Geschichte der Haare

Roman
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»Es vergeht kein Tag, an dem er nicht an seine Haare denkt.«

Ob kurz, lang oder rasiert, ob ungekämmt, gegelt, mit Seiten­ oder Mittelscheitel oder als Afrolook - in der Suche nach dem perfekten Haarschnitt scheint sich die Sehnsucht des Erzählers nach einem geordneten Leben zu spiegeln.

Aber jedes Mal, wenn die Frisur sich auswächst, droht wieder alles aus den Fugen zu geraten. Bis Celso auftaucht, ein genialischer und zugleich kleptomanischer Friseur, der durch seine Frisierkunst verspricht, den Traum von der ewigen Jugend Wirklichkeit werden zu lassen. Die Utopie eines ewig unveränderlichen Haars ist jedoch die Perücke, und eine solche führt uns geradewegs in eines der finstersten Kapitel der argentinischen Geschichte.


Leseprobe

KEIN Tag vergeht, an dem er nicht an seine Haare denkt. Stark schneiden oder wenig, ruckzuck abschneiden, wachsen lassen, gar nicht mehr schneiden oder raspelkurz, sich ein für alle Mal eine Glatze schneiden. Eine endgültige Lösung gibt es nicht. Er ist dazu verdammt, sich immer und immer wieder mit der Sache zu befassen. Ein Sklave seiner Haare also, bis er den Löffel abgibt, wer weiß. Und selbst danach noch. Hat er nicht gelesen, dass … ? Wachsen die Haare nicht noch im … ? Oder waren es die Nägel ?

Irgendwann im Sommer – es ist vier Uhr nachmittags und kaum jemand auf der Straße – flüchtet er vor der Hitze in einen menschenleeren Friseursalon. Man wäscht ihm die Haare. Er liegt zurückgelehnt mit dem Nacken auf dem Beckenrand. Obwohl es unbequem und für die Halswirbel schmerzhaft ist und ihm die Sorglosigkeit etwas zu denken gibt, mit der sich seine Kehle dem Hieb jedes zufällig vorbeikommenden Halsabschneiders förmlich aufzudrängen scheint, gelingt es den massierenden Fingern, der von seinem Kopf aufsteigenden Wolke süßlichen Pflanzendufts und dem Druck des warmen Wasserstrahls, ihn zu berauschen und nach und nach in eine Art Dämmerzustand zu versetzen. Nicht lange, und er schläft ein. Das Erste, was er sieht, als er die Augen aufschlägt, so dicht vor sich, dass er es verschwommen sieht, wie auf Treibsand gemalt, ist das Gesicht des Mädchens, das ihm den Kopf wäscht, über ihn gebeugt, verkehrt her um, ihre Stirn auf Höhe seines Mundes. Was tut sie ? Beschnuppert sie ihn ? Will sie ihn küssen ? Er verhält sich still, beobachtet sie aus blinden Augen, bis das Mädchen nach einigen Sekunden der Konzentration, in denen sie sich sogar das Atmen verkneift, mit einem langen, spitzen Fingernagel ein irregeleitetes Shampoorinnsal stoppt, das ihm ins Auge zu laufen drohte. Gerade aufgewacht, kann er sich nicht erinnern, so sehr er sich bemüht, wie dieses Gesicht vor zehn Minuten ausgesehen hat, als er den Friseursalon betrat und seiner zum ersten Mal ansichtig wurde, während sie bestimmt mit der Frage auf ihn zukam: »Auch waschen ?« Jetzt ist es so nah, dass er nicht imstande wäre, es zu beschreiben. Er könnte sich in sie verlieben. Eigentlich weiß er nicht, ob er sich nicht schon verliebt hat, als er die Augen aufschlägt und ihr Gesicht dicht vor sich sieht, riesig, ein wenig so, wie er es aus dem Kino kennt, wenn er für Sekunden einschläft und beim Aufwachen dem stets unfehlbaren Zauber des ersten Bildes verfällt, das er auf der Leinwand sieht.

Ganz gleich, ob das, was da auftaucht, eine Landschaft ist, ein von Efeu überwucherter Mauerrest, eine von Menschen wimmelnde Hauptverkehrsstraße, eine Viehherde, das berühmte Fabriktor der Brüder Lumière – das erste Bild ist immer ein Gesicht. Das Gesicht ist das Phänomen schlechthin, das einzige Objekt der Verehrung, gegen das kein Kraut gewachsen und keine Verteidigung möglich ist. Das ist etwas, das er früh lernt, beim Übersetzen von Shakespeare, als ihn ein Stadttheater mit der Übertragung des Sommernachtstraums in modernes Spanisch beauftragt. Er übersetzt den Text in Rekordzeit, wie in Trance, so wie er damals alles übersetzt, was ihm unterkommt: Bedienungsanleitungen für Haushaltsgeräte, Filmdialoge, Kant, befreiungstheologische Schriften, Lacansche Psychoanalyse, Aufträge, die er, kaum angenommen, durch die »Maschine« jagt, wie er damals zum Übersetzen sagt, und anschließend in einer Art rauschhaften Verdauungstaumels ausscheidet. Aber nachdem er seine Arbeit abgeliefert hat und die Kommentare des mit der Inszenierung betrauten Regisseurs zu hören bekommt, eines zwergenhaften ehemaligen Akrobaten, der Zigarette mit Spitze raucht und den Rauch zur Seite ausstößt, durch das Ausfalltor eines flüchtigen Backenzahns, geht die ganze kostbare Zeit, die er mit seiner Methode des Aus-der-Hüfte-Übersetzens gewonnen hat, zum Teufel, gnadenlos zum Teufel, als man ihn nach Hause schickt mit seiner fünfundachtzigseitigen Fassung und der Aufforderung, oder richtiger: dem Befehl, die Proben beginnen immerhin schon in einer Woche, ihr einen etwas jugendlicheren Ton einzuimpfen – ausgerechnet er, der noch keine dreiundzwanzig ist und bereits wie vierzig wirkt –, seitenweise hochtrabende Verse zu streichen, den Text mit den immergleichen trostlosen Lockstoffen aus Witzchen, Gegenwartsbezügen mit Lokalkolorit und lächerlichen Schüttelreimen zu verbrämen – die einzige Chance, wie ihm der Regisseur beschämt gesteht, den Gymnasiastenhorden einen Shakespeare zu verkaufen, die, ihrerseits gezwungen, ihn für die Schule anzuschaffen, und die wichtigsten, wenn nicht die einzigen Kunden solcher Stadttheaterinitiativen, schon bald ihre Lachsalven und Rülpser in den moribunden Theatersälen vom Stapel lassen, die von ihren Reservierungen leben.

