Ein "neuer Gibson" -
der Erfinder des Cyberpunk schreibt über die globalisierte Welt, ein Jahr nach dem 11. September. Also kein Science-fiction Roman?
Im William-Gibson-Forum wird seit Erscheinen der amerikanischen Ausgabe engagiert diskutiert, auch die Frage, ob man den Autor denn auch erkannt hätte, wenn sein Name nicht auf dem Buch gestanden hätte? In einem Posting heißt es: "Mustererkennung" ist so typisch William Gibson, daß man fast meinen könnte, er sei von jemand anderem, der so schreiben will wie William Gibson.
Ein Rezensent der Financial Review schreibt dazu einen bemerkenswerten Satz: "Will man heute einen Roman schreiben, der völlig auf der Höhe der Zeit ist, bleibt einem nichts anderes übrig, als auf das Genre Science-fiction zurückzugreifen."
Als Gibson 1984 den Genrebegriff Cyberpunk kreierte, spielten seine Romane in einer unbestimmten Zukunft mit Internet und unglaublichen Computermöglichkeiten. Inzwischen ist der Cyberpunk der 8oer, ohne daß wir es bemerkt haben, um uns herum längst Realität geworden - alles hat sich geändert, während sich nichts geändert hat.
In Amerika hat die Zukunft schon begonnen. Das "alte" Europa erlebt Cayce Pollard, die Hauptfigur des Romans, als eine Spiegelwelt: alles ist hier anders, aber auch hier greift schon die Globalisierung.
Cayce arbeitet als Coolhunter, im Moment für einen Sportschuhhersteller in London: sie berät bei Firmenlogos und spürt Modetrends an der Basis auf. In jeder freien Minute loggt sie sich ins Internet ein. Seit einiger Zeit tauchen merkwürdige Filmclips im Netz auf, sie faszinieren, sind kult und werden fieberhaft diskutiert. Wie gehören die Schnipsel zusammen? Sind sie Teile eines Films? Was bedeuten Sie? Wer überhaupt macht sie? Und warum? Es sind suggestive Szenen, die Personen kaum zu erkennen, sie tauchen aus der Leere auf - zwei Personen? Ein Kuß? Ein weiter Strand - Cannes, vielleicht? Der Schemen eines großen Vogels?
Wieso sind Tausende User auf der ganzen Welt süchtig danach? Das Phänomen interessiert den Marketingmanager: nicht auszudenken, wenn man dies auf die Werbung übertragen könnte! Er engagiert Cayce, den Urheber dieser Filmschnipsel zu suchen. Mit Hilfe anderer Mitglieder des Fan-Forums gelingt es ihr, eine Markierung auf einem der Clips zu identifizieren.
Und damit beginnt eine Suche, die Cayce nach Tokio und schließlich nach Moskau führt. Und die sie in tödliche Gefahr bringt.
Leseprobe
1: NACHT IM NETZ
Fünf Stunden Zeitunterschied zwischen New York und London. Cayce Pollard erwacht in Camden Town, belauert von den schaurigen, endlos kreisenden Wölfen der Dysrhythmie.
Es ist die matte, gespenstische Unstunde, limbische Impulse schwappen durch die graue Substanz, erratische Regungen des Stammhirns funken inadäquates Reptilienverlangen nach Sex, Nahrung, Betäubung, obwohl im Augenblick nichts davon real verfügbar ist.
Nicht mal Nahrung, denn Damiens neue Küche enthält so wenig Essbares wie die Ausstellungsstücke ihres Designers in der Camden High Street. Sehr hübsch, die Oberschränke kanariengelb beschichtet, die Unterschränke ungebeiztes, klarlackversiegeltes Apfelbaumfurnier. Blitzsauber und so gut wie leer, bis auf eine Packung mit zwei trockenen Weetabix-Pellets und ein paar losen Beuteln Kräutertee. Gähnende Leere im Kühlschrank, Made in Germany, der noch so neu ist, daß es darin nur nach Kälte und langkettigen Polymeren riecht.
Jetzt, da sie das weiße Rauschen Londons hört, ist ihr klar, daß Damiens Jetlagtheorie stimmt: daß ihre Seele meilenweit hinterher hängt, erst langsam eingeholt wird, an einer geisterhaften Nabelschnur, in der längst verschwundenen Wirbelspur ihres Flugzeugs hoch über dem Atlantik. Seelen können sich nicht so schnell fortbewegen, also bleiben sie zurück, und man muß auf sie warten wie auf verloren gegangenes Gepäck.
