81 Orte, 84 Opern: In Deutschland spielt die Musik in der Provinz
Diese Ausgabe ist leider vergriffen.
Eine Bildungsreise der besonderen Art: Staunen, wenn ein Provinznest den ganzen »Ring« auf die Beine stellt, aber manchmal lässt Schilda grüßen im Umgang mit den kulturellen Ressourcen. Was 1998 als Ferienvergnügen begann, wurde zu einem ungewöhnlichen Panorama unseres Landes, seiner Bewohner und seiner wechselvollen Geschichte.
Rund achtzig feste Opernensembles gibt es hierzulande, beinahe so viele wie im gesamten Rest der Welt. Nicht nur in München und Dresden, sondern auch in Detmold und Cottbus. Ralph Bollmann hat sie alle besucht. Als er in Meiningen die »Tosca« sah, wurde das Land noch von Helmut Kohl regiert. Als er in Plauen »Lohengrin« besuchte, rief Gerhard Schröder die Hartz-Reformen aus. Und als er 2010 nach Ulm zur »Salome« fuhr, stand der Euro vor dem Absturz.
Eine Entdeckungsreise durch Geschichte und Gegenwart: Die deutsche Kleinstaaterei mit all ihren Skurrilitäten und der Föderalismus sind der Boden, auf dem dieser kulturelle Reichtum der Provinz gewachsen ist.
Weitere Informationen zu Ralph Bollmann unter
www.ralph-bollmann.de
Leseprobe
Strelitzer Ouvertüre
Es geschah an einem der letzten lichten Sommertage. Still lagen die Straßen der kleinen Provinzstadt unter der gleißenden Sonne. Kein Café belebte den riesigen Marktplatz. Staubig ruhte der öde Schotterplatz, der den Standort des einstigen Schlosses markiert. Kurz nach Kriegsende war es ausgebrannt, die Reste wurden bald danach gesprengt, seither bleiben der Kleinstadt in Mecklenburg kaum Attraktionen außer der Natur.
Wirklich nicht? Das Wunder ereignet sich gleich hinter dem kleinen Schlosspark mit seinen Wasserspielen, griechischen Skulpturen und klassizistischen Tempelchen, den scheinbar einzigen Relikten aus der Vergangenheit als Hauptstadt des Großherzogtums Mecklenburg-Strelitz. Ganz plötzlich, hinter einem kleinen Wäldchen, erhebt sich in strahlendem Gelb ein Gebäude, das weit größer ist als jedes andere Bauwerk des Städtchens.
An der Fassade wirbt ein Plakat für kaum Glaubliches. »Heute: Fidelio« steht in großen Buchstaben über dem Säulenportal. Oper, die aufwendigste aller Künste, der Inbegriff von Luxus und Verschwendung mit Hunderten von Beschäftigten, den sich schon die Hauptstadt Berlin kaum leisten will – und das hier, in Neu strelitz, einem Ort von gerade 25 000 Einwohnern? Es ist dieser Kontrast, der mich sofort gefangen nimmt. Ich bin in Tübingen aufgewachsen, einer Stadt der protestantischen Wortkultur mit einer Bevölkerung von rund 80 000 Menschen, aber ohne Musiktheater. Dafür musste man nach Stuttgart fahren. Oper war für mich immer ein Großstadtvergnügen.
Ein paar Karten gibt es noch für die Vorstellung an diesem Nachmittag, beste Plätze im Parkett für gerade 25 Mark. Ein kurzes Zögern: soll ich den letzten warmen Sonntag ausgerechnet im Dunkel eines Opernhauses zubringen? Kaum hebt sich der Vorhang, ist jeder Zweifel verflogen. Nicht die erwartete Provinzaufführung wird gezeigt, nicht das biedere Verlies, in das selbst viele Großstadtbühnen Beethovens Freiheitsoper zwängen. Nein, das Gefängnis, von dem die Handlung spricht, es präsentiert sich hier als Alltag: Wände aus Sprelacart, dem Holzimitat, das im Westen Resopal heißt. Der Regisseur ertränkt das Pathos des Schlusschors in Bierbüchsen und Vollrausch: eine Inszenierung, wie sie 1997 keines der Berliner Opernhäuser gewagt hätte.
An diesem Tag ist es passiert. Die Opernprovinz hat mich in ihren Bann gezogen. Ich fasse einen Entschluss, der mein Bild von Deutschland grundlegend verändern wird: Alle deutschen Opernhäuser möchte ich besuchen. Ich kaufe mir ein sechsbändiges Opernlexikon und abonniere die einschlägige Fachpresse. Ich ordne die Bühnen nach Bundesländern, nach der Größe der Stadt, nach der Anzahl der Sitzplätze, nach der Stärke des Ensembles. Ich scheide frühere Hoftheater von bürgerlichen Stadttheatern, sortiere nach alten und neuen Bundesländern, liste auf einem Zettel die Gründungsjahre auf.
Bald wird sich herausstellen, dass es bei meinem Unternehmen um weit mehr geht als um Oper. Es verschlägt mich in Städte, die ich zuvor nicht besucht habe, in Lebenswelten, mit denen ich sonst nicht in Berührung komme. Die Reise zu den Opern wird zur Reise in ein unbekanntes Deutschland: in ein Land voller Gegensätze, die sich in einfachen Kategorien wie Metropole oder Provinz, Ost oder West, Arm oder Reich nicht fassen lassen; ein Land, das sich während der zwölf Jahre meiner Reise spürbar verändert; ein Land zwischen Aufbruch und Krise. Gleichzeitig wird es eine Entdeckungsfahrt durch Geschichte und Politik.
