Blitzkrieg gegen den Krebs

Gesundheit und Propaganda im Dritten Reich
Buchdeckel „978-3-608-91031-5

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Robert N. Proctor, international renommierter Wissenschaftshistoriker, machte die brisante Entdeckung, daß Deutschland unter der Naziherrschaft in einem Punkt anderen Ländern um Jahrzehnte voraus war: Gesundheitsreformen wurden vorangetrieben, die wir heute als fortschrittlich und sozial verantwortungsvoll betrachten. Proctor behandelt alle kontroversen Fragen, die solch Entdeckungen aufwerfen.
War die Moral der Nationalsozialisten doch vielschichtiger, als wir glauben? Kann gute und nützliche Forschung aus einem Terrorregime kommen? Was könnte dies über die Gesundheitspolitik in unserer heutigen Gesellschaft verraten? Proctor ist der Ansicht, daß wir das Dritte Reich differenzierter betrachten müssen, als wir dies bisher taten. Aber das bedeutet auch, daß die fortschrittliche und weitblickende Gesundheitspolitik der Nationalsozialisten im Grunde derselben Ideologie entstammte wie ihre medizinischen Verbrechen: dem Ideal eines rassisch reinen Utopia, das nur den gesunden Deutschen vorbehalten war.

Nach der Veröffentlichung einer früheren bahnbrechenden Arbeit über die Greueltaten der Nazi-Ärzte verfaßte Proctor dieses Buch, denn er hatte Dokumente entdeckt, wonach die Nationalsozialisten die aggressivste Anti-Raucher-Kampagne in der modernen Geschichte führten.

Weitere Forschungen ergaben, daß die Regierung des Dritten Reiches eine breite Palette von Maßnahmen zur Volksgesundheit beschloß, darunter gegen Asbest- und Strahlenbelastung, Pestizide und Lebensmittelfarben. Die Gesundheitsbehörden erließen strikte Vorschriften für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz und förderten bestimmte Nahrungsmittel wie Vollkornbrot und Sojabohnen. Diese praktischen Maßnahmen gingen Hand in Hand mit Gesundheitspropaganda, die zum Beispiel den Körper des Führers und dessen Lebensstil als Nichtraucher und Vegetarier zum Ideal erhob. Proctor zeigt auf, daß »Krebs« auch zur gesellschaftlichen Metapher gewählt wurde. Die Nationalsozialisten zeichneten die Juden und andere »Volksfeinde« als »Krebsgeschwür«, das aus dem deutschen Volkskörper herausgeschnitten werden mußte.
Leseprobe


Inhalt

Prolog

Kapitel 1: Wilhelm Huepers Geheimnis

Der Triumph des Intellekts

"Staatsfeind Nummer Eins"

Erwin Liek und der Gedanke der Prävention

Früherkennung und Massenuntersuchungen

Kapitel 2: Die "Gleichschaltung" der deutschen Krebsforschung

Das Schicksal jüdischer Wissenschaftler

Erfassung und medizinische Überwachung

Die Rhetorik der Krebsforschung

Die Verklärung der Natur und die Frage der steigenden Krebsraten

Kapitel 3: Genetik und Rassenkunde

Krebs und die "Judenfrage"

Selektion und Sterilisation

Kapitel 4: Krebsgefahr am Arbeitsplatz

Gesundheit und Arbeit im "Reich"

Röntgenstrahlen und die Märtyrer der Strahlung

Radium und Uran

Tödlicher Staub

Asbest - das Totenhemd der Könige

Krebs in der chemischen Industrie

Kapitel 5: Die nationalsozialistische Ernährung

Widerstand gegen ein von künstlichen Stoffen geprägtes Leben

Fleisch oder Gemüse

Der "Führer" ißt

Die Kampagne gegen den Alkohol

Leistungssteigernde Nahrungsmittel und Medikamente

Nahrung zur Krebsbekämpfung

Das Verbot von Buttergelb

Ideologie und Realität

Kapitel 6: Die Kampagne gegen den Tabak

Früher Widerstand

Die Entdeckung des Zusammenhangs

Fritz Lickint: der Arzt, den die Tabakindustrie am glühendsten haßte

Der medizinische Moralismus der Nationalsozialisten

Franz H. Müller: der vergessene Vater der experimentellen Epidemiologie

Praktische Maßnahmen

Karl Astels Wissenschaftliches Institut zur Erforschung der Tabakgefahren

Gesundheit über alles

Reemtsmas verbotene Frucht

Der Gegenangriff der Industrie

Die Stellung des Tabaks bricht ein

 

Kapitel 7: Das Ungeheuerliche und das Alltägliche

Die Frage nach der Wissenschaft unter nationalsozialistischer Herrschaft

Quacksalberei

Geheime Forschung für biologische Waffen

"Organischer" Monumentalismus

Konnten die NS-Maßnahmen Krebs verhindern?

Die "Nazikarte" austeilen

Ist die NS-Krebsforschung indiskutabel?

