Die Rückkehr der Jungfrau Maria

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»Ein bezauberndes, wunderschönes Buch: klug, unglaublich wild und sehr, sehr menschlich. Es hat mich bekehrt.« Roddy Doyle

Ob Sie es glauben oder nicht: Die Jungfrau Maria ist zurück. Sie hat kein Spiegelbild, und ihre Kleidung wird immer wieder mal durchsichtig. Das sorgt für Aufregung, gerade beim Sex auf einem Hochseil. Mit diesem Roman ist Bjarni Bjarnason ein irrwitziges Literaturwunder gelungen.
Lange kann Maria nicht geheim halten, dass sie anders ist. Erst verliert sie ihr Spiegelbild, dann verschwinden alle Dokumente über ihre Existenz. Daraufhin erklärt ein bösartiger Bischof sie zur Glaubensfeindin. Bei ihrer Flucht trifft Maria auf den Varieté-Künstler Michael von Blomsterfeld. Ihm beweist sie, dass sie auch in der Zauberei und besonders in der Liebe erstaunliche Talente hat ... Die Jungfrau Maria ist zurück: Bjarni Bjarnason liefert den Beweis.

Eine witzige, skurrile Komödie mit einem exklusiven Covergemälde des Malers Norbert Bisky.
Bjarni Bjarnason ist neben Hallgrímur Helgason ein weiterer schräger Isländer bei Tropen.

Eine Stimme aus dem Buchhandel:

»Was für ein merkwürdiges Buch ist doch »Die Rückkehr der Jungfrau Maria« von Bjarni Bjarnason – merkwürdig im guten Sinne,also im wahrsten Sinne des Wortes. Skurril, verrückt, eindringlich, besonders, schräg – ein Kleinod, das sich jeglicher Kategorisierung entzieht, mich beim Lesen etwas verwirrt hat, aber eben auch berührt und überzeugt.
Weird würde der Engländer sagen.«
Frank Menden, Stories! Die Buchhandlung, Hamburg


Leseprobe
I
Mein Großvater war ein angesehener Theologe an der ChristusUniversität, bis er aus dem Amt entlassen wurde, weil man ihm vorwarf, Irrlehren zu verbreiten. Er hatte eine prophetische Schrift verfasst, basierend auf Texten, die ihm in Träumen erschienen waren, und bot ein dreiteiliges Wahlseminar an, in dem er seine Theorie erläuterte. Die Universitätsleitung ließ ihn zunächst gewähren, da er der bekannteste Wissenschaftler auf seinem Gebiet war und sich nur drei Studenten für das Seminar eingeschrieben hatten. Im Lauf des Semesters kamen jedoch immer mehr Studenten zu Großvaters Prophezeiungsstunden, bis er darum bitten musste, die Aula für seinen Unterricht benutzen zu dürfen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich seine Unternehmungen allerdings schon bei allen wichtigen Universitäten des Landes herumgesprochen, und die Kirchenleitung ordnete eine Untersuchung an. Diese wurde von Bischof Jean Sebastian, dem höchsten Würdenträger vor Ort, geleitet. Während der Untersuchung wurden das Lehrbuch und sämtliche Kopien davon konfisziert und zur Beurteilung an Sachverständige weitergegeben. Bei der abschließenden Sitzung von Kirche und Universitätsleitung verkündete Sebastian die Ergebnisse der Kommission. Laut Protokoll sagte er unter anderem:

»Sofern sich das ansonsten kryptische Buch von Professor Johannes von Blomsterfeld deuten lässt, besteht kein Zweifel, dass er sich darin als Prophet darstellt, oder mit seinen eigenen Worten: Ich bin der Traumnebel, der die Worte Gottes mit blitzender Stimme regnen lässt. Professor von Blomsterfeld drückt sich so aus, als verfüge er über unumstößliches Wissen. Er hält es nicht nur für vorstellbar, dass schon bald eine neue Art von Erlöser erscheint, wie ihn die Menschheit noch nie erblickt hat; er hält es nicht nur für wahrscheinlich, dass ein solcher Retter kommt – nein, Professor von Blomsterfeld behauptet, dass ein solcher Erlöser bereits geboren worden wäre und irgendwo unter uns lebe. Und dieser Heiland, der uns, wie Professor von Blomsterfeld behauptet, in wenigen Jahren erscheine, sei ein gar wundersames Wesen; ein derart absonderliches Wesen ließe sich kaum mit gedruckten Worten beschreiben. Und Professor von Blomsterfeld ist so bescheiden zu sagen, dass er dieses Wunderwesen nicht selbst erfunden habe, nein, er sagt wortwörtlich: Dann wird sie erscheinen, die das Herz der Bibel ist, obwohl dort nur wenige Worte über sie stehen.«

Beim anschließenden Prozess wurde Großvater für schuldig erklärt, die Leute fehlgeleitet zu haben, indem er Aberglaube und Prophezeiungen als Wissenschaft und Lehre ausgegeben habe, sowie dafür, im Namen des christlichen Glaubens »Ideen verkündet zu haben, die nach der Beurteilung von Fachleuten nicht im Christentum verwurzelt, sondern ganz im Gegenteil aus christlicher Sicht pure Ketzerei sind«, wie es im Gerichtsurteil heißt. Ihm wurde untersagt, weiter an öffentlichen Universitäten zu unterrichten, und obgleich es nicht möglich war, ihm zu verbieten, eine eigene Schule zu gründen und sein Buch zu verbreiten, wurde ihm das erschwert, da die Ankläger seine prophetische Abhandlung nie zurückgaben. Sebastian behauptete, das Exemplar sei an die Manuskriptabteilung des Vatikans geschickt worden, auf Wunsch der dortigen Gelehrten, und Großvater könne es dort abholen. Aber im Vatikan wusste niemand etwas über das Buch. Soweit ich mich erinnern kann, sprach Großvater zu Hause nie dar über, und als ich ins Teenageralter kam und es wagte, ihn danach zu fragen, sagte er nur, das Buch von der Rückkehr der Jungfrau Maria sei verlorengegangen. Er wollte mir nichts über dessen Inhalt erzählen, und wenn ich ihn mit Fragen löcherte, antwortete er nur, es sei besser für mich, an etwas anderes zu denken. Und das tat ich.