Neustrelitz ist keineswegs so exotisch, wie ich dachte. Auch in anderen Städten dieser Größenordnung gibt es Opernhäuser, im thüringischen Meiningen beispielsweise, im erzgebirgischen Annaberg-Buchholz oder in Radebeul bei Dresden. Insgesamt, so zähle ich zusammen, bringen fest engagierte Opernensembles an 81 Standorten in Deutschland Musiktheater auf die Bühne, flächendeckend von Aachen bis Görlitz und von Stralsund bis Freiburg. Mehr als fünftausend fest angestellte Musiker zählen die Orchester, fast dreitausend Sänger die hauseigenen Chöre, rund 1300 Solisten sind fest engagiert. Gemeinsam stemmen sie mehr als 6000 Opernabende pro Jahr, davon mehr als 600 Premieren. Die meisten dieser Theater sind Mehrspartenhäuser, auch dies eine deutsche Spezialität: Oper, Schauspiel und – immer seltener – Ballett unter einem einzigen Dach. Ob in Lüneburg mit insgesamt 138 Mitarbeitern oder in Stuttgart, dem weltgrößten Theaterbetrieb mit 1348 Beschäftigten. Nur in wenigen Städten sind die Opern eigenständig.
Sie alle spielen nicht vor leeren Sälen, im Gegenteil. Die Oper als multimediale Kunstform erlebt eine erstaunliche Renaissance. Jahr für Jahr strömen in Deutschlands Musiktheater so viele Zuschauer wie in die Stadien der Fußball-Bundesliga: rund 10 Millionen Menschen, rechnet man alle musikalischen Genres zusammen – neben der Oper auch Operette und Musical, Tanz und Konzert. Noch einmal die gleiche Zahl an Gästen kommt ins Sprechtheater einschließlich Jugendvorstellungen und Beiprogramm. Alles in allem bringen Deutschlands Stadt- und Staatstheater alljährlich 20 Millionen Tickets unters Volk. Knapp 400 Millionen Euro nehmen sie selbst an Eintrittsgeldern ein, der Staat schießt 2,1 Milliarden Euro zu.
Rechnet man nur Theater mit festem Ensemble und ganzjährigem Spielbetrieb, besitzt Deutschland ungefähr so viele Opernhäuser wie der gesamte Rest der Welt. Selbst klassische Kulturnationen wie Italien oder Frankreich bringen es gerade auf ein Dutzend, in Spanien waren es lange Zeit nur zwei. Ohne Deutschlands Klein- und Kleinstbühnen wären viele Karrieren internationaler Stars nicht vorstellbar, nur hier gibt es die Chance auf ein erstes Festengagement. Während Oper andernorts zur offiziösen Haupt- und Staatsaktion gerät, mit hohen Ticketpreisen und einer Tendenz zu sozialer Exklusion, gibt sich hierzulande die hohe Kunst ganz demokratisch. Das System ist so einzigartig, dass die Grüne Antje Vollmer vor zehn Jahren schon den Vorschlag machte, die deutschen Bühnen als Unesco-Weltkulturerbe zu deklarieren: die Opern, ein nationales Monument – das man, wie ich lernen werde, manchmal auch vor den Künstlern schützen muss.
Die große Zahl an Theatern ist vor allem ein Erbe der Kleinstaaterei. Von Neustrelitz bis Karlsruhe, von Detmold bis München sind rund die Hälfte der deutschen Opernhäuser ehemalige Hoftheater. Die deutschen Provinzpotentaten suchten ihre schwindende Macht, vor allem seit Bismarcks Reichsgründung 1871, durch kulturellen Glanz zu kompensieren. Sie leisteten sich neben prunkvollen Residenzschlössern Gemäldegalerien und Bibliotheken, Akademien und naturkundliche Sammlungen. Am teuersten war das Musiktheater, das mehr als alles andere den symbolischen Anschluss an die großen Metropolen herstellen konnte. Wenn im Altenburger Hoftheater die Werke der großen Komponisten erklangen, dann konnte man sich im Thüringer Kleinstaat fühlen wie in der Pariser Opéra – und seinen Rang gegenüber den benachbarten Hauptstädtchen behaupten.
Mit gehöriger Verspätung entwickelte das städtische Bürgertum im 19. Jahrhundert den Ehrgeiz, zu den höfischen Residenzen aufzuschließen, das eigene Weltniveau zu demonstrieren und die Fürsten in puncto Bildungsanspruch sogar zu übertrumpfen. Selbst alte Kaufmannsstädte, die zuvor nur kommerzielle Theaterbetriebe kannten, zahlten nun Geld für Kunst. Auf solche bürgerlichen Stadttheater geht die andere Hälfte der deutschen Opernbetriebe zurück. Die Tradition der Stadt- und Hoftheater spiegelt sich bis heute in der Trägerschaft. Länder und Kommunen teilen sich aus ihren klammen Haushalten die Kosten, der zahlungskräftigere Bund bleibt außen vor. Kultur ist laut Verfassung Ländersache, nicht zuletzt deshalb ist die Finanznot programmiert.
Fast jede Stadt, in der bis zum Untergang der Monarchie 1918 ein Fürst residierte, hat sich ihr Opernhaus bis heute bewahrt. In der Weimarer Republik waren Geldsorgen allerdings häufig, bisweilen mussten die fest engagierten Künstler einem bloßen Gastspielbetrieb weichen. Am besten stabilisiert hat sich das System dann in der DDR, wo Personalkosten eine untergeordnete Rolle spielten und klassische Musik als politisch unverdächtig galt, als Opium fürs Volk. Die dichte Opern- und Orchesterlandschaft bot der DDR zugleich die Möglichkeit, sich gegenüber dem Westen als die wahre Erbin der humanistischen Bildungstradition zu präsentieren. Feste Ensembles wurden nun sogar in Städten installiert, in denen es vorher keine gab, in Wittenberg etwa oder in Quedlinburg.