Das Theater! Immerhin rettet er, der eher schamhaft und wenig gesellig ist, von dieser Erfahrung vor allem die Art, wie es ihn dazu bringt, sich der Welt zu öffnen, sowie das – für ihn vollkommen unerhörte – Bedürfnis, seine Arbeit der Meinung, den Vorstellungen und dem Geschmack anderer Leute zu unterwerfen und gegebenenfalls zu korrigieren, wenn seine Übersetzung, so perfekt sie, frisch aus der Maschine, auf dem Papier wirkt, im Mund der Schauspieler aber, wie ihm die Proben wiederholt vor Ohren führen, zu wünschen übrig lässt oder sich schlechterdings als unsprech bar erweist. An einsames Arbeiten gewöhnt und dar an, sein eigener Chef zu sein, ohne Teilhaber an seiner Seite, fällt es ihm schwer, dieser besonderen, zugleich bedingungslosen und launischen Gemeinschaft zu vertrauen, auf die sich das Theater so viel zugutehält, eine, die bei der offiziellen Vorstellung des Ensembles mit großem Trara ihren Ausgang nimmt, die mit der sogenannten Textarbeit, den Bühnenproben, den Kostümproben, den Rivalitäten, dem wahllosen Flirten zur Blüte gelangt, sich mit den in unendlicher Warterei vertanen Stunden, mit Verspätungen, Weinkrämpfen in den Garderoben, Geselligkeit in den Cafés im Umfeld des Theaters konsolidiert und ihren absoluten Höhepunkt bei der Premiere erlebt, so wie sie sich mit den ersten Aufführungen ebenso rasch wieder verliert, als wäre das ganze fein gesponnene soziale Gefüge nur dazu da gewesen, die extremen Strapazen der Premiere zu ertragen, um sich schließlich wenige Wochen später in Luft aufzulösen, wenn das Stück vom Spielplan verschwindet und dieselben Leute, die noch einen Monat zuvor für jedes Ensemblemitglied ihr Leben gegeben hätten, jetzt in alle Richtungen auseinanderlaufen, allgemeiner trauriger und lautloser Exodus auf der Suche nach neuen Arbeitsverträgen. Immerhin wird er — auf seine Weise, logisch, man muss ja nicht gleich nach den Sternen greifen – zu einem begeisterten Anhänger dieser instabilen Bruderschaft, so wie man sich auf eine medizinische Behandlung einlässt, deren Erfolg in direktem Verhältnis zu den Opfern steht, die sie einem abverlangt. Auch dann noch, als er sich Widrigkeiten ausgesetzt sieht, auf die er nicht im Mindesten vorbereitet ist: Wenn er zum Beispiel seine krankhafte Schüchternheit überwindet und mit einer Schauspielerin plaudert, die er zum ersten Mal im Leben sieht, die ihm gefällt (obwohl Monate vergehen können, bevor er sich das eingesteht), und die ihn, während sie verschämt am Glitzersaum der Kostümflügelchen knabbert, die man ihr verpasst hat, plötzlich und ohne Vorwarnung fragt, ob es schon vorgekommen sei, dass ihm eine Fee aus den Athener Wäldern angeboten habe, ihm in der Toilette einer Theatergarderobe einen zu blasen; oder der Vorfall eines Nachmittags, den er nie vergessen wird und der ihn noch Wochen später erröten lässt, wo immer ihn die Erinnerung dar an einholt: dass er in Anwesenheit des gesamten Ensembles den weiten Richtplatz des Probenraums überqueren muss, in seiner Cord hose, seinem Streifenhemd, seinem Wollpollunder und seiner Empfindlichkeit, Ausdruck einer Schüchternheit, eines Verhaftetseins in Konvention und einer »Verklemmtheit« – wie er später, als er treppab läuft, jemand leise sagen hört –, wor über nachzudenken ihm nie in den Sinn käme, so sehr sind sie Teil seines Wesens, hätten die spöttischen Mienen, mit denen die Schauspieler ihn betrachten – sie, deren Leben davon abhängt, dass jemand sie anschaut –, und sein eigenes hilflos unsicheres Konterfei in einem Spiegel, der sich über die gesamte Längsseite des Raums erstreckt, sie ihm nicht unter die Nase gerieben.

Er rettet von der Erfahrung das soziale Brodeln, die Erregung und Leidenschaft, von anderen abzuhängen, sich Strümpfe, Tanzschuhe, Schminke, Tampons zu leihen, sogar den Drang von Schauspielern, sich beim erstbesten Anlass um den Hals zu fallen und zu küssen, wie es ehemaligen Kameraden einer Stu dienabschlussfahrt oder den Überlebenden eines Flug zeug unglücks eher anstehen würde als Leuten, die sich ohnehin den halben Tag auf der Bühne eines Theaters oder in einem Clownkurs oder in einem der bis zum frühen Morgen geöffneten Restaurants der Innen stadt sehen. Letztlich rettet er all das, was ihn in Frage stellt und aus der Haut fahren lässt, aus seinen Grübeleien reißt, selbst auf die Gefahr hin, dass es ihm zu viel wird oder ihm, wie es schließlich auch geschieht, den Schwur entlockt, kein Geld der Welt werde ihn dazu bringen, noch einmal eine Zeile fürs Theater zu schreiben.

Insbesondere aber verdankt er dem eigentlichen Text des Sommernachtstraums eine Entdeckung, von der sich zu erholen die Jahre, die er schon hinter sich und vielleicht noch vor sich hat, kaum ausreichen werden: die Idee eines Liebesfilters, der sich einem Schlafenden über die Lider legt und ihn beim Erwachen zwingt, sich in das Erstbeste zu verlieben, das er sieht, wenn er die Augen aufschlägt, ganz gleich, was es ist, wildes Tier, Kind, zahnlose Alte oder himmlische Schönheit. Das Mittel wird in der ersten Szene des zweiten Akts eingeführt, wo König Oberon es bei Titania, seiner Frau, anwenden will, um ihr die Liebe zu dem jungen Pagen auszutreiben, auf den er ebenfalls ein Auge geworfen hat, strenggenommen aber ist es der Ursprung aller sich in der Komödie überschlagenden sentimentalen Missverständnisse. Im Schlaf mit dem Elixier beträufelt, verliebt sich Titania, die sich doch nur nach ihrem Pagen sehnt, in einen fahrenden Komödianten von vollendeter Schlichtheit, vergisst Lisan der seine angebetete Hermia, um Elena zu ver fallen, und so in einem fort. Ein Tropfen, ein einziger Tropfen von diesem Saft, der nicht aus irgendeiner, sondern aus einer ganz bestimmten Blume gekeltert ist, schon gerät die Sehnsucht außer Rand und Band.