Sie fragt sich, ob das mit dem Alter schlimmer wird, die namenlose Stunde noch unendlicher, unwirklicher, das Gefühl dabei noch seltsamer und gleichzeitig weniger interessant.
Wie betäubt liegt sie hier im Halbdunkel in Damiens Schlafzimmer, unter einem topflappenartig silbrigen Ding, das vom Hersteller garantiert nicht zum Zudecken vorgesehen ist. Aber sie war zu müde, um sich eine Bettdecke zu suchen. Die Laken zwischen ihrer Haut und der schweren Hightec-Tagesdecke sind aus seidigem, weichem Jacquardsatin und riechen schwach nach - Damien vermutlich. Aber nicht schlecht. Eigentlich sogar ganz angenehm; in dieser Situation ist jeder sinnliche Kontakt zu einem Mitsäugetier willkommen.
Damien ist ein Freund.
Unsere Steckverbindungen sind nicht kompatibel, würde er sagen.
Damien ist dreißig, Cayce zwei Jahre älter, aber er hat ein sorgsam isoliertes Unreifemodul in sich, etwas Scheues, Dickköpfiges, das den Geldgebern zuerst unheimlich war. Beide sind sie hervorragend in ihrem Job, und beide haben sie keine Ahnung, warum.
Wenn man Damien googelt, findet man einen Regisseur von Musikvidoes und Werbespots. Googelt man Cayce, findet man "Coolhunter", und wenn man genau hinguckt, vielleicht auch noch ein paar Hinweise darauf, daß sie so eine Art "Sensitive" ist, eine Wünschelrutengängerin in der Welt des globalen Marketings.
Obwohl das in Wahrheit, sagt Damien, eher so was wie eine Allergie ist, eine krankhafte und manchmal sehr heftige Reaktion auf die Semiotik der Warenwelt.
Damien ist momentan in Russland; er hat sich vor der Renovierung dorthin geflüchtet, angeblich um einen Dokumentarfilm zu drehen. Alles, was diese Räume hier halbwegs bewohnt wirken läßt, weiß Cayce, ist dem Wirken einer Produktionsassistentin zu verdanken.
Sie wälzt sich an die Bettkante, macht Schluß mit dieser sinnlosen Schlafparodie. Grabbelt nach ihren Kleidern. Ein schwarzes Fruit of the Loom T-Shirt, Knabengröße, gründlich geschrumpft, ein dünner, grauer Pullover mit V-Ausschnitt, im halben Dutzend von einem Lieferanten für Ostküsten-Privatschulen bezogen, und eine neue, schwarze Oversize-501, sorgsam von jedem Markenlogo befreit. An dieser hier sind sogar die Knöpfe abgeschliffen worden, von einem verblüfften koreanischen Schlüsseldienst-Typen im Village, vor einer Woche.
Der Schalter der italienischen Stehlampe fühlt sich fremd an: ein anderer Knipsmechanismus für eine andere Voltzahl, exotischen britischen Strom.
Sie steht jetzt, steigt in ihre Jeans, richtet sich fröstelnd wieder auf.
Spiegelwelt. Die Elektrostecker sind riesig, dreipolig, für eine Sorte Strom, mit der in Amerika nur elektrische Stühle betrieben werden. Die Autos sind innen recht-links-verkehrt; die Telefonhörer haben ein anderes Gewicht, einen anderen Schwerpunkt; die Taschenbuch-Cover sehen aus wie australisches Geld.
Halogengeblendet, mit schmerzhaft kontrahierten Pupillen, blinzelt sie in einen richtigen Spiegel, der an einer grauen Wand lehnt und darauf wartet, aufgehängt zu werden. Erblickt darin eine unkoordinierte schwarzbeinige Marionette, deren strubbliges Haar wie eine Klobürste aussieht. Sie schneidet ihr eine Fratze und denkt aus irgendeinem Grund an einen Ex-Freund, der darauf bestand, sie mit Helmut Newtons Aktporträt von Jane Birkin zu vergleichen.
In der Küche läßt sie Wasser durch einen deutschen Filter in einen italienischen Wasserkocher laufen. Müht sich mit Schaltern ab, einer am Kocher, einer am Stecker, einer an der Steckdose. Inspiziert, während das Wasser zum Sieden kommt, geistesabwesend die kanariengelben Laminatschränke. Beutel mit irgendeinem importierten kalifornischen Tee-Ersatz in einen hohen weißen Becher. Kochendes Wasser drauf.