In Westdeutschland expandierte der Betrieb ebenfalls. Neue, oft größere und technisch verbesserte Gebäude traten in den Fünfziger- und Sechzigerjahren an die Stelle der kriegszerstörten Vorgänger. Die Zahl der Planstellen für Kunst, Technik und Verwaltung stieg, auch um im Zeitalter von Schallplatte und Fernsehen konkurrenzfähig zu bleiben. Als die Kommunalpolitiker das neue Personal mit Tarifverträgen und Kündigungsschutz ausstatteten, dachten sie nicht an künftige Haushaltskrisen. Heute ist dieses Dienstrecht einerseits ein Glück, weil sich ein Theater nicht leicht schließen lässt, andererseits ein Pech, weil nach Abzug der Fixkosten für die Kunst kaum Geld übrigbleibt.
Im Guten wie im Schlechten ist der deutsche Opernbetrieb symptomatisch für das ganze Land. Die Bundesrepublik ist reich, aber unfähig, sich dieses Reichtums zu erfreuen. Die Zukunftschancen stehen nicht schlecht, doch die Diskussion verläuft, als stünde der Untergang bevor. Was aus der weltweit reichsten Opernlandschaft am lautesten nach außen dringt, sind Klagerufe. Zu dem Bild, das Musiktheater sei ein sterbendes Genre, haben die Theaterleute auf diese Weise selbst beigetragen.
Die Verluste halten sich bislang in Grenzen. Selbst im schrumpfenden Osten, wo die DDR dreißig Opernbetriebe hinterließ, findet noch fast an jedem Standort Musiktheater statt. Nur in Brandenburg und Sachsen-Anhalt starben Ensembles einfach weg. Nach der Jahrtausendwende verzeichneten die deutschen Bühnen kurzzeitig sogar wachsende Personalbestände. Wirtschaftswachstum, HartzReform und erhöhte Mehrwertsteuer sorgten für finanzielle Spielräume, bis der Crash auf den Finanzmärkten und die anschließenden Konjunkturprogramme die öffentlichen Haushalte in eine neue Schuldenkrise stürzten. Jetzt warnen an den Theatern wieder Plakate vor »Kulturabbau«, gerät das deutsche Opernsystem erneut in Gefahr.
Aber ich greife vor. Das alles weiß ich noch nicht, als ich im Spätsommer 1997 in der mecklenburgischen Provinz meine Entdeckung mache. Es dauert fast ein Jahr, bis ich im Mai 1998 zu meiner Opernreise aufbreche und dann weitere zwölf Jahre, bis ich im Juli 2010 endgültig heimkehre – und beschließe, den Opern in einem Buch ein Denkmal zu setzen.
Im Königreich Popo
Fünf Stunden dauert die Fahrt, an vielen Opernstädten vorbei: Dessau, Halle, Leipzig, Weimar, Erfurt. Wir passieren Arnstadt, das zunächst irrtümlich auf meiner Liste stand – das historische Theaterchen am Rand des Schlossgartens ist ein reines Gastspielhaus. Also rasch weiter, durch Orte, die putzige Namen tragen wie Crawinkel, mit Häusern, die sich in Schiefer hüllen. Die Bundesstraße windet sich durch den Thüringer Wald, eine Autobahn gibt es noch nicht. Keine ostdeutsche Gegend ist von Berlin so weit entfernt wie das Land hinter den Bergen. Durch Oberhof fahren wir ohne Halt. Suhl, das die SED gegen das höfische Meiningen zur Bezirkshauptstadt machte, lassen wir links liegen. Dort leistet man sich nur ein Orchester, damals noch, aber keine Oper. Da müssen wir nicht hin.
In einem Dorf kurz vor Meiningen halten wir an. Ein Schild weist auf eine Ferienwohnung hin. Wir haben nicht vorausgebucht. Das Internet ist jung, man recherchiert nicht vorher alle Hotels und Gaststätten, Routen und Fahrpläne, Eintrittspreise und Öffnungszeiten. Es sind die letzten Jahre, in denen man einfach losfährt mit der Lust der Reise im Gepäck.
Wir haben Glück, die Wohnung in der kleinen Gartenlaube ist noch frei. Als wir der Vermieterin erzählen, dass wir in die Oper gehen, wird sie ganz euphorisch. Das Meininger Theater, das sei ja eine große Sache. Und so nah. Da müsse sie unbedingt mal hin. Geschafft habe sie es noch nicht. Hier begegne ich zum ersten Mal dem schlechten Gewissen, das immer wiederkehren wird auf meiner Reise: die Oper als etwas, wo man hingehen muss, aus Pflichtbewusstsein, weil Hochkultur und Bildung irgendwie dazugehören, eingepflanzt ins Über-Ich seit Schulzeiten. Ein Vergnügen darf es nicht sein. Dann wäre es die Subvention nicht wert.
Wir lassen nur unser Gepäck zurück, fahren gleich weiter direkt zum Theater – und sind überwältigt. Das Gebäude reicht in Dimension und Stil fast an die Stuttgarter Staatsoper heran, das Haus, das mir von Jugend an vertraut ist. Ein Koloss aus hellem Sandstein, vorne ein Säulenportikus, hinten das gewaltige Bühnenhaus: es ist ein großstädtischer Bau, den Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen hier errichten ließ. Gleich nach seinem Amtsantritt 1866 hatte er sich selbst zum künstlerischen Leiter der eigenen Hofbühne ernannt. Er setzte das naturalistische Regietheater an die Stelle bloßen Deklamierens und tourte mit seiner Schauspieltruppe durch ganz Europa. Daneben feierte das Orchester Welterfolge, mit Dirigenten wie Hans von Bülow, Richard Strauss oder Max Reger. Der Preis dafür, der heute gern vergessen wird, war die Abschaffung der Opernsparte. Erst die DDR richtete sie wieder ein.