Warum? Sich das zu fragen, kann er seither nicht mehr aufhören. Er durchschaut vollkommen die Gewöhnlichkeit des Tricks, ist nicht blind für seine perfide Komik, aber dennoch, war um sollte ein x-beliebiges Gesicht, in das man, zurück aus einem Traum und gerade wieder bei Sinnen, schaut, diese Zauberwirkung besitzen ? Nur weil es das Erste ist, was man sieht, und weil der Erwachende es sieht, wenn er am verletzlichsten ist, bevor die Vorsicht, die Distanz, das Misstrauen, das ganze vielfältige Verteidigungssy stem, wodurch das Leben im Wachzustand erträglich wird, Zeit gefunden hat, sich neu zu organisieren und ihm Deckung zu geben? Oder weil es vielleicht dieses Gesicht ist, das er beim Aufwachen sieht, belanglos und himmlisch, gleichgültig und wundersam zugleich, das ihn aus dem Traum heimholt und aus der Dunkelheit befreit, rettet, dem Leben zurückgibt? Warum nicht?, fragt er sich. Schlafen, Augen öffnen, das Herz verlieren … Vom anderen nicht mehr wissen als das, was man auf der Stelle, unverzüglich weiß: dass er ein Objekt der Begierde ist. Das ist alles, was er weiß: dass er nichts als ein Objekt der Begierde ist.

Kurzum – obwohl er nur ihre zu stark geschminkten Augen fokussieren braucht, ihre Sommersprossen, die beiden Aluminiumkügelchen, die an ihren Nasenflügeln funkeln, welche sich bald entzünden werden, um zu wissen, dass er sich nicht in das Mädchen verliebt hat, das ihm an diesem Nachmittag im Friseursalon die Haare wäscht –, er selbst weiß nichts von ihr und sie nichts von ihm, jedenfalls nicht mehr, als was sich ihrem Blick darbietet. Sie hat ihn zum Beispiel nicht gekannt, als er zwölf war und glattes, bis auf die Schultern reichendes blondes Haar hat und diesem nur Aufmerksamkeit schenkt, nur bemerkt, dass er es hat und wie er es trägt, wenn irgendein Zwischenfall die Natürlichkeit stört, mit der er sich dar an gewöhnt hat, es zu vergessen: wenn sein Großvater in einem seiner Anfälle viriler Zuneigung, die ihn am meisten in Wallung bringen, im Vorbeigehen eine seiner Strähnen packt und droht, sie radikal abzuschneiden, mit der Schere, die er mit Zeige- und Mittelfinger der anderen Hand imitiert, während eine mit der Zunge improvisierte Tonspur, zick, zick, zick, die von den Fingern verheißene Exekution vorwegnehmen, oder wenn in einer Warteschlange, zum Beispiel bei der Post, am Kiosk oder in der Apotheke, jemand hinter ihm etwas fragen will und laut »Fräulein« sagt, und er erst Sekunden später, als er den tippenden Finger des Unbekannten auf seiner Schulter spürt, merkt, dass man ihn mit einer Frau verwechselt hat, oder als er, gerade in Rio de Janeiro angekommen, das erste Mal mit dem Flugzeug unterwegs, das erste Mal im Ausland und an einem Ort, wo man eine ihm unbekannte Sprache spricht, mit seinem Vater und seinem Bruder zu einem Strandspaziergang aufbricht und ihnen in der Dämmerung ein Schwarm schwarzer Frauen folgt, die sich um ihn drängen, kreischen und ihm mit ehrfürchtigem Staunen über den Kopf streichen, als verströme sein Haar einen heiligen Glanz, imstande, sie zu verjüngen oder ihnen die Hände zu verbrennen.

Nein: So beleidigend es für ihn sein mag, das Mädchen kennt ihn nicht, und das Missverhältnis, das er zwischen diesem Nichtkennen, in das sich Unerfahrenheit, Desinter esse und die Routine einer aus ihrer Sicht weit unter ihren Fähigkeiten rangierenden Arbeit mischen, und all dem, was sie oder jede andere an ihrer Stelle – egal ob mit durchstochenen Nasenflügeln oder ohne, ob mögliches Objekt der Begierde oder nicht – seiner Meinung nach von ihm, von seinem Fall wissen müsste, damit die Entscheidung, seinen Kopf in ihre Hände geben, nicht das ist, was er jetzt klar und deutlich sieht: der Auftakt zu einem selbstmörderischen Unterfangen, stellt exakt die Sorte von Alptraum dar, die imstande ist, ihm für die nächsten zwanzig Minuten, was der durchschnitt lichen Dauer eines gewöhnlichen Haarschnitts entspricht, das Leben gründlich zu vergällen. Aber wer hätte das Recht, ihr etwas vorzuwerfen ? Was könnte sie denn von ihm wissen – angenommen, sie würde eines Tages etwas von ihm »wissen« und etwas von dem, was sie »weiß«, erinnern, bei den vielen hundert Köpfen, die jede Woche durch ihre Hände gehen – , wo es doch das erste Mal ist, dass er diesen Friseursalon betritt ?