Ich wollte schon immer Wissenschaftler werden wie Großvater, und wir verbrachten jede Minute, die er für mich erübrigen konnte, in der großen Bibliothek und lasen, schrieben und unterhielten uns. Damals war ich nur ein Kind, das zwischen Büchern lebte und gedieh, die nichts Geringeres enthielten als die Worte Gottes und der wichtigsten Propheten. Doch nach dem Vorfall an der Universität schlug Großvater kein Buch mehr auf und wollte auch nicht, dass ich den Tag mit Schmökern verbrachte. Ich weiß noch, dass ich auf dem erhöhten Stuhl an meinem großen Schreibtisch saß, denselben Goldregenfüller in der Hand wie jetzt, und in den Apokryphen las, als er mich zu sich zitierte und sagte, ich hätte genug gelesen. Er meinte, ich würde mich für einen Jungen meines Alters viel zu wenig bewegen, und da er mich nicht in die Schule schicken wolle, habe er einige Privatlehrer eingestellt, die mich von nun an unterrichten würden und denen ich gehorchen solle. Einer unterrichtete mich in Tanz und Musik, ein anderer in Mathematik und Logik, ein Dritter in Maschinenbau und Werken, und Samuel Wallenda brachte mir Reiten und Turnen bei. Großvater und ich, die wir uns die meiste Zeit drinnen auf gehalten hatten und allenfalls ab und zu durch den Blumengarten der Haushälterin spaziert waren, unternahmen nun lange Wanderungen durch den Wald und die Berge rund um Blomsterfeld und zelteten oder schliefen unter freiem Himmel. Früher hatte Großvater mir immer Geschichten erzählt, aber jetzt erklärte er mir die Natur der Dinge mit der Logik wissenschaftlichen Denkens. Früher flogen die Vögel, weil Gott ihnen am vierten Tag der Schöpfung befohlen hatte, am Himmelsfirmament zu fliegen, und weil es, sieben Tage nachdem er die Erde in einer Flut versenkt und der Mensch die Welt verloren hatte, eine Taube geben musste, die den Olivenzweig finden, damit zu Noah fliegen und dem Menschen die Welt zurückgeben konnte. Doch auf einmal flogen die Vögel nur, weil es ihnen durch den Einsatz ihrer Flügel möglich war, unter den Flügeln mehr Luftdruck zu erzeugen als dar über. Vielleicht war das nur eine natürliche Fortsetzung meiner Ausbildung, aber sie war unbestreitbar wesentlich langweiliger als zuvor.

Manchmal, wenn Großvaters logische Erklärungen und begriffliche Definitionen mir schon graue Haare wachsen ließen, erzählte ich ihm die Geschichten, die er mir als Kind beigebracht hatte, und ergänzte sie nach eigenem Gutdünken. Dann wurde er schweigsam, hob die Augenbrauen und versuchte verärgert auszusehen. Doch manchmal, wenn ich mir eine Geschichte ausgedacht oder alte Fabeln auf neue Weise zusammengefügt hatte und so tat, als beschäftigte ich mich gerade mit etwas anderem, ihm dann aber einen schnellen Blick zuwarf, sah ich ihn verstohlen lächeln. Wenn er merkte, dass ich ihn ertappt hatte, behauptete er, über etwas anderes zu lächeln, dachte eine Weile nach und sagte dann so etwas wie:

»Du darfst dir die Welt nicht zu kompliziert und geheimnisvoll vorstellen, Michael. Das Offensichtliche ist schon inter essant und schön genug.«