Heute gibt es Tosca. Ich habe das Stück noch nicht auf der Bühne gesehen, obwohl es mir von Puccinis Opern die liebste ist: ein Schmachtfetzen wie die übrigen, aber mit dramatischer Stringenz, nicht bloß breitwandige, ziellos dahinplätschernde Filmmusik. In Berlin hat es seit Jahrzehnten keine Neuproduktion gegeben, die Staatsoper zeigt eine Inszenierung aus dem Jahr 1976. Die Version der Deutschen Oper hatte sogar schon 1969 Premiere.
Ein Kleinstadthaus wie Meiningen kann sich so etwas gar nicht leisten. Spätestens nach einem Jahr hat jeder Interessierte das Stück gesehen, eine neue Produktion muss her. Die Provinzopern bieten mir das, was sie auch jungen Sängern geben: die Möglichkeit, Lücken im Repertoire zu schließen.
Vor dem Theater stehen schon die Busse aus dem benachbarten Hessen und Franken. Der Fall des Eisernen Vorhangs gab dem Haus seinen alten Einzugsbereich zurück. Während auf der Thüringer Seite sieben andere Opernstandorte konkurrieren, hungert der benachbarte Westen nach Kultur. Die nächstgelegenen Musiktheater finden sich in Würzburg, Kassel, Frankfurt. Der erste Intendant nach der Wende nutzte die Gunst der Stunde, benannte sein Haus frech in »Südthüringisches Staatstheater« um und organisierte ein Abo-System für die kulturlosen Westprovinzen.
Seine Nachfolgerin ließ Wagners Ring an vier aufeinanderfolgenden Abenden aufführen, ohne Pausentage für Künstler und Publikum. Damit trieb sie ihre Leute an den Rand des Wahnsinns, brachte das Theater in die Tagesschau – und sich selbst ins Gespräch für den Intendantenposten an einem weit größeren Haus. Es folgte ein kurzer Versuch mit jungen, experimentierfreudigen Theatermachern. Als die Zuschauerzahlen absackten, verloren die örtlichen Kulturpolitiker den Mut. Sie entließen das neue Leitungsteam und engagierten einen Biedermann, der schon dem Ulmer Stadttheater volle Sitzreihen beschert hatte.
An der Kasse im marmornen Foyer treffen wir den Kritiker des Fachblatts Opernwelt. Er wird sich in seiner Besprechung überrascht zeigen, dass ein derart kleines Haus die Tosca überhaupt auf den Spielplan setzt. »Das Werk wird hier zwar offensichtlich mit viel Liebe gespielt«, schreibt er, »aber zugleich mit einer Naivität, die die Aufführung in die Nähe des Putzigen rückt.« Das Ensemble hält er für überfordert. Dem Sänger des Cavaradossi billigt er immerhin zu, er liege »vokal eine Klasse über dem Rest«, was angesichts des Gesamturteils nicht viel heißen will: Auch seine Stimme sei »nicht sonderlich kultiviert«. Ich frage mich, warum der Rezensent überhaupt nach Meiningen fährt, wenn er der Meinung ist, dass man die Oper dort ohnehin nicht aufführen kann. Bei der Lektüre zweifle ich, ob ich überhaupt in derselben Vorstellung war – und bin Jahre später beruhigt zu erfahren, dass der unkultivierte Darsteller inzwischen die großen Wagner-Rollen in Wien und Dresden, Stuttgart und Frankfurt singt.
Was, wenn das Naive zu der Oper sogar passt? Auch ich finde es drollig, wie sich die Meininger Tosca-Sängerin mit ihrem weißen Nerzmäntelchen durch die Aufführung pummelt. Aber ist das nicht gerade die Geschichte? Wie dieses unschuldige Mädchen seinen Liebsten aus Ahnungslosigkeit ans Messer liefert? Der Regisseur hat die römische Handlung aus dem Jahr 1800 ins 20. Jahrhundert verlegt, an die Stelle der bourbonischen Geheimpolizei treten Mussolinis Schergen. So gewinnt die Einsicht, dass in einer Diktatur die Arglosen nicht unschuldig bleiben, eine überzeitliche Dimension. Das Publikum im ausverkauften Haus nimmt die Vorstellung geradezu euphorisch auf, am Schluss gibt es minutenlangen, rhythmischen Applaus wie auf einem SED-Parteitag.
Am nächsten Tag geht es weiter nach Altenburg, am anderen Ende Thüringens. Auch Altenburg war bis 1918 Residenz, Hauptstadt des Herzogtums Sachsen-Altenburg mit zuletzt etwas mehr als 200 000 Einwohnern. Ich begegne der üblichen Möblierung einer Residenzstadt. Es gibt das frühere Schloss der Herzöge, pittoresk auf einem Felsen über der Altstadt. Es gibt eine famose Gemäldegalerie. Und es gibt unterhalb des Schlossfelsens eben das Theater, kein pompöser Klassizismus wie in Meiningen, sondern grazile Neorenaissance nach dem Vorbild des alten Dresdener Hoftheaters. Während des Kriegswinters 1942/43 durfte sich Wagner-Enkel Wieland hier erstmals als Regisseur erproben, und das gleich am Ring. Weil die Kapazitäten des kleinen Hauses in karger Zeit für üppige Ausstattungsorgien nicht reichten, sagen Spötter, habe er hier die Ideen für seine späteren Bayreuther Entrümpelungen ausgebrütet.