Denn vorab stellt sich eine andere Frage, und zwar: Wieso besucht er, der ein spezieller Fall ist, ein kleines Pro blem hat, weiter Friseursalons zum ersten Mal? Warum ist er so erpicht auf diesen Gang zur Schlachtbank? Und doch ist es so: Er macht weiter. Er kann nicht nicht weitermachen. Es ist das Gesetz der Haare. Jeder Friseursalon, den er nicht kennt und in den er sich wagt, ist eine Gefahr und eine Hoffnung, eine Verheißung und eine Falle. Vielleicht macht er einen Fehler und erlebt ein Desaster, aber was, wenn das Gegenteil der Fall ist ? Was, wenn er endlich auf das Genie stößt, das er sucht? Was, wenn er aus Angst nicht hineingeht und es verpasst ? Immer ist es ein gewagter Schritt, den er in der Regel nicht unternimmt, wenn er nicht vorher eine endlose Reihe steriler Debatten durchfochten oder irgendeine Sicherheit hat. Diesmal, im Unterschied zu anderen Malen, kennt er den Friseursalon nicht, niemand hat ihn ihm empfohlen, er hat nichts über ihn gelesen, ist nicht einmal durch sein Äußeres auf ihn aufmerksam geworden, über das er auch schwerlich etwas sagen könnte, so geblendet ist er von der Weißglut des Sommernachmittags, an dem er ihn entdeckt. Gesehen hat er bloß vom ge genüberliegenden Bürgersteig aus die Spiegel, die Stühle, die Leuchtstoffröhren, eine insgesamt blitzblanke Atmosphäre, die er automatisch mit Frische assoziiert, ist über die Straße gegangen und eingetreten. Und der Friseursalon ist menschenleer. Das hat noch gefehlt. Braucht es mehr, um zu wissen, dass er schon geliefert, verloren, ohne jede Chance ist, noch bevor man ihn vor den Spiegel setzt, seinen Körper in den dämlichen Plastikumhang hüllt, ihn mit dem nutzlosesten und unlösbarsten Dilemma konfrontiert – soll er die Arme draußen lassen ? – und ihn fragt, was er lieber möchte? Bereits als Kind bringt man ihm bei, ja keine leeren Geschäfte zu betreten. Niemals ein Restaurant, noch viel weniger einen Friseursalon. Wer wird ihm später, wenn alles vorbei ist und er wieder auf die Straße tritt, den Kopf für mindestens einen oder anderthalb Monate zu einem unbeschreiblichen Schandfleck gestutzt, Glauben schenken, wenn er zu seiner Entschuldigung anführt, er sei der Hitze wegen hin ein gegangen, nur ein echter Notfall könne eine für jemand wie ihn so unvernünftige Handlung erklären, unvernünftig in mehr als einer Hinsicht, aber zweifellos nicht hinsichtlich der Haare, die ihm den Schlaf rauben seit, ja, seit wann eigentlich? Wie lange schon lassen ihn die Haare nicht los, treiben ihn um, martern ihn?

Er wüsste keine Antwort. Es gibt einen Moment in seinem Leben, wo er anfängt, an die Haare zu denken wie andere an den Tod. Das passiert nicht auf einen Schlag, Ah, die Haare! Er entdeckt nichts, dessen Existenz ihm unbekannt gewesen wäre. Er hat immer gewusst, dass die Haare da sind, irgendwo im Hintergrund, aber er konnte pro blemlos damit leben, sich ihrer nicht bewusst zu sein, nicht an sie zu denken. Er erfährt nichts Neues, er entdeckt nur eine andere Dimension; nichts, was sein bisheriges Leben nicht eingeschlossen hätte, sondern was schon in ihm war, insgeheim und mit der Geduld eines Wiederkäuers in ihm gearbeitet und nur auf den richtigen Augenblick gewartet hat, um zu erwachen und die ersten sichtbaren Lebenszeichen zu geben. Der Tod ist dafür ein klassisches Beispiel. Man weiß, dass es »ihn gibt«, wie man weiß, dass die Schwerkraft jeden Körper zu Fall bringt oder dass Wasser bei einer bestimmten Temperatur verdampft. Man nimmt das hin: eine unsichtbare, tagein, tagaus in so homöopathischer Dosis verabreichte Gewissheit, dass sie an Deutlichkeit verliert, mit dem Kontinuum des Lebens verschmilzt und am Ende unbeachtet bleibt. Jahrelang. Bis der Tod plötzlich anklopft und sein Recht fordert. Jemand, den er kennt, erleidet am Steuer einen Herzschlag, und der Stuhl, den man ihm zwei Wochen später zu seinem Geburtstag freihält, bleibt für immer leer. Ein naher Bekannter klagt über lästige Schluckbeschwerden, und ein paar Tage später lässt der Arzt, der seinen Bericht in einer Akte vermerkt, den Stift sinken, hebt den Kopf und schaut ihn stirnrunzelnd an. Plötzlich überschlagen und erhärten sich die Ereignisse: Was stumm und unsichtbar war, nimmt Gestalt an, versteinert, wird unvermeidlich, ein dunkles Hindernis, das den Weg zwar nicht völlig blockiert, aber eine Kollision unausweichlich macht, und das, lauernder Eindringling, auf jedem einzelnen Schnappschuss auftaucht, den wir von uns machen, wenn wir uns im Geist unsere Zukunft vorstellen.

Von den beiden Linien, in die sich seine Familie teilt, der väterlichen und der mütterlichen, der kahlen und der vollhaarigen Linie, gehört er zweifellos zur letzteren. Er hat nicht alt werden müssen, um das festzustellen. Er weiß es vor Vollendung seines zwanzigsten Jahrs. Sein Vater ist noch keine vierundzwanzig, als sich schon beidseitig des Kopfes zwei fürchterliche Keile kahler Haut wie Meeresarme in einen Kontinent vorschieben. Sein älterer Bruder verlässt das Konservatorium vom vierten auf das fünfte Jahr ohne Abschluss in einem einzigen Fach, und als er schon glaubt, die einzige Veränderung, die das vor ihm liegende sonnige Leben erfahren wird, sei jene, die gerade die Bibliothek seines Zimmers erfährt, aus der über Nacht die Opernlibretti verschwinden und durch eine Sammlung von Pferderennsport-Heften ersetzt werden, die, so unwahrscheinlich es klingt, in Format und Umfang miteinander identisch sind und auch die gleichen mnemotechnischen Anforderungen stellen, im einen Fall, um eine Arie mit einem Bariton im Duett zu singen, im anderen, um am Schalter ohne das leiseste Zögern und mit dem Pedigree seines aktuellen Pferdchens im Kopf eine Wette abzugeben, findet er sich in der Dusche hockend wieder, um den Abfluss von etwas zu befreien, das er zunächst für ein durchs Fenster her eingewehtes Blatt gehalten hat, um dann einzusehen, dass es Haare sind, seine Haare, Haare, die vor dem Duschen zu seinem Kopf gehörten und die er jetzt notgedrungen und trotz des Ekels, den organische Reste ihm verursachen, wenn sie sich mit industriellen paaren, in den Mülleimer wird befördern müssen, in dem schon Klopapierfetzen, eine gebrauchte Rasierklinge, Heftpflaster und einige Wattepads liegen, getränkt mit einer Desinfektionslösung, die er benutzt, um die Pickel im Gesicht trockenzulegen. Das ist der Gang der Dinge. Ein anderer, jüngerer Bruder wacht eines Mittags auf, nach einer durch reihenweise angenehme, einsame Scharmützel belebten Nacht, und bemerkt, als er die Spuren seiner spätpubertären Hormone in den Laken inspiziert, die beiden winzigen Haarreste am rechten und linken Kissenrand, die seinen Kopf in Anführungszeichen setzten, während er ihn im Handgemenge der Arme und Beine einer schlaflos fröhlichen Orgie verlor, von der ihm keine Erinne rung bleibt.