Ich wurde jedes Mal traurig, wenn er so etwas sagte, und hätte ihn am liebsten gefragt:
»Warum hast du mich dann jahrelang Aufsätze über all die Dinge schreiben lassen, die man nie wird verstehen können ?«
Aber ich hatte Großvater zu gern und respektierte ihn zu sehr, um mit ihm zu streiten. Stattdessen beschäftigte ich mich ausgiebig mit seinen logischen Fächern und diskutierte über alles mögliche mit ihm. Margret, Großvaters Haushälterin und meine Pflegemutter seit dem Tod meiner Eltern, als ich noch im Säuglingsalter war, sagte, ich dürfe den alten Mann nicht zu viel reden lassen.
»Er ereifert sich immer so, und das ist für einen Mann seines Alters nicht gut.«
Ich versicherte ihr, das Reden würde Großvater jung halten, und er würde bestimmt still während eines traumlosen Schlafs sterben, falls er sich nicht als unsterblich entpuppen sollte. Doch Margret hatte recht: Großvater war alt und gebrechlich geworden. Nach dem Prozess schien er jegliches Inter esse am Leben verloren zu haben und nur noch für mich zu leben. Ich weiß noch, wie er mir einmal, als ich mich mit vierzehn nach seinem Gesundheitszustand erkundigt hatte, über den Kopf strich und sagte:
»Mir geht es gut, Michael, ich werde nicht sterben, bevor du siebzehn und unabhängig bist.«
Ich hätte ihn gerne gefragt, wie er versprechen konnte, noch drei Jahre zu leben, schwieg aber lieber. Mir stiegen Tränen in die Augen, und ich konnte an nichts anderes denken, als dass Großvater sterben würde, wenn ich siebzehn werden würde, wie er gesagt hatte. Danach hörte ich ihm aufmerksamer zu und versuchte, ihn nicht mit Fragen zu ermüden, über die er nicht diskutieren wollte. Es gab Hunderte solcher Fragen, daran erinnere ich mich, und sie hielten mich nachts wach. Doch auch wenn ich mir fest vorgenommen hatte, Großvater am nächsten Morgen eine dieser Fragen zu stellen, schwieg ich, sobald ich ihn am Frühstückstisch traf oder ihm das Tablett von Margret ans Bett brachte. Wenn ich in seine Augen schaute und seine innere Gelassenheit spürte, begleitet von Qualen, wie ich sie mir schlimmer nicht vorstellen konnte, dann wusste ich, dass er die Antwort auf meine Frage kannte, und das war irgendwie genug. Ich musste nicht mehr fragen. Ich hörte ihm zu und lernte, wie ein Orakel mit ihm zu reden, wobei ich mir nie sicher war, ob es die größte Weisheit oder pures Geschwafel war. Oft wusste ich nicht, woher meine Worte kamen, spürte nur, dass Großvater und ich zusammen waren.
Um ihn aufzuheitern, bemühte ich mich, meine Lehrmeister zufriedenzustellen, und obwohl ich nie eine Prüfung ablegen musste, wusste ich, dass sie eine gute Meinung von mir hatten. Mein Lieblingslehrer war Samuel Wallenda, der mir Reiten und Turnen beibrachte. Samuel hatte im Zirkus gearbeitet und eine Zeitlang sein eigenes Varieté-Theater betrieben. Er erzählte mir viele spannende Geschichten aus dem Zirkus, und wir wurden gute Freunde. Ich brachte ihn dazu, mir alle möglichen Zirkusnummern beizubringen: Akrobatik, Seiltanz, Messerwerfen und Zauberkunststücke. Diese Unterrichtsstunden waren unser Geheimnis, doch nach einem halben Jahr bekam Großvater Wind davon. Wütend warf er Samuel hinaus, genau wie ich befürchtet hatte. Doch als er mich zu sich zitierte, war ich vorbereitet. Zunächst hielt er eine Rede dar über, dass der Zirkus lediglich zeige, dass hinter allem Geheimnisvollen nur normale Technik und Mecha nik stecke, und er daher schlicht unnütz sei. Ich entgegnete routiniert:
»Aber ist das nicht genau das, was du mir beibringst?«
Großvater zögerte einen Moment, räusperte sich dann und sagte:
»Ja, in der Tat. Aber ich möchte nicht, dass du Tricks und Techniken lernst, um den Leuten vorzugaukeln, die Welt sei anders, als sie ist. Deshalb habe ich Samuel hinausgeworfen.«
Fast automatisch antwortete ich: »Ja, Großvater«, aber dann fiel mir wieder ein, was ich eigentlich hatte sagen wollen. Ich brauchte einen Augenblick, um Mut zu fassen. Um Wut und Entschlossenheit aufzubauen, dachte ich an die schönen Stunden, die Samuel und ich miteinander verbracht hatten, und sah Großvater dabei nicht an. Dann sagte ich:
»Großvater, ich weiß, dass du mich über alles liebst und nur das Beste für mich willst. Deshalb bitte ich dich nie um etwas. Und ich bitte dich auch jetzt nicht. Aber ich habe entschieden, dass Samuel mich weiter unterrichten wird.«
Verlegen schaute ich Großvater an, denn ich war es nicht gewohnt, so mit ihm zu sprechen. Verwundert begegnete er meinem Blick, musterte mich und sagte dann mit Nachdruck: »Du weißt, dass in den ersten Zirkussen, wie dem Zirkus Maximus in Rom, die wichtigsten Darbietungen Menschenmorde waren.«
»Ja«, antwortete ich, ohne richtig zu wissen, wor über wir eigentlich sprachen. Großvater schaute mir fest in die Augen, und ich musste mich bemühen, seinem Blick stand zuhalten. Dann sagte er leise:
»Nun denn«, schaute aus dem Fenster und fügte hinzu: »Dann haben wir momentan nichts weiter zu besprechen, hinaus mit dir.«
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen und hätte fast wie sonst »Danke, Großvater« gesagt, spürte aber, dass das unangebracht gewesen wäre. Triumphierend eilte ich zu Samuel und sagte ihm, er müsse seine Sachen nicht packen. Von da an mischte sich Großvater nicht mehr in meine Zirkusleidenschaft ein, und ich konnte fast meine gesamte freie Zeit mit Übungen in der alten Scheune verbringen, die Samuel und ich als unser eigenes VarietéTheater einrichteten. Als ich siebzehn war, starb Großvater, und um in Blomsterfeld nicht meinen Erinnerungen zum Opfer zu fallen, ging ich fort, arbeitete in einem Zirkus, den Samuel gekauft hatte, und kehrte erst nach sieben Jahren zurück.
Eines frühen Morgens parkte ich meinen Wagen auf dem Kiesweg im Wald oberhalb des Hauses, damit Margret mich nicht bemerkte. Der alte Pfad war fast ganz mit Gras zugewachsen. Meine Schritte weckten die Rotdrosseln, die den Morgentau abschüttelten und schläfrig ein Präludium zum Konzert des Tages zwitscherten. Ich ging durch die Hintertür in den Keller. Der Geruch war mir ungemein vertraut. Obwohl es düster war, machte ich das Licht nicht an, weil Margret es dann von ihrem Haus aus sehen und sofort herüberkommen würde. Ich ging ins Erdgeschoss, öffnete eine Zimmertür nach der anderen und sah, dass sich nichts verändert hatte – alles war noch genau wie in meiner Erinnerung. Das einzig Überraschende war, wie sauber alles war.
Margret musste öfter als einmal im Monat herübergekommen sein, wie ich sie vor meiner Abreise gebeten hatte. Ich ging die Treppe hinauf, die neunte Stufte knarrte immer noch, genau unter dem Gemälde von Urgroßvater. Der große Politiker. Wollte er mir mit dem Knarren etwas sagen oder mich nur begrüßen ? Oben war es genauso sauber und ordentlich. Ich schaute in alle Räume, außer in die Bibliothek. Wonach suchte ich ? Alles war so vertraut und fremd zugleich. Ich fühlte mich fast wie ein Einbrecher in meinem eigenen Haus. Die Atmosphäre war drückender und beengender, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich öffnete in
Fenster, das zu den Bäumen hinausging, damit niemand sehen konnte, dass jemand im Haus war. Die Vögel im Wald waren hellwach, ein Hahn krähte.
Dann wird Margret sich bald um ihren Blumengarten kümmern. Als ich mich hinauslehnte, merkte ich, dass die Fensterbank feucht war. Ich untersuchte den Rahmen: Er würde bald morsch sein. Als ich nach oben schaute, sah ich Gras aus der Dachrinne wachsen. Was würde es wohl kosten, neunzig Fenster zu erneuern ? Außerdem musste noch die Grundsteuer bezahlt werden, und Großvaters Vermögen war fast aufgebraucht. Ich verdiente zwar beim Zirkus gutes Geld, aber das reichte bei weitem nicht, um das Haus zu unterhalten und genug zum Leben zu haben. Und der Zirkus lief schlecht, konnte jederzeit pleitegehen und stand zum Verkauf. Ich hatte bereits mehrere Kaufangebote für das Haus bekommen. Wenn ich sie annahm, konnte ich den Zirkus kaufen. Das hätte Samuel gefreut. Aber es kam ja wohl kaum in Frage. Großvater hatte keine hohe Meinung vom Zirkus gehabt. Doch wie sollte ich das Haus instand halten ? Ich konnte zwar einen Teil der Gemälde und Möbel verkaufen, aber wie lange würde das reichen ? Die meisten Dinge waren in Familienbesitz, seit das Haus vor über vierzig Jahren erbaut worden war. Ich konnte doch nicht alles verkaufen, um einen Zirkus zu erwerben. Aber was sollte ich tun, wenn ich nicht alles verlieren wollte ? Vielleicht versuchen, mehr zu arbeiten und bessere Ideen zu haben. Wenn ich doch nur meinen Zirkusschrank weiterentwickeln und patentieren lassen könnte. Ich begann, nach meinem alten Zauberkasten zu suchen, den ich vor langer Zeit im Werkunterricht gebaut hatte. Vergeblich suchte ich überall danach. Ich fürchtete schon, er sei verloren gegangen, als ich ohne nachzudenken in Großvaters Schlafzimmer wanderte. Als ich in den Spiegel schaute, sah ich ihn an der Wand über dem Kamin hängen.
Was in aller Welt macht der hier?
Ich nahm ihn herunter und musste einen Moment überlegen, wie man das Geheimfach aufbekam. Als es mir glückte, erschrak ich so sehr, dass der Kasten auf den Boden fiel. Nachdem ich mich wieder gefasst hatte, bückte ich mich und nahm vorsichtig ein kleines handgeschriebenes Buch aus der Geheimschublade. Großvaters geschwungene Schrift auf dem Einband weckte eine mit Angst vermischte Sehnsucht in mir. Auf dem Einband stand: Die Rückkehr der Jungfrau Maria
Niedergeschrieben nach Traumvisionen
von Johannes von Blomsterfeld