Auf dieser ersten Operntour habe ich noch Pressekarten bestellt, später gebe ich mich nicht als Journalist zu erkennen und zahle selbst. Heute ist Premiere. Deshalb gibt es im Foyer einen Pressetisch, ich bekomme meine Karten persönlich überreicht. Als erstes entschuldigt sich die Pressesprecherin für die mangelnde Qualität der Aufführung. Nicht dass ich von der Leistungsfähigkeit des Hauses an diesem Abend ein falsches Bild bekomme. Seit der Fusion mit Gera ist es der zweitgrößte Thüringer Theaterbetrieb, da hat man Ansprüche an sich. Ob ich nicht wiederkommen wolle, zu einer anderen Aufführung, vielleicht ins größere Gera? Dann werde mein Eindruck gewiss viel positiver sein.
Das werde ich tun, aber so schlimm finde ich Donizettis Don Pasquale hier gar nicht. Vielleicht fehlt der Musik Italianità und der Inszenierung ein wenig Tiefgang. Doch selbst an weit größeren Häusern gilt das Stück als leichter Lückenfüller für den Spielplan, zu realisieren ohne großen künstlerischen Anspruch. Leider. Musikalisch ist diese letzte Buffo-Oper ein wirkliches Meisterwerk, vom ersten Cellotakt der Ouvertüre an liegt über ihr ein Ton der Melancholie. Dass jede Komödie im Kern eine Tragödie ist, dass nur lachen kann, wer um die Schlechtigkeit der Welt weiß, das wurde nirgends besser in Musik gesetzt als hier.
Mit diesem Donizetti-Blues im Ohr spazieren wir anschließend durch die Straßen. Es ist ein großes Glück und zugleich ein schwerer Schock, wie oft in ostdeutschen Städten nach der Wende. Eine Altstadt, die den Krieg ohne den kleinsten Schaden überstanden hat; Straße um Straße reihen sich stattliche Bürgerhäuser dicht an dicht, aus Renaissance, Barock und Biedermeier. Viele davon sind acht Jahre nach dem Beitritt Altenburgs zur Bundesrepublik immer noch verfallen. Ganze Straßenzüge stehen leer, eingeknickte Dachstühle, leere Fensterhöhlen. Zehn Jahre später lese ich, dass ein Häuserblock am Marktplatz abgerissen werden soll. Ohne Parkgelegenheit fürs Auto, heißt es, kehrten die Leute nicht aus dem Plattenbau in die Innenstadt zurück.
Es ist dabei viel Ungeduld im Spiel und fehlgeleiteter Perfektionismus. In anderen Ländern war die Instandhaltung historischer Innenstädte lange Zeit ein viel größeres Problem, in Frankreich oder Süditalien verkamen sie regelrecht zu Slums. Trotzdem kam niemand auf die Idee, sie einfach abzureißen. Man wartete. Manchmal hat sich das Warten gelohnt, die Zentren blühten wieder auf, Bewohner kehrten zurück. Der Bevölkerungsschwund in Ostdeutschland macht es schwieriger, das stimmt. Aber wer sagt, dass künftige
Altenburg 21 Generationen den Plattenbau wirklich noch bevorzugen? Dass sich nicht in einer alternden Gesellschaft Liebhaber finden, die als Rentner in ein Altenburger Altstadthäuschen ziehen wollen? Vielleicht sollte die Stadtverwaltung einmal bei italienischen Kollegen anfragen, wie man innerstädtische Ruinen durch passende Beleuchtung effektvoll inszenieren kann.
Nach Italien sind es vom Altenburger Theater aus nur wenige hundert Meter. Ich gehe ein Stückchen um den Schlossberg herum. Wo zur Linken die Bahnhofstraße mit ihren toskanischen Villen beginnt, wende ich mich nach rechts, stehe dann vor einem strahlend gelben Gebäude im Stil der Neorenaissance, erkennbar der Dresdener Gemäldegalerie nachempfunden. Und richtig: Dies ist ein Haus der Bilder, eines der wichtigsten und zugleich unbekanntesten im Land, für sich genommen eine Reise wert. Es beherbergt die Sammlung des altenburgischen Ministers Bernhard von Lindenau, der später in Dresden Karriere machte und nebenbei eine Leidenschaft für die Malerei der italienischen Frührenaissance hegte. Er kaufte sich eine erlesene Sammlung zusammen, die größte nördlich der Alpen. Sehr teuer war das damals nicht: Für das bekannteste Stück, Sandro Botticellis Porträt einer Frau mit propellerhaftem Heiligenschein, zahlte er den Gegenwert dreier Rinder.
Für die Quattrocento-Malerei konnte ich mich stets begeistern, für den Reiz des Neuanfangs und Aufbruchs, die klaren Farben und Formen. Die Altenburger Sammlung erinnert mich auf sympathische Weise an die Pinakotheken toskanischer Städte. Ich muss an einen Morgen in Cortona denken, als eine Tür des Diözesanmuseums wegen Bauarbeiten offenstand. Die Morgensonne fiel direkt auf Fra Angelicos goldglänzende Verkündigung, sie schien von der Straße aus zum Greifen nah. So nah bin ich meinen Lieblingsmalern nun auch auf der Beletage der Altenburger Galerie.