Alle kahl. Unwiderruflich kahl, noch bevor sie die Schwelle überschreiten, die aus ihnen Männer macht. Sein Los dagegen sind Haare. Mehr noch: Haare im Überfluss. Es stimmt, dass ihn eine Weile die Angst umtreibt, sie könnten ihm ausgehen, und dass die Fülle glatten, blonden Haars ihm vielleicht wenig nützt, wo doch – bei dieser »Adoleszenz« genannten körperlichen Leistungsschau – nicht Köpfe, sondern Körper beurteilt werden, speziell Brust, Achseln, Beine, Schambereich. Letzterer vor allem. Er fragt sich ein ums andere Mal, welchen Vorteil er von dieser Mähne hat, wie sein Großvater sie verächtlich nennt, wenn er den Duschraum des Clubs betritt, dieses geflieste Unwettertheater, ohne etwas anderes vorweisen zu können als eine glatte, glänzende Haut, haarlos wie die eines Delfins. Vielleicht steht das Viele oben in Beziehung zu dem Wenigen unten, denkt er manchmal. Er denkt das weniger, um sich zu beruhigen – die Hypothese ist zu abstrakt, um die Anspannung zu mindern, die er jedes Mal spürt, wenn er an einer der kriminologischen Ge gen überstellungen teilnimmt, wie sie in den Duschen stattfinden –, als um seiner Eigenartigkeit einen geeigneten Platz zuzuweisen, und sei es nur in einem Satz, den er bei Bedarf wie ein Mantra zur Beruhigung im Stillen wiederholen kann. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, und alles, was eine Frage der Zeit ist, löst sich, wie er bald lernt, im Zeitvergehen.

Er hat so viel Haar, er könnte damit, wie es so schön heißt, um sich werfen, weshalb er sich irgendwann den Luxus schlechthin erlaubt: dem glatten Haar Lebewohl zu sagen. Er weiß es nicht, aber es ist seine Art der Proletarisierung. Es beginnen die siebziger Jahre, und scharenweise leisten von heut auf morgen die Kinder aus der unteren und oberen Mittelschicht, aus klein- und sogar großbürgerlichen Verhältnissen Verzicht auf den Thron, der ihnen von Geburts wegen zusteht, entsagen freiwillig den Privilegien, die sie genossen haben, geben ihr komfortables Heim auf, die teuren Wohnviertel, Hausmädchen, Rugby, Taxis, Reisen, Markenklamotten, Fremdsprachenkenntnisse, sämt liche Frivolitäten, die bis dahin das Element bildeten, in dem sie gelebt und geatmet haben, heute noch unverzichtbarer Teil ihrer selbst, Identitätssiegel und Quell von Zufriedenheit und Vergnügen, morgen schon Inbegriff von Gewalt, Niedertracht und unmensch licher Ausbeutung, ziehen in Elendsviertel, in ärmliche Gegenden, in Mietskasernen schmutziger Vorstädte ohne Strom und Trinkwasser, ohne geteerte Straßen, wo sie sich gleichmachen und mittels ei ner Technik, die andere Jahrzehnte später »Eintauchen« nennen werden, die Gesetze des Lebens der ausgebeuteten Klassen erlernen, deren Los zu ändern sie auf ihre Fahnen schreiben. Wor auf soll er mit seinen elf, zwölf Jahren verzichten, wenn nicht auf den Thron seiner Haare ? Auf seine Comic-Heft-Sammlung ? Auf sein abgegriffenes Exemplar von Tim und Struppi im Reiche des schwarzen Goldes ? Auf die beiden Rot ring 0.2, einer davon knochentrocken, mit denen er einige Karikaturen zeichnet, die nie jemand zum Lachen gebracht haben ? Nichts von all dem, was er genießt, gehört ihm. Nicht einmal das Recht, zu genießen. Sein Haar dagegen … Es ist bei ihm nicht nur eine Zugabe. Vielmehr ahnt er, und sicher hat die Epoche ihren Anteil dar an, wie sehr ein blondes, glattes Haar wie seins, das er bislang als selbstverständlich hingenommen hat, ohne sich dar über den Kopf zu zerbrechen, so wie andere ihre Augenfarbe oder ihre Schuhgröße für etwas Selbstverständliches halten, auf dem Markt der Haare nicht länger irgendein Haar ist, eines unter anderen, eines wie andere, sondern sich in ein besseres, höheres, erstrebenswertes Haar verwandelt, wie jene Münzen, die gemeinhin unauffällig zirkulieren, bis sie plötzlich in ein Raster passen, das sie selten macht und ihren Wert ins Unermessliche steigert. Das Haar ist sein Reichtum, seine Goldreserve, der Rest womöglich bloßer Zeitgeschmack oder schlicht Opportunismus. Im Land knirscht es. Wenn glattes Haar hier noch seinen Platz hat, dann als blondes sicher nicht, ist es doch die bürgerliche, die kompromittierte Farbe schlechthin. Höchstens als dunkles, pech schwar zes Haar, seine kreolische oder Vorstadtvariante, die manchmal mit einem Oberlippenbart einhergeht sowie mit allem, was heimischer Herd, Clique, Gewerkschaftsversammlung und politische Radikalisierung zu bieten haben.