Mit zitternden Händen schlug ich das abgegriffene Manuskript an einer beliebigen Stelle auf und las:
Siebter Traum Geboren von Fleisch ist eine Jungfrau
Mutter ist nicht Mutter
doch ist keine andere Mutter
Vater ist nicht Vater
doch ist kein anderer Vater
liebt sie die Menschheit, eine Jungfrau, wird sie geliebt der Mensch von allen Göttern erlöst
liebt sie einen Mann, wird die Frau gehasst
Herzspiegel der Menschen und zerbricht
gebiert die Tochter Gottes
oder vereinigt sich mit der Maschine des Todes nichts wird ihre Schönheit verhüllen
obgleich sie sich jedem Auge entzieht
Worte werden den Himmel füllen
und viele Bücher verbleichen
berührst du die Gesegnete mit der Hand
spürst du dein eigenes Leid
berühre mit dem Herzen

Als ich das Buch zuklappte und weglegte, meinte ich, Großvaters Nähe zu spüren, wagte es jedoch nicht, mich umzudrehen. Nun war ich zu Hause und schaltete das Licht an.

II An dem Tag, an dem Maria merkte, dass sie in die Pubertät kam, blickte sie in den Spiegel. Da erkannte sie, dass sie etwas Besonderes sein musste. Nicht, weil sie so schön war, sondern weil sie kein Spiegelbild hatte.

Das ist ja seltsam, ich habe mich bisher immer im Spiegel gesehen. Sie probierte es mit einem anderen Spiegel, aber ohne Erfolg. Sie schaute auf ihre Hände, an ihrem Körper herunter – alles von ihr war da, genauso sichtbar wie immer. Was war geschehen?

Vielleicht bin ich in dem Moment gestorben, als ich in die Pubertät kam, und jetzt bin ich ein Geist.
Sie begann, nach ihrer eigenen Leiche zu suchen, aber die war nirgends. Und ihr Spiegelbild erschien nicht, wie sehr sie auch versuchte, den Spiegel zu überlisten.
Ich muss für alle unsichtbar geworden sein, außer für mich selbst.
Sie beschloss, in die Küche zu schleichen, wo ihr Vater die Zeitung las, um sich zu vergewissern, dass sie durchsichtig geworden war. Doch sie war noch nicht lange auf Zehenspitzen um ihn herumgegangen, als er unwirsch sagte:
»Was willst du, Maria, siehst du nicht, dass ich die Zeitung lese?«
Also nicht durchsichtig. Aber konnte sie ihn berühren? Mit zitternder Stimme sagte sie:
»Entschuldige, Papa«, beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Als sie die Berührung spürte, stiegen ihr Tränen in die Augen, und sie schämte sich. Er legte die Zeitung weg, zog sie auf seinen Schoß, strich ihr über die Augenlider und flüsterte:
»Was ist los, Prinzessin?«
Nachdem sie eine Weile geweint hatte, sagte sie schluchzend: »Ich habe in den Spiegel geschaut und …«
»Und was?«, fragte er.
»Und ich habe gesehen …«
»Was hast du gesehen?«
Ihr wurde bewusst, wie lächerlich das war. Er würde sich bestimmt um ihre psychische Verfassung sorgen, wenn sie ihm die Wahrheit sagte. Aber sie musste ihm ihr Herz ausschütten, sonst würde sie den Verstand verlieren. Sie nahm all ihren Mut zusammen und versuchte es noch einmal.
»Ich habe in den Spiegel geschaut und gesehen, dass ich …«
Sie verstummte. Jetzt spürte sie, dass sie es einfach nicht erzählen konnte. Und da fühlte sie sich so schrecklich allein auf der Welt, dass selbst die Liebe ihres Vaters sie wie ein Gefängnis umschloss. Sie brach in Tränen aus. Erst jetzt machte sich ihr Vater richtig Sorgen und fragte immer wieder:
»Was hast du gesehen, was hast du im Spiegel gesehen?«, als hinge ihre Zukunft davon ab. Wenn sie es ihm jetzt erzählen würde, wäre er davon überzeugt, dass sie psychisch krank wäre. Sie musste ihn beruhigen und antwortete leise:
»Ich habe gesehen, wie hässlich ich bin.«
Der Vater schaute sie erstaunt an. Dann begann er lauthals zu lachen. Sein Lachen war so herzlich, dass sie davon angesteckt wurde, obwohl ihr überhaupt nicht zum Lachen zumute war. Nach einer geraumen Weile japste er schließlich:
»Du, hässlich …«
Dann lachte er wie ein Verrückter, und sie musste einfach mitlachen, obwohl sie am liebsten geweint hätte. Nach einiger Zeit konnte er sich endlich beherrschen. Er blickte ihr tief in die Augen und sagte:
»Du bist das schönste Mädchen auf der ganzen Welt, Maria.«
Und so wie alle Väter, die das irgendwann einmal zu ihren Töchtern sagen, meinte er es von ganzem Herzen. Doch als er sie jetzt ansah, wurde ihm klar, dass er wahrscheinlich recht hatte. Erschrocken musterte er sie einen Augenblick und sagte dann:
»So, und jetzt lass mich mal die Zeitung lesen.«
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, stand auf und ging in ihr Zimmer. Sie schaute nicht in den Spiegel, sondern legte sich aufs Bett.
Das ist sehr seltsam. Wahrscheinlich habe ich mir das alles nur eingebildet.
Sie würde sich mit geschlossenen Augen zu dem Stuhl vor dem Kosmetiktisch tasten, anschließend die Augen wieder öffnen und dann bestimmt ihr Spiegelbild sehen. Als sie sich vor den Spiegel gesetzt und gewartet hatte, bis ihr Herz ruhiger schlug, öffnete sie langsam die Augen. Sie sah das Zimmer ganz deutlich, aber nicht sich selbst, wollte schreien, etwas gegen den Spiegel schmeißen, saß aber nur still da und starrte vor sich hin. Sie würde einfach warten, bis ihr Spiegelbild wieder erschien. Eine halbe Stunde lang starrte sie, ohne zu zwinkern, in den leeren Spiegel, doch dann wurden ihre Lider unerträglich schwer und fielen zu wie Sargdeckel.
Kurz vorm Einnicken kam sie plötzlich zu sich und schaute in den Spiegel, direkt in die Augen eines entsetzten Menschen, der sie anstarrte. Aber das war nicht sie selbst, und sie hörte einen fürchterlichen Schrei, der sie ängstigte, und schrie auch. Lange waren nur diese entsetzlichen Schreie zu hören, die ihnen gegenseitig Angst einjagten, bis jemand sie in den Arm nahm und ihr immer wieder »schon gut, schon gut« ins Ohr flüsterte. Im Spiegel sah sie ihren Vater sanft die Luft küssen und beruhigend auf niemanden einreden. Sie drehte sich zu ihm, ihr Gesicht mit Schweiß und Tränen überzogen, Panik in den Augen. Er spürte, dass er seine Tochter endgültig verlieren würde, wenn er seiner Angst freien Lauf ließ. Er bat Gott um Kraft und sagte zu seiner eigenen Verwunderung mit vollkommen normaler Stimme: »Du brauchst keine Angst zu haben, mein Schatz, du hast einfach nur kein Spiegelbild.«
Er flößte ihr so viel Vertrauen ein, dass die Gefahr des Verrücktwerdens gebannt war. Sie schmiegte sich fest an ihn und fragte aufgewühlt:
»Warum, Papa, warum?«
Bisher hatte er ihre unzähligen Fragen immer beantwortet und ahnte nun, dass alles umsonst gewesen wäre, wenn er diese eine Frage unbeantwortet ließe. Dann würde sie hinaus in die Welt gehen, auf der hoffnungslosen Suche nach einer Antwort. Widerwärtige Männer würden darauf bestehen, sie zu untersuchen, die Leute würden sich vor ihr fürchten und nach ihrem Leben trachten. Falls die Gerichte sie verschonten, würde der Mob das Gesetz in seine blutbeschmierten Hände nehmen und, und … was konnte er ihr sagen? Es würde nicht reichen, etwas zu erfinden, durch eine Lüge würde er sie von sich stoßen, durch Schweigen würde er sie in der Kälte aussperren. Er musste ihr die Wahrheit sagen. Aber was war die Wahrheit? Das war ihm völlig schleierhaft. Wieder bat er Gott, an den er bisher nicht geglaubt hatte, um Beistand.
»Lieber Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde, ich werde bereitwillig ins ewige Fegefeuer gehen, wenn du mir eine Antwort gibst, die meine Tochter rettet.«
»Warum, Papa, warum?«, hörte er die schöne Stimme seiner Tochter wiederholen, und er spürte, dass er etwas sagen musste – jetzt oder nie. Er begann:
»Weißt du noch, was ich dir eben gesagt habe, Maria?«
»Was?«
»Ich habe gesagt, dass du die schönste Frau auf der ganzen Welt bist.«
»Ja, aber warum habe ich kein Spiegelbild?«
»Weil das, was ich gesagt habe, wahr ist. Du bist es nicht nur in meinen Augen, weil du meine Tochter bist und ich dich liebe. Du bist die schönste Frau auf der ganzen Welt.«
»Aber warum habe ich kein Spiegelbild?«
»Weil Spiegelbilder immer ein umgekehrtes Bild dessen sind, was nicht eben und gleichmäßig ist. Aber die vollkommene Form kann kein umgekehrtes Bild haben. Deine Formen sind vollkommen, und wenn du dein Bild im Spiegel sehen würdest, dann wäre es kein Spiegelbild, sondern eine Nachahmung. Und die vollkommene Form, die in jeglicher Hinsicht eben und gleichmäßig ist, kann kein Spiegelbild haben. Sie ist einzigartig.«
»Bin ich zu schön, um ein Spiegelbild zu haben?«
»Ja.«
»Aber was passiert dann mit mir?«
»Nichts.«
»Und wenn die Leute dahinterkommen?«
»Niemand kommt dahinter. Das bleibt unser Geheimnis. Versprich mir, es geheim zu halten, solange du lebst, auch wenn ich bald sterbe.«
»Du stirbst nicht.«
Er senkte den Kopf, während er tief einatmete, und schaute sie dann mit blassem Gesicht an.
»Versprich mir, es geheim zu halten, solange du lebst.«
Sie sah ihn voller Zuneigung an und sagte beruhigend:
»Ich verspreche es, lieber Papa.«
Dann drückte sie ihn an ihre Brust und spürte zu ihrer Verwunderung, dass er dort lange schlafen würde.