Nach Berlin zurückgekehrt, blättere ich in dem Buch, das Altenburg in jenem Frühjahr zu einem Hauptort der deutschen Literatur macht: Simple Storys von Ingo Schulze, der vor 1990 Dramaturg am Landestheater war und in knappen Schnitten das Alltagsleben zur Wendezeit beschreibt. Auf Seite 213 bleibe ich hängen, dort taucht ein Kommunist aus Griechenland auf, als Botschafter der weiten Welt. »Er wollte hier im Museum die Frühitaliener sehen, Guido da Siena, den Botticelli und so«, lese ich. »Und dann bat er um ein Glas Wasser.«
Wir tranken im Ratskeller ein Bier. An Eisenach bin ich oft achtlos vorbeigefahren. Für mich war es vor allem der Ort, an dem eine Autofahrt von Berlin nach Frankfurt zu lang zu werden beginnt, allenfalls noch die Stadt, in der Johann Sebastian Bach geboren wurde und die Automarke Wartburg. Wenn ich meine Aufmerksamkeit vom Verkehr ablenken konnte, schaute ich zur Wartburg hinüber, die man von der alten Autobahn noch sah. Ich assoziierte damit nur Martin Luther. Mein Vater, der von Religion nicht viel hielt, erzählte mir oft die Geschichte vom Reformator, der in seiner Stube auf der Burg die Bibel übersetzte und mit dem Tintenfass nach dem Teufel warf. Die Anekdote freute ihn, weil sie ihm zu beweisen schien, wie durchgeknallt der Glaube an Gott und Teufel sei. Umso enttäuschter war ich, als ich den Fleck auf der Burg nicht vorfand. Man hatte ihn vor mehr als hundert Jahren bei einer Renovierung übertüncht.
Richard Wagner kam mir bei diesen Autofahrten nicht in den Sinn. Erst jetzt, bei der Durchsicht der Spielpläne für das Frühjahr 1999, fällt der Groschen. Tannhäuser am Landestheater Eisenach: Das ist der Originalschauplatz, klar! Auch Wagner war auf der Durchreise gewesen, auf dem Rückweg von einem demütigend erfolglosen Aufenthalt in Paris, als er Wartburg und Hörselberg passierte. Ins frische Frühlingsgrün des Hügels fantasierte er die wolllüstige Venus hinein, das dionysische Prinzip. Auf die strenge Burg imaginierte er den platonischen Minnesang und die züchtige Landgräfin Elisabeth, den apollinischen Gegenpol; ein altes Künstlerthema, das später auch Thomas Mann aufgreifen sollte. Oder ein konstruierter Gegensatz, der dialektisch aufzuheben ist? Regisseure, die es so sehen, besetzen Venus und Elisabeth gern mit derselben Sängerin.
Von derlei Denksport hält sich das Eisenacher Ensemble fern, man huldigt hier der naturalistischen Idee. Für mich als Einsteiger ist das ein Glück. Wagners Opern sind mir damals fern, ein Siegfried an der Berliner Staatsoper schreckte mich am Bußtag 1994 ab. Der handlungsärmste Teil des Ring-Zyklus, Daniel Barenboims endlos gedehntes Dirigat, Harry Kupfers angestaubte Inszenierung, Siegfried Jerusalems schon nicht mehr strahlender Tenor: all das war nicht geeignet, den Wagner-Neuling für den Komponisten einzunehmen. Da kam mir eine auf Verständlichkeit zielende Provinzaufführung gerade recht, und kein Stück schmeichelt sich dem Anfänger leichter ein als Tannhäuser, das manch ein Fortgeschrittener schon auf der Grenze zum Kitsch verortet. Der späte Wagner haderte selbst mit dem Ohrwurmhaften seines zweiten großen Musikdramas.
Wir haben gemeinsam mit Freunden gerade noch vier Karten bekommen, zu jeweils 22 Mark, Reihe zwölf im Parkett, das ist in Eisenach schon die drittletzte. Das Licht erlischt, aus dem Orchestergraben steigt das vertraute Pilgermotiv herauf. Vertraut? Was ich höre, klingt so ganz anders als die Aufnahme, die wir unterwegs im Auto hörten. Dünn, kratzig, ungehobelt, weit entfernt vom seidenmatten Glanz der Berliner Staatskapelle. Schon nach wenigen Minuten denke ich: auch spannender. Schlanker, transparenter, kontrastreicher als der füllige Wagnerklang der Großorchester ist das, was die damals gerade 52 Musiker der Landeskapelle zustande bringen.
Auf der Bühne gibt es dazu ein züchtiges Venusberg-Ballett mit dem hauseigenen Tanzensemble. Das besitzen sie noch in Eisenach, bis heute. Für den zweiten Akt haben sie den Festsaal der Wartburg auf der Bühne nachgebaut; zehn Jahre und zwei Tannhäuser-Produktionen später werden sie gleich oben auf der Burg spielen, das spart Kosten und ist anders als im Theater ein Event, für das die Leute bereitwillig bis zu 78 Euro zahlen. Schließlich das Finale mit dem großen Pilgerchor, den 22 hauptberuflichen Chorsängern springen die Amateure von Extrachor und örtlichem Franz-SchubertChor zur Seite. Ein Kraftakt, der alle lokalen Energien bündelt: vielleicht ist es das, was mich an diesem Abend endgültig für den Komponisten einnimmt. Von nun an werde ich auf meiner Reise vor allem auf die Wagner-Termine achten – und zumindest beim Tannhäuser immer an Eisenach denken.
Im Anschluss gibt es ein sehr deutsches Problem. Was denken sich Intendanten hierzulande, wenn sie eine Vorstellung von 18 bis 22 Uhr ansetzen? Sollen wir vor Beginn essen, zu einer Tageszeit, zu der niemand Hunger hat und Engländer den Tee nehmen? Oder nach der Oper durch die Stadt irren, auf der Suche nach einem Lokal, das späten Gästen die Gnade einer kleinen Vesperkarte erweist? In Italien nehmen die Intendanten Rücksicht. Sie legen die Aufführungen so früh, dass sie rechtzeitig zum Essen enden, oder so spät, dass die Zuschauer gesättigt im Opernhaus erscheinen. Sonst würde dort keiner kommen. In Deutschland muss ich mich fragen: Bin ich ein Kulturbanause, wenn mich Wagner allein nicht nährt?