Locken aber sind zweifellos die Stars unter den Haaren; und das, was man seit Angela Davis bis heute als Afrolook bezeichnet, ist die stilistische Nummer eins. Obwohl er es begrifflich nicht so klar fassen könnte, zum einen, weil die ikonische Bedeutung des Haars nicht unbedingt eine Entsprechung auf sprachlichem Gebiet besitzt, zum anderen, weil schon die Drohung eines schimpflichen Vorwurfs wie der der Frivo lität genügt, damit eine ungemütliche Scham die Prioritäten einer ganzen Generation umkrempelt, ist es für ihn sonnenklar: Der Afrolook ist das Maß der Dinge. Dreißig Jahre später sieht er Black Panther Newsreel, den Film von Agnès Varda über die Black Panthers, und ihn beschleichen zwei widerstreitende Gefühle: einerseits spontane, fast irrwitzige Begeisterung, als er feststellt, wie recht er hatte, Türen schlagend aus der Welt der Glatthaarigkeit zu desertieren, damals, als andere sich dafür entscheiden, Besitz und Privilegien zu verlieren oder aufzugeben und zu verarmen, und andererseits untröstliche Traurigkeit, da es ja kein größeres Unglück gibt, als wenn uns der Zufall in seiner unverzeihlichen Rücksichtslosigkeit nachträglich die Argumente an die Hand gibt, die uns aus einer fatalen Lage hätten retten können. Es ist sicher nicht Frivolität oder Langeweile oder eine krankhafte Empfänglichkeit für Modetrends, was Leute, die völlig unverdächtig sind, ihre Zeit mit Schönheitssalongeschwätz zu vergeuden, Huey Newton etwa, Verteidigungsminister der Black Panthers, der damals, eine Haftstrafe zwischen zwei und fünfzehn Jahren vor Augen, im Alameda-Gefängnis sitzt, oder Bobby Seale, Mitbegründer der Bewegung, oder Eldridge Cleaver, sie alle zum Äußersten entschlossene Schwarze, was Leute wie sie dazu veranlasst, vor Vardas Kamera drei der insgesamt fünfzehn Minuten des Films auf die Erklä rung zu verwenden, war um der Afrolook – souveränes Symbol, weil es keine Geschlechter kennt und Männer und Frauen uniformiert – ein Akt politischer Selbstbestimmung ist, nicht mehr und nicht weniger aussagekräftig als ein Manifest mit den Forderungen der Gruppe oder die wehenden Fahnen der Stoßtrupps, die das Alameda-Gefängnis umstellen, oder die Sonnenbrillen und Lederjacken oder der Aufruf von besagtem Cleaver, als Teil des Trainingsprogramms für die Revolte, weiße Frauen zu vergewaltigen.

Diesen politischen Übergang jedoch, der von der Sonnenfinsternis der Glatthaarigkeit zum strahlenden Sieg des Afrolooks führt, nimmt er nur indirekt, auf den zweiten Blick wahr. Wenn überhaupt. Bei ihm ist es eher ein Zur-Tat-Schreiten: Ihn erreichen vereinzelte Signale des Phänomens, stete Tropfen sozusagen, und er wagt, was man einen Sprung ins Ungewisse nennt. Von heut auf morgen konvertiert er zum Afrolook, zu einem armseligen, schwächlichen und obendrein wenig überzeugenden Afro, der mehr der verdutzten Hilflosigkeit ähnelt, mit der ein nicht so sauberes Haar nach einer langen Nacht im Bett erwacht, als der stolzen Selbstsicherheit, dem Sinnbild von Macht und aufrechter Würde, die fünf Jahre zuvor, als sie tatsächlich für die Freilassung von Huey Newton protestieren, und dreißig Jahre später, als er den Film von Agnès Varda sieht, der sie in ihrem Protest festhält, die Mähnen der Black Panther ausstrahlen. Es ist sicher die Unschlüssigkeit dieses komplexbehafteten Afrolooks, was die übrigen Mitglieder seiner Fami lie an den Fotos aus der Zeit irritiert, speziell eine Serie von fünf oder sechs Schwarzweißbildern, vermutlich im Esszimmer entstanden, an einem Samstag, dem einzigen Tag, an dem die ganze Familie zusammenkommt, nach dem Essen, dem einzigen Ritual, das sie an einen Tisch zu bringen vermag. Es scheint, als schauten alle in die Kamera und seien sich der außergewöhnlichen Situation bewusst und gewillt, ihm zu Ehren alte Feindseligkeiten wenigstens so lange hintanzustellen, wie das Mittagessen oder zumindest die Vorspeise oder in Ermangelung dessen das blendende Blitzlicht in Anspruch nimmt, aber während er entschlossen dreinblickt, der Welt provozierend die neue Haartracht unter die Nase reibend, ringen die ande ren, die Mutter, ihr Mann, die Großmutter, die Brüder, mit einem seltsamen Dilemma: Sollen sie in die Kamera schauen, wie sie es nach besten Kräften tun, oder sollen sie ihn anschauen und sich diesmal ganz unverhohlen, nicht verdruckst und verstohlen wie während des ganzen Essens, diesem verwilderten Nest zuwenden, das auf seinem Kopf gewachsen ist.

Und trotzdem, lächerlich und grotesk, wie bei Weißen fast immer, wenn sie sich die Rollen von Schwarzen anmaßen und anfangen, Trompete zu spielen, schrille Anzüge zu tragen, sich Goldzähne machen zu lassen oder zu fluchen, hat dieser an einem seidenen Faden hängende Haarwust, diese peinliche Lockigkeit, diese Afro-Parodie ihn einiges gekostet. Nicht der Wunsch, so etwas zu haben, hat ihn in den Friseursalon getrieben. Er ist nicht auf den Lockenwickler gekom men, wie – ein offenes Geheimnis – viele von denen, die damals auf den Locken-Boom aufspringen, ermutigt von Leuten, die den Anzug gegen den Overall tauschen, die die Universitäten verlassen und in die Fabriken gehen, dem väterlichen Monatsscheck Lebewohl und dem Hungerlohn Hallo sagen, Schauspieler, Mannequins, Künstler, Liedermacher. Er greift auf die ihm zu Gebote stehenden Mittel zurück: rührt wochenlang kein Shampoo an, verzichtet auf morgendliches Kämmen, rubbelt sich nach dem Duschen wild die Haare trocken und zieht mit seiner Elektroschockfrisur stolz sich spreizend in die Welt hin aus. Einmal kommen ihm seine Haare nach dem Duschen und Abtrock nen krauser vor als jemals zuvor; er schiebt das Phänomen auf die zufällige Verwechslung von warmem und kaltem Wasser – typischer Irrtum dessen, der mit Seife in den Augen blindlings an Hähnen dreht – und wiederholt das Vorgehen wochenlang. Er achtet nicht auf die erstaunte Miene seiner Mutter, als er, eben aufgewacht, mit dieser Voliere auf dem Kopf in die Küche kommt. Auch nicht auf die ungläubigen Schikanen seines Bruders, der immer mehr zu ahnen scheint, als er sagt. Damit kann er leben. Er hat schließlich nicht ihretwegen auf glattes Haar verzichtet. Nicht sie sind es, die solche Kühnheit erklären. Es ist die Epoche.