III Maria war in ihrem Studium außerordentlich erfolgreich und legte mit einundzwanzig letzte Hand an ihre Doktorarbeit, die schlicht Liebe hieß. Sie las gerade die Schlussfolgerung »Gott ist Liebe, und frei zu sein bedeutet, ihm verpflichtet zu sein«, als sie plötzlich einen merkwürdigen Schwindel verspürte. Einen Moment lang glaubte sie, ohnmächtig zu werden, alles verschwamm in einem weißen Dunst, und sie konnte die Buchstaben auf den Seiten vor sich nicht mehr erkennen.

Ich darf nicht ohnmächtig werden.
Da sich vor ihren Augen alles drehte, schloss sie diese und versuchte tief durchzuatmen. Nach einer Weile traute sie sich, aufzustehen, musste sich aber an den Wänden und Möbeln abstützen. So konnte sie sich ins Bad tasten, das kalte Wasser in der Dusche aufdrehen und es sich über den Kopf laufen lassen.
»Oh Gott, oh Gott«, stöhnte sie gequält. Bald fühlte sie sich etwas besser, drehte den Wasserhahn wieder zu und griff nach einem Handtuch. Aus alter Gewohnheit schaute sie auf dem Weg aus dem Bad nicht in den Spiegel. Sie rubbelte sich kräftig die Haare, um den Kreislauf anzuregen, machte Tee, ging damit ins Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch.
Tja, was auch immer das war, jetzt geht es mir besser.
Sie nahm die Doktorarbeit, die über zweihundert Seiten umfasste, und blätterte darin. Sie blätterte immer schneller. Die Seiten schienen immer noch leer zu sein, genau wie bei ihrem Schwindelanfall vorhin.
Ist das auch wirklich meine Doktorarbeit?
Alles wies darauf hin. Sie öffnete die oberste Schublade, die voller Notizbücher, Tagebücher und loser Blätter war, auf denen sie alle möglichen Anmerkungen und Ideen notiert hatte. Sie schreckte zusammen. Die Schublade war voller leerer Blätter. Sie riss ein Tagebuch nach dem anderen heraus und blätterte darin, aber sie waren alle so leer, als sei nie ein Wort hineingeschrieben worden.
Stimmt etwas mit meinen Augen nicht?
Sie ging zum Bücherregal, nahm eine Taschenbuchausgabe des Neuen Testaments heraus, schlug sie an einer beliebigen Stelle auf und las die kleingedruckte Schrift:
»Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen.«
Maria stellte das Buch zurück ins Regal und ging mit langsamen Schritten in die Küche zu der Tafel, an die sie eine Menge Notizen und Kommentare zwischen Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte gehängt hatte. Alle Blätter, auf die sie selbst etwas mit der Hand geschrieben oder getippt hatte, waren leer. Sie starrte die Tafel lange an, ging zum Küchentisch, ließ sich auf einen Stuhl fallen und sah aus dem Fenster. Sie hörte das Rauschen des Flusses. Hinter dem imposanten Universitätsgebäude stieg die Gischt des Wasserfalls über den Baumwipfeln auf. Ein Regenbogen. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie flüsterte:
»Warum?«
Sie sank vornüber auf den Tisch und weinte sich in den Schlaf.
Als sie erwachte, war es schon dunkel geworden. Sie ging ins Arbeitszimmer, schaltete den Computer ein und überprüfte den Speicher. Dem Datenverzeichnis nach zu urteilen befand sich nichts auf der Festplatte, und als sie die CDs prüfte, waren auch diese leer. Sie ging in die Diele, öffnete ihre Handtasche und holte ihren Geldbeutel heraus. Nachdem sie sich bekreuzigt und ein kurzes Gebet gesprochen hatte, öffnete sie ihn und nahm ihren Personalausweis in die Hand. Alles, was sie betraf, war gelöscht: Name, Ausweisnummer, Adresse. Sie zog Mantel und Schuhe an und ging nach draußen. Sie nahm den kürzesten Weg zur Unterkunft der Dozenten und klopfte bei Dr. Peter, ihrem Lehrer und Doktor der Theologie. Dr. Peter kam im Morgenmantel zur Tür. Er war schon recht betagt, aber noch sehr agil, und als er sich den Kneifer auf die Nase geklemmt hatte, sagte er:
»Maria, kommen Sie her ein!«
»Entschuldigen Sie, habe ich Sie geweckt?«
»Ja, und ich danke Ihnen dafür, Maria. Wir müssen wachen, denn wir wissen nicht, an welchem Tage unser Herr kommt.«
»Ja.«
»Ist alles in Ordnung?«
Maria schwieg und senkte den Kopf.
»Wenn Sie etwas bedrückt, Maria, dann sagen Sie mir einfach, was ich für Sie tun kann.«
»Danke, Dr. Peter. Auch wenn es schon spät ist, würde ich gerne die Kopie meiner Doktorarbeit sehen, falls Sie sie zur Hand haben.«
»Selbstverständlich, legen Sie ab und nehmen Sie im Wohnzimmer Platz. Ich bin sofort wieder da.«
Maria ging ins Wohnzimmer, ohne ihren Mantel auszuziehen, und setzte sich. Wartete. Je länger sie auf Dr. Peters Rückkehr wartete, desto sicherer war sie sich. Nach einer ganzen Weile kam er zurück und murmelte nachdenklich:
»Das ist merkwürdig, ich finde die Arbeit nicht. Ich verstehe das nicht. Ich habe sie doch kürzlich noch auf meinem Schreibtisch liegen sehen.«
Maria schwieg.
»Es tut mir leid, ich werde etwas gründlicher suchen müssen.«
»Nein, das ist schon in Ordnung. Sagen Sie mir, Dr. Peter, Sie haben nicht zufällig einen Stoß leerer Blätter auf Ihrem Schreibtisch gefunden, mit dem Sie nichts anfangen können?«
»Äh, ja, in der Tat, aber mir ist nicht klar, was ich mit der Dissertation gemacht habe. Warten Sie, ich suche noch einmal.«
»Nein, das ist nicht nötig.«
»Aber wollten Sie die Arbeit nicht sofort sehen?«
»Kommen Sie und setzen Sie sich, ich muss Ihnen etwas sagen.«
Dr. Peter setzte sich Maria ge gen über in den Sessel.
»Was ist los, Maria? Sie wirken ganz anders als sonst.«
»Ich glaube, wir werden die Dissertation nie wiederfinden.«
»Was für ein Unfug, Sie haben nur Angst vor dem Rigorosum am Wochenende. Das ist normal, meine besten Studenten haben immer Angst, kann ich Ihnen sagen.«
Doch Maria fiel ihm ins Wort und begann zu erzählen, was geschehen war. Sie zeigte ihm ihren namen- und nummerlosen Personalausweis und äußerte die Befürchtung, dass sämtliche Klausuren, die sie bisher an der Universität geschrieben hatte, leer seien und dass sie womöglich auch nicht mehr im Studentenregister stehe. Dr. Peter sah sie beunruhigt an und fragte, ob sie sich einen Moment aufs Sofa legen wolle. Maria entgegnete, das würde sie gerne tun, wenn er in der Zwischenzeit hinüber zum Sekretariat gehen und ihr etwas bringen könne, das ihren Verdacht widerlegte. Dr. Peter bat sie, sich zu entspannen, eine Schlaftablette zu nehmen und am nächsten Tag noch einmal über die ganze Geschich te nachzudenken. Nach einigem Überreden willigte er schließlich ein, die Sache zu überprüfen, wenn sie sich so lange hinlegen würde, und so machten sie es. Während Maria auf dem Sofa lag und wartete, dachte sie:
Er findet nichts. Ich weiß es.
Sie behielt recht. Dr. Peter war schweigsam, als er mit leeren Händen zurückkam und sich in den Sessel setzte.
»Es muss eine natürliche Erklärung dafür geben. Was glauben Sie, Maria? Ist Ihnen so etwas schon einmal passiert?«
Maria dachte an das, was sie ihrem Vater versprochen hatte, und sagte:
»Wir müssen mein Rigorosum absagen, meine akademische Laufbahn ist beendet.«
»Na, na, Maria, wir sollten Ruhe bewahren und nichts übertreiben. Es muss eine Erklärung dafür geben.«
»Können wir den Zeitplan denn überhaupt noch einhalten ?« Maria schaute ihn flehend an. Dr. Peter wurde nervös, sagte aber trotzdem:
»Ja, Sie gelten nun mal als die begabteste Studentin, die je an dieser Universität studiert hat, und niemand in der Geschichte unseres Landes hat so viele Stipendien erhalten wie Sie. Außerdem haben einige Professoren Ihre Dissertation bereits gelesen, sodass wir uns, soweit ich es beurteilen kann, daran halten sollten.«
Maria lächelte schüchtern, ging zu ihm und umarmte ihn.
»Es wird bestimmt alles gut«, sagte Dr. Peter und tätschelte ihren Rücken. »Also, wollen Sie sich hinlegen oder nach Hause gehen ? Sie müssen am Samstag in guter Verfassung sein.«
»Ich gehe nach Hause. Danke für alles, Dr. Peter, jetzt geht es mir viel besser.«
Am Samstag hatten sich die merkwürdigen Neuigkeiten bereits in der ganzen Universität herumgesprochen, und noch immer war nichts von alldem aufgetaucht, was Maria, die angesehene, aber geheimnisvolle Studentin, an der Universität je geschrieben hatte. Man beschloss, dass sämtliche Professoren und die besten Studenten ihrem Rigorosum, das zwei Tage dauern würde, beiwohnen sollten, und da es keinen Beweis dafür gab, dass sie jemals eine Prüfung an der Universität abgelegt hatte, sollte sie mündlich über den gesamten Lehrstoff geprüft werden. Mit nur wenigen Pausen wurde sie von acht Uhr morgens bis zehn Uhr abends befragt, und niemand schaffte es, ihr eine Wissenslücke nachzuweisen. Sogar Professoren, deren Vorlesungen Maria nie besucht hatte, befragten sie über ihre Spezialgebiete und notierten sich eifrig ihre Antworten und Erwägungen. Am Abend war Maria verständlicherweise ziemlich erschöpft, denn ihr Rigorosum war um sechs Stunden verlängert worden. Am Ende kam Dr. Peter zu ihr und sagte, sie habe sich besser geschlagen, als man zu hoffen gewagt habe, und wenn es so weitergehe, müsse sie sich keine Sorgen machen, auch wenn ihre Dissertation nicht sofort wieder auftauchen würde.
Am nächsten Morgen waren noch mehr Leute gekommen, um Marias Rigorosum beizuwohnen, und obwohl die Aula fünfhundert Personen umfasste, fanden nicht alle Platz. Diesmal waren auch Professoren von anderen Universitäten unter den Zuhörern, außerdem hohe Beamte aus den Kulturbehörden und der Kirche, wie beispielsweise Bischof Jean Sebastian, derselbe Mann, der auch Großvaters Prozess geleitet hatte. Marias Rigorosum verlief wie im Traum, und es schien klar, dass sie ihr Studium mit Auszeichnung abschließen und ihr alle Wege offen stehen würden. Doch gegen Ende erhob sich der Bischof und bat um das Wort. Groß und schlank, wie er war, schwarz gekleidet und vornübergebeugt, erinnerte er an einen Galgen, wie er dort in der obersten Zuschauerreihe stand und mit eingesunkenen Augen auf die Versammlung hinabblickte. Er sprach sofort das Thema an, das niemand zu diskutieren gewagt hatte, dass Maria nämlich, den Universitätsakten nach, nie eingeschrieben gewesen sei, nie eine Prüfung abgelegt habe, nie Hausarbeiten abgegeben habe und dass es im Grunde anzuzweifeln sei, ob es sich bei ihr überhaupt um jene berühmte Studentin Maria handele, da sie kein entsprechendes Dokument besitze, um es zu beweisen.
»Wie kann es sein, dass es in der Universitätsverwaltung keinen einzigen schriftlichen Nachweis dafür gibt, dass die begabteste Studentin des Landes hier studiert hat ? Was glauben Sie, Maria ? Sie heißen doch Maria, oder ?«
»Ja, ich heiße Maria.«
»Wie erklären Sie sich dieses Verschwinden sämtlicher Nachweise bezüglich Ihrer Person und Ihrer Befähigung?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Nein.«
»Wie steht es um die Christus-Universität, wenn die akademischen Erfolge einer Person gelobt werden, die noch nicht einmal eingeschrieben ist oder jemals eine einzige Prüfung abgelegt hat ? Wollt ihr mir vielleicht erzählen, dass die besagte Doktorarbeit sowie zahlreiche weitere Aufsätze dieser Person sich durch ein unerklärliches Wunder einfach in Luft aufgelöst haben ?«
Die Leute tauschten peinlich berührte Blicke. Sebastian glotzte Maria an, als wolle er sie mit den Augen verschlingen.
»War es vielleicht das, Maria? Ein Wunder?«
»Ich weiß nicht, was es war.«
»Es ist also Ihrer Ansicht nach nicht ausgeschlossen, dass es ein Wunder war?«
Maria antwortete nicht. Im Saal kam Stimmengewirr auf, und die Zuschauer steckten ihre Köpfe zusammen. Nach einer Minute ließ Sebastian seinen Blick langsam über die Versammlung schweifen, und alle verstummten. Entschlossen fuhr er fort:
»Kennen Sie das Buch Die Rückkehr der Jungfrau Maria von Professor Johannes von Blomsterfeld, der vor zehn Jahren an dieser Universität gelehrt hat ?«
»Ich habe davon gehört. Seine Schriften waren wohl sehr umstritten. Aber meines Wissens ist das Buch nirgendwo erhältlich.« »Sie haben es also nicht gelesen?«
»Nein.«
»Sie kennen den Inhalt dieses Buches nicht?«
»Nein.«
Der Bischof schnaubte verächtlich und konstatierte:
»Wissen Sie, ich glaube, Sie haben das Buch Die Rückkehr der Jungfrau Maria von Professor Johannes von Blomsterfeld heimlich gelesen und kennen dessen Inhalt sehr wohl.«
Maria riss die Augen auf. Warum sprach er über dieses Buch? Warum war die Atmosphäre im Saal so aufgeladen? Sie fragte sich, ob man sie womöglich durchfallen lassen wollte, weil sie ein Buch nicht gelesen hatte, das nirgendwo erhältlich war. Seufzend sagte sie:
»Es kann schon sein, dass ich etwas über den Inhalt dieses Buches weiß.«
»Sie wollen uns also sagen, dass Sie wissen, was in dem Buch Die Rückkehr der Jungfrau Maria steht, obwohl Sie es nie gelesen haben.«
»Nein, mein Herr, ich meinte, ich lese so viel …«
»Als Nächstes wollen Sie uns vielleicht weismachen, Sie seien die Reinkarnation der Jungfrau Maria.«
Maria lächelte, aber im Saal war es totenstill. Sie hatte mit allgemeinem Gelächter gerechnet. Sie blickte zu Dr. Peter, in der Hoffnung auf Verständnis, aber er sah sie genauso erwartungsvoll an wie alle anderen. Maria brach der kalte Schweiß aus. Warum starrten diese gelehrten Männer, die ihr so viel beigebracht hatten und die sie liebte und verehrte, sie plötzlich an wie ein Wunderwerk? Sie merkte, wie sich Tränen in ihren Augenwinkeln sammelten, nahm sich aber fest vor, sie zurückzuhalten. Dann spürte sie, dass alles vorbei war, dass sie sich um keine weiteren Fragen und keine Antworten mehr scheren würde. Im selben Moment fiel eine schwere Last von ihr ab. Maria spürte, wie sich in ihrem Herzen Frieden ausbreitete, und lächelte alle im Saal offen an. Sie erhob sich und sagte:
»Liebe Zuhörer, ich möchte Ihnen, bevor ich gehe, eine kleine Geschichte erzählen.«
Sie machte eine Pause, denn sie wusste nicht, welche Geschichte sie erzählen wollte. Dann fing sie einfach an:
»Es war einmal eine Eule, die war die beste Rechtsgelehrte im ganzen Wald. Eines Tages kam eine kleine Drossel zu ihr und wollte ihre Schülerin werden. Da sagte die Eule:
›Ich muss leben, so wie du, und das bedeutet, dass ich arbeiten muss. Deshalb kannst du nur von mir lernen, wenn du dafür bezahlst.‹
›Aber ich habe nichts‹, sagte die Drossel, ›mein ganzer Besitz bin ich selbst.‹
›Du willst Anteil an meinem Wissen haben?‹, fragte die Eule.
›Ja, mehr als alles andere.‹
›Dann schließen wir einen Vertrag. Ich bringe dir eine Wahrheit bei, und du schuldest mir dafür Arbeit, die meiner Arbeit entspricht, dir eine Wahrheit beizubringen. Ich bringe dir zwei Wahrheiten bei, und du schuldest mir dafür Arbeit, die meiner Arbeit entspricht, dir zwei Wahrheiten beizubringen. Wenn du alle Wahrheiten gelernt hast, die ich dir beibringen kann, gebe ich dir Arbeit, und wenn du für mich gearbeitet hast, sind die Wahrheiten bezahlt, dann besitzt du diese Wahrheiten und kannst deines Weges ziehen.‹
›Das klingt vernünftig‹, antwortete die Drossel, ›und ich habe keine andere Wahl, wenn ich etwas lernen will, also nehme ich dein Angebot an.‹
Anschließend lernte die Drossel bei der Eule zehn Jahre lang Rechtswissenschaften, und dann sagte die Eule:
›Nun ist dein Studium beendet, jetzt musst du anfangen zu arbeiten.‹
›Und was soll ich tun?‹, fragte die Drossel, ›ich kann nur das, was in deinen Rechtsbüchern steht.‹
›Das ist gut‹, antwortete die Eule, ›denn jetzt sollst du alles umsetzen, was dort steht. Du sollst die Welt eulenfreundlicher machen und daran arbeiten, dass immer Nacht herrscht.‹
Und zehn Jahre lang arbeitete die Drossel daran, die Welt dunkler zu machen. Nach zehn Jahren kam sie zu der Eule und fragte: ›Jetzt habe ich zehn Jahre daran gearbeitet, die Welt eulenfreundlicher zu machen. Was nun?‹
›Jetzt kannst du tun, was du willst‹, antwortete die Eule.
›Aber ich kann nichts anderes, als die Welt dunkler zu machen‹, sagte die Drossel.
›Dann tu das‹, antwortete die Eule. Und die Drossel tat es, bis sie in einer dunkleren Welt starb als in der, in die sie hinein ge boren war.«
Maria stieg vom Rednerpult und ging direkt zum Notausgang. Dort gelangte sie in einen Flur, in dem nur wenige Leute waren, und konnte das Gebäude unbehelligt verlassen. Nachdem sie so unerwartet gegangen war, entstand ein unzufriedenes Stimmengewirr im Saal. Sebastian saß feixend auf seinem Platz.
Als Maria nach Hause kam, war sie rastlos, lief kreuz und quer durch die Wohnung, stürmte dann zum Kleiderschrank, holte einen Stapel Kleider heraus und legte sie aufs Bett, ohne zu wissen, warum. Dann ging sie zum Fenster und versank in die Betrachtung der Gischt des Wasserfalls über den Baumwipfeln. Die Gischtperlen auf den Blättern glitzerten im Mondschein. Sie fuhr zusammen, als das Telefon klingelte. Es war Dr. Peter.
Er erzählte, nach ihrem Abgang seien einige Professoren aufgestanden und hätten in Sebastians Sinne gesprochen. Momentan seien sie damit beschäftigt, sämtliche Stipendien, die sie bekommen habe, zusammenzurechnen. Sie sprächen von den größten Finanzbetrügereien, die es im Bildungssystem je gegeben habe. Einige forderten, Maria zur Rechenschaft zu ziehen.
»Ich bin zum Rednerpult gegangen und habe Sie und diejenigen von uns, die an Sie glauben, verteidigt, aber ich wurde niedergeschrien. Haben Sie die Doktorarbeit gefunden?«
»Nein, sie wird nie wieder auftauchen.«
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass das vor übergehen wird. Die Leute hören auf, sich so zu verhalten, sobald die Wahrheit ans Licht kommt. Sie haben sich großartig geschlagen. Ich war sehr stolz auf Sie.«
»Ich danke Ihnen, Dr. Peter.«
»Ist sonst alles in Ordnung? Brauchen Sie etwas?«
»Nein, danke, ich habe alles hier.«
»Rufen Sie einfach an, wenn Sie irgendetwas brauchen.«
»Ja.«
»Also dann, Sie sollten sich ausruhen. Wir sehen uns morgen.«
Maria antwortete nicht. Dr. Peter wiederholte:
»Maria, wir sehen uns morgen.«
»Tausend Dank für alles, Dr. Peter, ich werde Ihnen Ihre Unterstützung und Güte nie vergessen.«
»Das ist doch selbstverständlich.«
»Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, mein Kind.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, starrte sie einen Moment lang in die Luft. Dann auf die Uhr.
Draußen ist es mondhell. Wenn ich den Pfad durch den Wald nehme, sollte ich den Nachtzug in die Stadt noch erreichen.
Sie ging mit schnellen Schritten ins Schlafzimmer und holte ihren Koffer.
»Poetisch, abgedreht, zauberhaft: ein verspielter Roman über die heilige Erhabenheit der Liebe und das Sehnen nach Verzückung.«
Annabelle, 8.8.2012