Den Gedanken an ein Thüringer Rostbrätel können wir um zehn Uhr abends vergessen, in einer altdeutschen Gaststube bekocht uns zu dieser Stunde keiner mehr. Wir finden gleich neben dem Theater einen Griechen, bei dem sich um diese Uhrzeit die halbe Stadt zu sammeln scheint. Daran muss ich denken, als ich ein paar Jahre später ein Interview mit dem Kabarettisten Ottfried Fischer lese. »Wenn ich in Deutschland auf Tournee bin und um sechzehn Uhr in der Provinz ankomme«, klagt er, »dann muss ich zum Ausländer gehen, weil ich keinen Deutschen finde, der mir etwas kocht.« Da mag er recht haben, nur dass der Grieche oder Italiener in seinem Herkunftsland keineswegs zu jeder Tageszeit am Herd bereitstünde. Typisch deutsch ist nicht der Koch, der am Nachmittag die Hauptmahlzeit verweigert, sondern der Gast, der seine Zeitstruktur verloren hat und keine kulturellen Konventionen respektiert. Schuld an dem Debakel sind nicht die Wirte, sondern die Disponenten der Theater. Die Griechen haben sich hierzulande angepasst, auch was die Geschmacksrichtung betrifft. So fett, salzig und vorgefertigt habe ich im Süden nie gegessen. Ich schlafe schlecht wegen des überwürzten Essens.
Jetzt habe ich den Ehrgeiz, Thüringen komplett zu machen. Ich beschließe, dem Rat der Pressesprecherin aus Altenburg zu folgen und mir das Schwesterhaus in Gera anzuschauen. Verdis Macht des Schicksals wird gegeben, an einem sonnig-kalten Herbsttag im Oktober. Gera ist damals noch eine Großstadt, die erste auf meiner Reise – und die einzige der Thüringer Residenzen, die in der DDR zur Bezirksstadt wurde, was nicht unbedingt ein Vorteil war. Richtung Autobahn wucherten die Plattenbauten, in den kriegszerstörten Teil der Innenstadt pflanzte der Osten eine Kongresshalle und der Westen Einkaufszentren. Auf dem historischen Marktplatz sind wir an diesem Samstagnachmittag die einzigen Passanten.
Bis 1918 regierte auf dem Osterstein über der Stadt die jüngere Linie des Hauses Reuß, ihr Schloss ging im Krieg verloren, so dass die üblichen Attribute einer früheren Landeshauptstadt fehlen – bis auf das Theater. Erbprinz Heinrich XXVII. Reuß jüngere Linie ließ es kurz vor dem Ende der Monarchie von dem Berliner Architekten Heinrich Seeling errichten, 1902 wurde es eingeweiht. Die Hauptfassade entwarf er in reinstem Jugendstil, funktional sticht das Haus durch die Kombination von Theater und Konzertsaal heraus: An der Stelle, an der sich normalerweise das Foyer befindet, können hier bis zu 800 Zuhörer dem örtlichen Orchester lauschen.
Als konventioneller erweist sich die Verdi-Aufführung, die vor allem den Fundus an historischen Kostümen ausbreitet. Doch ich gebe nicht auf: Ein paar Jahre später kehre ich zu Janacˇeks Die Ausflüge des Herrn Broucˇek zurück. Das Stück hatte ich am Prager Nationaltheater sehen wollen, der Dirigent Sir Charles Mackerras sagte kurzfristig ab. Nun hält Gera, was Prag nur versprach: eine Aufführung, bei der fast alles passt, und ein Bühnenbild in der Art eines Scherenschnitts, perfekt abgestimmt auf die groteske Handlung und die Entstehungszeit des Stücks. Bei der Lektüre der Geraer Spielpläne verfalle ich immer wieder ins Staunen und frage mich, wie ein Theater dieser Größenordnung zwei Wagner-Produktionen in einer Spielzeit finanziert – bis ich in der Zeitung lese, dass der Etat um eine Millionensumme überzogen ist.
Nach dem Verdi-Abend spazieren wir über die Elster, hinüber nach Untermhaus. Der alte Stadtteil duckt sich unterhalb des früheren Schlosses, ein gotisches Kirchlein, hübsch restaurierte Häuser aus Barock und Biedermeier. Unser Gerabild hellt sich auf. Gleich hinter der Brücke zur Rechten steht das Haus, in dem der Maler Otto Dix geboren wurde. Heute hat die Stadt ein kleines Museum für den Künstler eingerichtet, der von den Nationalsozialisten als entartet verfemt worden war. Dabei hoffte Dix, der sich von Arno Breker hatte porträtieren lassen, 1933 zunächst auf eine Fortsetzung seiner künstlerischen Laufbahn. Der Expressionismus mit seiner Vorliebe für das Kraftvolle hätte als Repräsentationskunst taugen können, sagte mir ein Feuilletonkollege neulich, wäre er von Hitlers Leuten nicht so brüsk zurückgewiesen worden.