Leicht gesagt, aber leicht getan ? Was ist denn eine Epoche ? Wor auf reduziert sich, wie lange währt eine Epoche, ohne zu lügen oder sich zu verflüchtigen, wenn sie nicht in einem Eigennamen kristallisiert, in einem persönlichen Stil, einem von besonderen Merkmalen und Spuren geprägten Körper ? In seinen Augen wie in denen unzähliger anderer macht die Epi demie des Neuen Haars, die die Epoche durchzieht, durch ein Ensemble trivialer Signale auf sich aufmerksam, durch konspirative Symptome, die wie üblich im paradoxen Intervall der Ferien zu Tage treten, einerseits Sumpfland der adulten Welt, ereignislose Öde, wie sich an der Informationsbrache auf den Titelseiten der Zeitungen ersehen lässt, andererseits ein für seine zwölf oder dreizehn Jahre schwindelerregender (allerdings seit seinem sechsten Lebensjahr von März bis Dezember unfehlbar durch die Haftbedingungen der doppelten Schulzeit, von Viertel nach acht bis halb fünf, an jedem einzelnen Tag des Jahres gebändigter), von reinen Neuheiten erfüllter Zeitraum, in dem sogar Schlafen, Essen oder Baden einen unverzeihlichen Zeitverlust darstellen, tatsächlich die einzige Lebensphase, die es aus seiner Sicht verdient, historisch genannt zu werden, so sehr sind die belanglosen oder radikalen Ereignisse, die sie ausfüllen, immer einzigartig, nie vorhersehbar und stellen die Reserven bereit, die ihn das kommende Jahr über am Leben erhalten, wenn alles um ihn her um dazu angetan ist, ihn in Trägheit versinken zu lassen, in Langeweile, in der Qual, sich einem fremden Diktat unterwerfen zu müssen.

Die neue Sachlage beginnt sich gegen Jahresende abzuzeichnen, wenige Wochen vor den Feiertagen, als er die Anzeigen für einen billigen inländischen Schaum wein sieht, ein Champagner genanntes Gesöff, das auf den ersten Blick Glückseligkeit verheißt, tatsäch lich aber für prompte Gastritis sorgt, und bemerkt, dass der Galan, der sein Glas erhebt, während er seine Luchsaugen auf ein am anderen Ende des Fests erspähtes Mädchen heftet, unerreichbar nicht nur wegen der Entfernung, die sie trennt, sondern auch wegen des dichten Rings von Bewunderern, die sie umschwärmen – dass dieser Westentaschencasanova vier bis fünf Jahre jünger ist als sein Vorgänger auf dem letztjährigen Werbeplakat, und sich statt mit Pomade im Haar, wie es das Dogma offizieller Schönheit in Argentinien und die beiden Schulen fordern, die sie beeinflussen, der Tango und die Halbweltphysiognomie, jetzt mit Afrofrisur präsentiert, deren überbordende Fülle dem Foto keine andere Wahl lässt, als sie am oberen Rand abzuschneiden.

Das ist erst der Anfang. Ihm folgen bald weitere Indi zien: der Fußballtrainer, der einen Wirbelwind von Korkenzieherlöckchen entfesselt; der Tangosänger, der seinen Kopf ins Kraut schießen lässt; der für das Set von Hair ausgewählte Schauspieler; die Bademeister der öffentlichen Bäder, die von einem Sommer auf den anderen ihrer jahrzehntelangen, durch Hygienevorschriften auferlegten Kurzhaarigkeit abschwören. Ins Blickfeld gerät auch ein Neffe des Mannes seiner Mutter, der sich bislang gezwungen sah, das Kraushaar zu unterdrücken und raspelkurz zu schneiden, welches ihm angeboren und nie typischer für ein schwarzes Schaf der Familie war als in seinem Fall, da die »Klasse, der er entstammt«, wie man heute sagt, sich selbst als glatthaarig begreift und über jede andere Haarsorte jenes Scherbengericht verhängt, das gewissen ethnischen Anomalien gebührt. So geht der Februar zu Ende, ohne dass er lose Fäden verknüpfen muss. Sie knüpfen sich von allein, wie bei jeder guten Verschwörung. Und Mitte März, als er gleich am ersten Schultag zu spät kommt, die Ansprache schon vorbei, fast auch das zeremonielle Abspielen der Hymne, und er ungeduldig unter den aufbrechenden Reihen der Schüler, den sie antreibenden Aufsehern, den ihren Klassenräumen zustrebenden Lehrern nach einem bekann ten Gesicht Ausschau hält, sieht er sich plötzlich, in einer dieser seltsamen Oasen der Stille, die sich manchmal inmitten einer Stampede auftun, einem Pärchen ge gen über, das sich, an eine der Betonsäulen im Schulhof gelehnt, ausgiebig küsst, der Junge mit dem Rücken, das Mädchen frontal zu ihm, fast verdeckt allerdings vom Kopf des Jungen, in dessen Urwald dunkler Ringellocken sie die Finger beider Hände vergräbt und wie wollüstige Schlangen spielen lässt.

Das sichtbare Viertel vom Gesicht reicht aus, ihm zu verraten, wer sie ist: Er kennt die weiße Haut, kennt die dichten Brauen, deren Härchen sich beim Hochziehen sträuben und zu einer Seite biegen wie die ersten Wasserakrobatinnen in der Reihe, wenn sie vom Sprungbrett nacheinander seitlich ins Becken hechten. Er kennt die Art, wie die winzigen Hautgefäße, wenn die Küsse ihnen zusetzen, in tausend errötende Pünktchen zerplatzen, die sie später verschämt hinter dem hochgeschlagenen Kragen eines zwei Nummern zu großen Mantels verbirgt. Sie sieht ihn, lächelt, gibt einen erstaunten oder verlegenen Laut von sich, und er sieht, dass der rote Mokassin, dessen Sohle gegen die Säule gestemmt war – typische Lässigkeit eines Mädchens, das küsst, um auszuprobieren, zu posieren, vielleicht sich zu rächen –, sich rasch zu seinem Kollegen am Boden gesellt. Ohne die Umarmung zu lösen, sie eher gegen die Säule pressend, schaut der Junge sich um. Es könnte jeder sein, und in dem Fall hätte er, wie es heißt, nur Augen für seinen aufgebauschten Lockenschopf gehabt, um festzustellen, zu was für einer allgegenwärtigen Pest der Afrolook geworden ist. Aber es ist nicht jeder: Es ist Monti, sein bester Freund.