»Es ist eine Geschichte, die der Autor in einem mit Elementen der Fantasie, des Beziehungsdramas, des Thrillers und der theologischen Spekulation gewürzten Szenario zu einem nachdenklich stimmenden Ende führt.«
Wolfgang Schiffer, Kölner Stadt-Anzeiger, 17.8.2012

»Dieser Bjarnason ist mit einer überbordenden Fantasie gesegnet ... sprachmächtig und philosophisch klug ... Wer poetische Geschichten mit einem Schuss Geheimnis mag, in denen auch die Erotik nicht zu kurz kommt, sollte diesem Autor vertrauen. Selbst Bibelfeste werden nicht enttäuscht.«
Holger Kankel, Norddeutsche Neueste Nachrichten, 28./29. Juli 2012

»Wer für schrägen Humor etwas übrig hat und skurrile Geschichten mag, wie sie die Isländer gerne erzählen, wird dieses Literaturwunder von Bjarni Bjarnason lieben.«
Szene Köln Bonn, August 2012

»Zum Niederknien ... In einer Mischung aus Actiontrash, Thriller und allegorischer Heiligenlegende gelingt Bjarnason das Kunststück, eine Geschichte zu erzählen, die sich wie ihr Gegenstand allen Erklärungen entzieht.«
Ralph Gerstenberg, Berliner Stadtmagazin Tip, September 2012
Tropen Roman, aus dem Isländischen von Tina Flecken (Orig.: Endurkoma Maríu)
1. Aufl. 2012, 176 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, exklusives Covergemälde des Malers Nobert Bisky
ISBN: 978-3-608-50122-3
autor_portrait

Bjarni Bjarnason

Bjarni Bjarnason,geboren 1965, hat mittlerweile zwölf Romane publiziert. Sein zweiter Roman »Die Rückkehr der Jungfrau Maria« wurde für den Icelandic ...



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