Die B-Seite des Nationalsozialismus

 

Anmerkungen

Bibliographie

Danksagung

Register

 

 

Der "Führer" ißt

Die Frage der Haltung zum Fleischkonsum gewann dadurch noch eine besondere Note, daß Hitler selbst Vegetarier war. Diese an sich unbedeutende Tatsache bekam ungeheures Gewicht, wenn man berücksichtigt, welch prominente Rolle sowohl die Nationalsozialisten als auch die Vegetarier dem Körper und einer bestimmten "Lebensweise" zuschrieben - eine Ideologie, die seither auch zu einer etwas peinlichen Angelegenheit für Vegetarier geworden ist (ich selbst esse Fleisch, wie ich an dieser Stelle vielleicht einräumen sollte). Hitlers Vegetarismus tauchte in Nachkriegsdiskussionen über Ernährung und Tierrechte oftmals auf, oder auch wenn es um Antisemitismus und vieles mehr ging. Wie sahen die Eßgewohnheiten des "Führers" aus, und was sagen sie uns über die nationalsozialistische Bewegung?

Russische Gerichtsmediziner untersuchten in der Nachkriegszeit Leichenteile, die aus einem flachen Grab außerhalb von Hitlers Bunker stammten, und bestätigten, daß der fragliche Schädel - sehr wahrscheinlich derjenige des "Führers" - die "für einen Vegetarier typische" gelbe Farbe aufweise. Hitlers Vegetarismus wurde allerdings schon vor 1933 zum Thema gemacht, als der persönliche Asketismus des zukünftigen "Führers" als ein Modell für den nationalsozialistischen Lebensstil hochgehalten wurde. Auch das Ausland nahm dies wahr, und man berichtete über einige offensichtliche Rückfälle. Otto D. Tolischus hob 1937 in der New York Times hervor, daß der "Führer" zwar Vegetarier sei, weder trinke noch rauche, aber auch ab und an eine Scheibe Schinken genieße, und dazu Delikatessen wie Kaviar oder Schokolade. Diese Berichte gaben in der Nachkriegszeit oftmals Anlaß zu Spekulationen, ob man Hitler tatsächlich als Vegetarier bezeichnen konnte.

Die Ernährung spielte für den "Führer" in jedem Fall eine wichtige Rolle. Er war fasziniert von der Möglichkeit, sich vollständig von rohem Obst, Getreide und Gemüse zu ernähren, und er sprach dieses Thema oft mit Freunden oder Untergebenen an. Kurz nach der "Machtergreifung" arrangierte er ein Treffen mit einer achtzigjährigen Frau aus Bad Godesberg - "Rheinauf und rheinab war sie bekannt als die Seniorin der vegetarischen Ernährungsweise, der Kaltwasserkuren und der Kräuterheilkunde" —, um mit ihr über die Vorteile einer vegetarischen Ernährung zu sprechen. Als ihn der Gestapo-Chef am gleichen Tag von der Notwendigkeit überzeugen wollte, die komplizierte Struktur der Partei zu ordnen, antwortete Hitler, es gebe viel dringendere Probleme als Politik - zum Beispiel, die Lebensgewohnheiten der Menschen zu verändern. Weiter meinte er, was ihm diese alte Frau am Morgen erzählt habe, sei von größerer Bedeutung als alles, was er in seinem Leben noch tun könne.

Hitler behauptete später, die Menschen hätten einst länger gelebt, und das habe sich nicht nur wegen des Fleischessens geändert, sondern auch weil viele Nahrungsmittel durch das Kochen "sterilisiert" würden, was "Kulturkrankheiten" mit sich gebracht habe. Krebs sei eine solche Krankheit: "Und beruht der Krebs auch auf einer noch unbekannten Voraussetzung, so ist doch möglich, daß diese Voraussetzung nur wirksam wird, wenn der Körper nicht richtig ernährt ist." Die Menschen hätten seiner Ansicht nach erst begonnen, Fleisch zu essen, als die klimatischen Bedingungen der Eiszeit sie dazu zwangen, auch das Kochen sei zu dieser Zeit aufgekommen. Die nationalsozialistischen Bemühungen, den Konsum von rohem Obst und Gemüse zu fördern, würden nun diese Entwicklung umkehren und die Ernährung "revolutionieren" ("Die Rohkost war eine Revolution!"). Hitler bezweifelte, daß Fette, die aus Kohle gewonnen wurden, genauso gut wie Olivenöl waren. Er befürchtete zudem, der steigende Verbrauch von Tran werde die Walpopulationen dezimieren. Die Deutschen der Zukunft würden, so behauptete er, mehr Margarine essen, die dann aus den pflanzlichen Ölen aus dem Osten hergestellt werde.