Solche Gedanken kommen mir an jenem Abend nicht, vielmehr stellt sich Behagen ein: darüber, dass ich in einer Stadt wie Gera Verdi hören kann; dass es hier ein respektables Kunstmuseum gibt; dass man so etwas in Deutschland, wenn man will, jedes Wochenende haben kann, immer an einem anderen Ort. Wir stehen auf der kleinen Holzbrücke, die das Dixhaus mit dem Jugendstiltheater verbindet, und schauen in den schwarz gurgelnden Fluss. »Eigentlich«, sagt mein Freund, »könnten wir so etwas viel öfter machen.«
Gera 27
»“Walküre in Dettmold“ ist das schönste Buch, das seit langem über Deutschland erschienen ist.«
Sebastian Hammelehle, Spiegel Online, 21.09.2011
»Ein Buch, das einen Deutschland mit anderen, mit offeneren Augen sehen lässt: ein kosmopolitischer Blick nach innen, ein fremder Blick aufs Eigene.«
Johan Schloemann, Süddeutsche Zeitung, 30./31.07.2011
»So vollführt das Buch eine Art Paukenschlag, der endgültig aufräumt mit dem Klischee von der angeblichen Engstirnigkeit, dem Biedersinn und Kleingeist der Provinz. Denn was sich da vor dem staunenden Leser auftut, ist ein kaleidoskopisch ausgebreiteter Reichtum an Inszenierungen, deren Niveau trotz knappen Kassen teilweise bemerkenswert ist, an steinernen Denkmälern und pointiert skizzierten regionalen Mentalitäten.«
Edelgard Abenstein, Deutschlandradio Kultur, 6.9.2011
»Man liest sich fest bei dieser Reise in 80 Abenden um die deutsche Opernwelt und möchte am liebsten gleich die Tasche packen, um wenigstens einige der architecktonischen Juwelen mit eigenen Augen zu sehen.«
Frederik Hanssen, Der Tagesspiegel, 15.11.2011
»… endlich beschreibt jemand die Reichhaltigkeit der deutschen Theaterlandschaft in einer vernünftigen Sprache, weder akademisch noch von den Euphorismen des Marketingdeutsch belastet.«
Katrin Bettina Müller, taz, 30./31.7.2011
»... auch für Kenner der deutschen Opernprovinz eine Fundgrube. ... Je länger Bollmann unterwegs ist, je mehr Opern er an Orten sieht, die er nie zuvor besucht hat, desto stärker schlägt auch seine Wertschätzung der deutschen Kulturlandschaft durch - und das Bedürfnis, die historischen Wurzeln der weltweit einzigen Theaterdichte freizulegen.«
Albrecht Thiemann, Opernwelt, September/Oktober 2011
»Fasziniert und ein wenig neidisch schlägt man dieses Buch auf und legt es dann ungern wieder aus der Hand. Ralph Bollmann hat tatsächlich über zehn Jahre lang Deutschland kreuz und quer bereist, um nach und nach alle Opernhäuser zu besuchen. Sein Vorhaben ist ebenso brillant wie einleuchtend: Ausgehend von der Historie und gegenwärtigen Situation der Theater breitet der Autor ein Panorama deutscher Stadtkultur aus ... Dieses Buch geht weit über eine Hommage an eine einzigartige Opernlandschaft hinaus und berührt den Kern dessen, was das Selbstverständnis unserer Kultur insgesamt ausmacht.«
Juan Martin Koch, Neue Musikzeitung, Dezember 2011
»Wer sich einen Überblick über die immer noch reiche deutsche Opernlandschaft verschaffen will, wird mit dem Buch sehr gut bedient.«
Gerals Martens, Das Orchester, Dezember 2011
»Der wichtigste Beitrag zur Opernkunst in Deutschland fand diesen Sommer auf keiner Festspielbühne statt, sondern hatte im Juli auf 285 Buchseiten Premiere: „Walküre in Detmold“ heißt das Buch und ist eine „Entdeckungsreise durch die deutsche Provinz“. ... Der Leser von „Walküre in Detmold“ blickt in ein bunt variierendes Kaleidoskop der deutschen subventionierten Kulturprovinz von Aachen bis Görlitz und von Stralsund bis Freiburg und erkennt dabei, dass „unser kulturföderalistisches Deutschland keine bornierte Rentnerpromenade“ ist.«
Pascal Morché, Crescendo, 07/2011
»Bollmann kommt mit den Augen des Neugierigen, des Historikers, der sich für die Kleinstaaten, föderalen Wurzeln interessiert, die Deutschland unter anderem eben auch den kulturellen Reichtum so vieler Opernhäuser hinterlassen haben … Bollmanns Ausflüge in die Städte neben den Opern, um die es ihm ja ausgehend von dem Wunder von Neustrelitz ursprünglich ging, sind lehrreich, weil sie genau beobachtet sind und im Kleinen, manchmal im Vorbeigehen, das Große entdecken, das es neben einer mitreißenden Operninszenierung auch zu erzählen gilt - über die Stadt und was sie ausmacht.«
Felix Zimmermann, Oldenburger Lokalteil, 16.8.2011
»Herausgekommen ist mit „Walküre in Detmold“ eines der liebenswertesten Lesebücher der letzten Jahre über diese Republik.«
Alexander Dick, Badische Zeitung, 08.11.2011
»Ein faszinierendes Psychogramm der Provinz, in Ost wie West, in klammen wie in wohlhabenden Regionen. Da der Autor auch Historiker ist, hat er einen sicheren Blick dafür, wie sich Mentalitäten im Umgang mit Kultur auswirken. Er beschreibt, was war und was ist, und wie symptomatisch der Zustand dieses weltweit einzigartigen Musiktheatersystems fürs Gemeinwesen ist.«
Joachim Mischke, Hamburger Abendblatt, 23.7.2011
»Feuilletonistisch locker und kurz, nie schönfärbend, zuweilen ein wenig frech und polemisch - was Lokalpatrioten stören oder aber aufrütteln mag - ist das ein aktuell formuliertes Plädoyer für die weltweit einzigartige Kulturlandschaft.«
Lübecker Stadtzeitung, 08.11.2011