Im Hauptraum findet sie Damiens treuen Cube eingeschaltet, aber auf Sleepmodus; der Sensor blinkt leise vor sich hin. Hier zeigt sich Damiens gespaltenes Verhältnis zum Thema Design: Innendekorateure läßt er nur über die Schwelle, wenn sie quasi versprechen, nicht das zu tun, was ihr Job ist, aber sein Mac ist ihm lieb und teuer, weil man ihn auf den Kopf stellen und mittels eines kleinen Aluzaubergriffs die Innereien herausnehmen kann. Wie das Geschlechtsteil der Robotergirls in seinem Video, geht ihr jetzt auf.
Sie setzt sich in seinen hochlehnigen Bürossessel und drückt die Taste der transparenten Maus. Infrarotflackern auf dem hellen Holz der langen Schreibtischplatte. Der Browser kommt hoch. Sie gibt Fetish:Footage:Forum ein, was Damien mit seiner Virenangst niemals bookmarken würde.
Die Startseite baut sich auf, so vertraut wie das Wohnzimmer eines Freundes. Ein Frame-Grab aus #48 dient als Hintergrund, düster und fast monochrom, keine Personen. Das ist eine der Sequenzen, die Vergleiche mit Tarkowski provozieren. Von Tarkowski kennt sie eigentlich nur ein paar Stills, obwohl sie einmal bei Stalker im Kino eingeschlafen ist; eine Endloseinstellung, Pfütze auf kaputtem Mosaikboden, senkrecht von oben in Großaufnahme. Aber sie gehört nicht zu denen, die sich viel davon versprechen, die vermeintlichen Einflüsse auf den Filmemacher zu analysieren. Der Clip-Kult unterteilt sich in jede Menge Untersekten, die alle möglichen Einflüsse erkannt haben wollen: Truffaut, Peckinpah ... Die Peckinpah-Fraktion, deren Theorie wohl die abwegigste ist, wartet immer noch darauf, daß geballert wird.
Sie geht jetzt ins eigentliche Forum, überfliegt automatisch die Titel der Postings und die Namen der Absender in den neueren Threads, hält Ausschau nach Freunden, Feinden, Neuigkeiten. Eins ist allerdings auf den ersten Blick klar: daß kein neuer Clip aufgetaucht ist. Der letzte war dieser lange Strandschwenk, wobei sie allerdings nicht die Auffassung teilt, daß es sich dabei um Cannes im Winter handelt. Auch die französischen Clipheads, die stundenlang ähnliche Szenerien gefilmt haben, konnten kein überzeugendes Pendant liefern.
Außerdem sieht sie, daß ihr Freund Parkaboy wieder in Chicago ist, zurück von seinem Amtrak-Trip nach Kalifornien, doch als sie sein Posting öffnet, stellt sie fest, daß er buchstäblich nur Hallo sagt.
Sie klickt auf Beantworten, gibt als Usernamen CayceP ein. Hi, Parkaboy. nt.
Als sie auf die Forumsseite zurückgeht, ist ihr Posting da.
Das ist so eine Art transportables Zuhause. Das Forum ist inzwischen einer der konstantesten Orte in ihrem Leben, wie ein vertrautes Café irgendwie jenseits von Geographie und Zeitzonen.
Es gibt etwa zwanzig Leute, die regelmäßig im F:F:F posten, und eine unbekannte, aber wesentlich größere Zahl von Mitlesern. Im Moment sind drei Leute im Chat, aber wer das ist, weiß man erst, wenn man selbst drin ist, und im Chatroom fühlt sie sich nicht so wohl. Es ist komisch dort, selbst mit Freunden, als ob man in einem stockdunklen Keller sitzt und über eine Entfernung von fünf Metern miteinander redet. Das hektische Tempo, die Kürze der Mitteilungen im Thread und das Gefühl, daß alle durcheinander quasseln, das schreckt sie ab.
Der Cube seufzt leise und macht subliminale Festplattengeräusche, wie ein Oldtimer-Sportwagen, der auf einem fernen Freeway dahinschnurrt. Sie nippt an ihrem Tee-Ersatz, aber er ist noch zu heiß. [...]