Nicht sie ist das Pro blem. Fünf Jahre zuvor war sie seine Freundin gewesen, was dem Zeitmaß der Kindheit nach einer Spanne entsprechen dürfte, wie sie die Menschheit gebraucht hat, um das Rad zu erfinden, Ludwig XIV. zu enthaupten, den Winterpalast zu erstürmen und einen Fuß und eine Fahne auf die Oberfläche des Mondes zu setzen. Er hat schon vergessen, wie sehr er sie geliebt hat, wie sehr er sie hat leiden lassen, indem er ihr jeden Tag zwei Minuten vor Ende der letzten Stunde – als sie, ihr Lederköfferchen auf den Schenkeln, auf der Kante her umrutscht und nur dar auf wartet, dass es endlich klingelt – zuflüsterte, er liebe sie nicht mehr, wie oft er ihr Freudentränen entlockt hat, indem er ihr tags dar auf sagte, er bereue alles und bete sie an. Er hat vergessen, wie gut es ihm gefiel, dass sie diese zu einer älteren Ausländerin passenden Mokassins trug, aus rotem, geprägtem Leder ohne Schnalle. Er erinnerte sich, um ehrlich zu sein, nicht einmal, dass sie am Leben war, so sehr beschränkt sich in diesem Alter das sogenannte Leben auf kaum mehr als den Bereich der von unserer eigenen Person gezogenen Grenzen, wenn nicht sogar auf unser unmittelbares Gesichtsfeld. Das Pro blem ist Monti und dieses Etwas, das ihm auf dem Kopf gewachsen ist, diese … Neuheit. Er ist empört. Trug er nicht kurze Haare bei ihrem letzten Treffen, als sie, kurz vor den Feiertagen, um halb fünf Uhr morgens im Wohnzimmer eines befreundeten, von einem Millionärsvater verlassenen Zwillingspärchens in einem Hochhaus in Belgrano Tischtennis gespielt hatten ? Wann also war … ? Wie konnte er auf die Idee kommen … ? Wieso hatte er nicht … ? Klar: die Ferien ! Dann waren also die Ferien, diese Zeit, die für ihn die Quelle eines magischen Lebens war, voller Abenteuer, Gefahr, Über raschungen, diese Zeit, die zu verteidigen er sein Leben riskiert hätte, wenn die finsteren Mächte des Schulwesens sie hätten abschaffen wollen, auch für andere eine klandestine Zeit, auch für andere dunkel und frisch und erregend illegal, selbst wenn eine sommerliche Mittagssonne brannte, auch für andere die Probebühne möglicher Leben, die später ihren Glanz, ihr Prestige, die Neid erweckende Außerordentlichkeit ihrer Früchte auf dem Markt des Schuljahrs feilbieten würden … Langsam und geduldig, den Schmerz fast genießend, den er sich zufügt, zieht er den tückischen Dolch her aus, den man ihm in den Rücken gestoßen hat, und als er am selben Abend unter der Dusche steht und sich behutsam den Schweiß abwäscht, mit dem ihn zwei Stunden Sportstudio gefirnisst haben, achtet er genau dar auf, den Kopf nur ja nicht mit Wasser in Berührung zu bringen.

Was bringt ihm der Verzicht auf glattes Haar ? Jahre vergehen, ehe er eine Antwort findet. Damals stellt er sich nicht einmal die Frage. Er verzichtet, fertig. Und wie sehr wird er dem eines Tages nachtrauern, wenn er zu wissen glaubt, worin der Vorteil lag, sich die lächer liche Perücke wachsen zu lassen, ewiger Vorgeschmack auf einen Afrolook, der ihm verwehrt bleiben sollte, prinzipiell verwehrt, wie sehr wird er diesem Taumel reinen Tuns nachtrauern, dieser Grundlosigkeit, diesem blinden Sprung ins Ungewisse. Einstweilen stabilisieren sich die Dinge mit Monti, laufen rund, überwinden mühelos die Ungewissheit, die zwei Monate, ohne sich zu sehen, ohne jeden Kontakt bewirkt haben, zwei Monate, in denen alles geschehen sein kann – nicht nur, dass sein Freund sich einen Afrolook zulegt, sondern zum Beispiel auch, dass beide feststellen, dass Freundschaft etwas anderes sein könnte, etwas völlig anderes als das, was er und sein Freund einander haben glauben machen wollen –, und integrieren sogar die potentiell explosive Variable, das Mädchen mit den roten Mokassins.

Obwohl integrieren nur so dahingesagt, vielleicht sogar ironisch gemeint ist. Tatsächlich sind es zwei Welten. Eine Logik, die keiner der drei beim Namen nennt, die aber auf kategorische Weise ihre Beziehungen beherrscht, macht, dass der eine geht, wenn der andere kommt, und umgekehrt. Er und Monti warten an der Haltestelle auf den Bus, sie taucht auf (sie muss zum Zahnarzt, hat privaten Physikunterricht, was auch immer), er lässt beide allein, überquert die Straße und wartet an der ge gen überliegenden Haltestelle auf einen anderen Bus, obwohl er mit dieser Linie ein zusätzliches Mal umsteigen muss und eine halbe Stunde später nach Hause kommen wird. Sie ist mit Monti im Hof, er taucht auf, und wie immer montags platzt er fast vor Gehässigkeiten über die Sportereignisse vom Sonntag, und wortlos geht sie und stellt sich in die Schlange der am Kiosk anstehenden Jugendlichen. Es ist eine Logik des Platzmachens, seltsam, aber effizient. Sie leben, fast ohne einander zu berühren, wie in parallelen Dimensionen; die eine Welt ist für die andere bestenfalls ein Schauspiel, an dem sie nicht teilhat, das sie von weitem sieht, aber niemals, unter keinen Umständen kommentiert.

Klett-Cotta Aus dem Spanischen von Christian Hansen
1. Aufl. 2012, 223 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-93958-3
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Alan Pauls

Alan Pauls, geboren 1959 in Buenos Aires, hat Literatur gelehrt, daneben Drehbücher, Filmkritiken, Essays und sechs Romane geschrieben. Er arbeitet ...

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