice Eichmann-Leutenegger, Neue Zürcher Zeitung, 11.09.2010