Wir haben eine ziemlich genaue Vorstellung von Hitlers täglichem Speiseplan, über den seine treu ergebenen Anhänger berichten, die ihm geradezu an den Lippen hingen. Hitler ernährte sich tatsächlich zum größten Teil vegetarisch — aber er genoß auch zuweilen ein Fleischgericht. Der Gestapo-Chef Rudolf Diels schrieb nach dem Krieg, daß Hitler manchmal bayerische Leberknödel aß, aber nur, wenn sie von seinem Freund und Fotografen Heinrich Hoffmann zubereitet worden seien. Die New York Times erwähnte Schinken und Kaviar, und man sagte auch, daß Hitler gerne Wildtäubchen gegessen habe. In verschiedenen Quellen wird erwähnt, welche Abscheu Hitler gegenüber dem Fleischessen gehabt habe. 1920 habe der zukünftige "Führer" beispielsweise seine Begleiterin Maria (Mimi) Reiter bei einem Rendezvous gescholten, weil sie ein Wiener Schnitzel bestellt hatte. Sichtlich beunruhigt durch seine Reaktion fragte sie ihn, ob sie etwas falsch gemacht habe, worauf er antwortete: "Nein, nein, Mimi. Du kannst das Wiener Schnitzel ruhig haben. Aber verstehen tu ich das nicht. So ein Leichenfraß! Das ist doch Fleisch von Tieren, die tot sind. Von Leichen, Kadavern." An anderer Stelle bezeichnete Hitler Fleischbrühe als "Leichentee".

Für Joseph Goebbels lag die Abneigung seines "Führers" in seinem Respekt für "das tierische Element" im Menschen begründet. Goebbels selbst schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen, denn er aß weiterhin Fleisch, bis er sich selbst, seine Frau und seine fünf kleinen Kinder in den letzten Kriegstagen vergiftete.

Hitler hatte offenbar 1931 aufgehört, Fleisch zu essen, aber die Gründe für diesen Entschluß (wenn man in einer solchen Angelegenheit von Gründen sprechen kann) sind nicht vollständig geklärt. Mehrere seiner Biographen weisen auf den Einfluß des nationalistischen und antisemitischen Komponisten Richard Wagner hin. In einem Essay von 1881 behauptete Wagner, daß die menschliche Gattung durch Rassenmischung und Fleischessen unrein geworden und vergiftet sei (auch seiner Meinung nach war die ursprüngliche menschliche Ernährung vegetarisch). Eine neue Art von Sozialismus sei nötig, um Deutschland von diesem doppelten Übel zu befreien. Er beschwor das deutsche Volk, sich mit den Vegetariern, den "Tierschützern und den Freunden der Mäßigung" zusammenzutun, um sich vor der jüdischen Aggression zu retten. Wagner behauptete, kein Fleisch zu essen, würde die Menschen moralisch erlösen — dies sei sogar für Juden möglich. Hitler scheint sich zumindest einen Teil dieser Botschaft zu Herzen genommen zu haben, beteuerte er doch, vor allem wegen Wagners Meinung in dieser Frage, kein Fleisch zu essen.

Man behauptete, Hitler habe es nicht akzeptieren können, daß Tiere getötet wurden, um von Menschen verspeist zu werden, aber ein Autor hat dem entgegengesetzt, daß dieses Bild absichtlich konstruiert wurde, um den deutschen "Führer" als freundlichen und gütigen Menschen darzustellen. Arnold Arluke und Boria Sax, zwei Historiker, die sich mit Tierrechten befassen, vertreten die Ansicht, daß beide Behauptungen wahr sein könnten. Sie führen zudem den Hinweis eines Amerikaners aus den vierziger Jahren an, wonach Hitler den Genuß von Fleisch wegen Verdauungsproblemen aufgegeben habe. Was auch immer seine ursprüngliche Motivation gewesen sein mag (es wurde auch vermutet, daß der Tod seiner Nichte seine Abneigung ausgelöst haben könnte), der "Führer" selbst vertrat die Meinung, daß er der neuen Ernährung eine bessere Gesundheit und größere Kraft zu verdanken habe. Als er noch Fleisch aß, schwitzte er während seiner langen, demagogischen Reden sehr stark - er verlor zwischen zwei und drei Kilogramm an Gewicht im Verlauf eines Abends - aber nachdem er das Fleischessen aufgegeben hatte, habe auch das Schwitzen aufgehört. In den vierziger Jahren bezeichnete er sogar seinen Schäferhund Blondi als Vegetarier - und er belehrte einige Besucher darüber, daß die Angewohnheit des Hundes, Gras zu fressen, dessen Verdauungsprobleme gelöst habe. Der Vegetarismus war nicht die einzige Eigenart in Hitlers Ernährung: Er hatte sein Leben lang eine Vorliebe für Süßes, und es war bekannt, daß er täglich bis zu einem Kilogramm Schokolade aß. Er hatte zudem Zeit seines Lebens eine eher absonderliche Faszination für Langusten, Hummer und Krebse, was einige Wissenschaftler (meines Erachtens unbegründeterweise) auf die Tatsache zurückgeführt haben, daß das Wort "Krebs" nicht nur das Tier, sondern eben auch die Krankheit bezeichne.
Klett-Cotta Aus d. Amerik. v. Alexandra Bröhm geb. mit Schutzumschlag, 39 s/w Illustrationen (Original: The Nazi War on Cancer. Princeton University Press, Princeton, N. J., 1999)
440 Seiten,
ISBN: 978-3-608-91031-5
autor_portrait

Robert N. Proctor

Robert Proctor ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Pennsylvania State University und ein auf dem Gebiet der NS-Medizingeschichte ...



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