An der Zeitmauer

Mit Adnoten von Detlev Schöttker
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»Das Buch, das mich in letzter Zeit am längsten beschäftigt hat, ist Jüngers ›Zeitmauer‹. Um es gleich zu sagen: es ist ein überaus gescheites und gutes Buch, mit dem man eigene Empfindungen und Gedanken durch einen kompetenteren Mann bestätigt sieht. […] Das Buch ist eine Untersuchung über das Unbehagen in der heutigen Menschheit, zumal der abendländischen.«

Hermann Hesse, Nach der Lektüre des Buches »An der Zeitmauer«

Ernst Jünger führt in der »Zeitmauer« Gedanken seines »Arbeiter«-Essays fort; so schrieb er 1959 in einem Brief: Das Buch hat sich zu einer Fortsetzung von ›Der Arbeiter‹ entwickelt, führt allerdings in neue Richtungen. Das Thema ist ungefähr die Schilderung der Überwältigung der Weltrevolution durch Erdrevolution. Manches davon deutete sich bereits im ›Arbeiter‹ an.«

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Leseprobe

An der Zeitmauer

Humane Einteilungen


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Die Revolutionen künden sich in den Sternen an. Das war längst so, ehe Menschen die Erde bewohnt haben. Dort sind die Maßstäbe zur Einteilung der Weltzeit, vom flüchtigen Augenblick bis zu den Lichtjahren. Daher deuten sich die tiefsten Veränderungen der menschlichen Ordnung in der Sternkunde an. Der Blick auf den gestirnten Himmel wirft die erste, die unsichtbare Bahn. Dem folgen die Erscheinungen. Die Moderne beginnt und endet mit der kopernikanischen Revolution. Jeder neue Blick auf das All hat einen metaphysischen Hintergrund. Das All und das Auge verändern sich gleichzeitig. Das gilt auch nach der Erfindung der Fernrohre und innerhalb komplizierter Berechnungen.
In die Erfassung großer Zeitalter teilen sich heute Geschichte und Naturgeschichte, ohne uns zu befriedigen, obwohl ihnen nicht nur eine Fülle neuen Materials, sondern auch neuer Meßgeräte und Uhren zur Verfügung steht. Die Einteilung läßt sich auf eine Gerade oder auf einen Kreis abtragen, je nachdem, ob ein lineares oder ein zyklisches System angenommen wird. Eine Verbindung von beiden gibt die Spirale, in der die Entwicklung sich sowohl fortbewegt als auch wiederkehrt, wenngleich auf verschiedenen Ebenen.
Es scheint, daß zyklische Systeme dem Geist gemäßer sind. Wir bauen auch die Uhren rund, obwohl kein logischer Zwang dazu besteht. Auch Katastrophen werden als wiederkehrend angenommen, so Fluten und Verwüstung, Feuer und Eiszeiten. Das periodische Wachsen und Schwinden der weißen Kappen hat etwas Pulsierendes. Man hat den Eindruck, daß es noch einer kleinen Änderung bedürfte, und ein indisches Philosophem würde konzipiert.

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Der klassische Darwinismus zählt zu den linearen Systemen, doch dringen zyklische Vorstellungen in ihn ein. Die Darstellung der dürren Stammbäume in den Lehrbüchern beginnt sich zu belauben, nimmt Busch- und Kugelformen an. Das »biogenetische Grundgesetz« ist als Beleg des linear aufsteigenden Fortschreitens gedacht. Es läßt sich ebensogut als Wiederholung und Wiedervollzug des Schöpfungsgedankens im Einzelnen auffassen und als Dienst, den die gesamte Natur, ja das Universum selbst, an seiner Bildung zu leisten hat. Das große Theater kreist um ihn herum. Mit jedem Menschen wird die Welt neu konzipiert.
In der Entwicklung der Tierstämme herrscht über dem lückenlosen Fortfließen des Bios die Wiederkehr von Bildungselementen, die von der Verwandtschaft unabhängig sind: der ideale Eingriff formender Prinzipien. Jeder der großen Stämme bildet in sich fliegende, schwimmende, landbewohnende Wesen aus, Parasiten und Nachahmer, Raubtiere und Pflanzenfresser, und es ist erstaunlich, welche Ähnlichkeit von Form und Wesen bei größter Fremdheit der Blutlinien auftreten kann. Ein Saurier lebt als Vogel, eine Eule nach Art des Murmeltiers.
Wenn man »den Fisch« nicht mehr als eine Art Stafettenläufer im anatomischen System, sondern als Lebensform und -schicksal auffaßt, kann man sagen, daß es Würmer, Schlangen, Saurier, Vögel, Säugetiere und auch Menschen gibt, die Fische sind. Das setzt eine geringfügige Verschiebung der Optik voraus, die eintreten könnte, wenn der Nominalismusstreit in eine neue Instanz getrieben würde, worauf Anzeichen hinweisen. Es gibt viele mögliche Natursysteme neben, außer und über dem unseren.

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Eine Ordnung der Menschheitsgeschichte unter Richtpunkten, die außerhalb der Kultur- und Völkergeschichte liegen, also etwa den astrologischen ähneln würden, scheint heute besonders schwierig, auch abgesehen von dem großen Anfall an Tatsachen. Dieser besteht nicht nur darin, daß sich, vor allem durch die Ausbildung der Archäologie, unsere Kenntnis der Frühgeschichte erweitert hat und noch fortwährend ausdehnt, so daß nicht nur neues Licht auf die uns bekannten Kulturen fällt, sondern auch ganz unbekannte auftauchen. Dazu kommt der erstaunliche Einblick in die Vorgeschichte, der nicht nur ein neues Feld, sondern eine neue Dimension erschließt.
Je mehr Tatsachen anfallen, desto entschiedener muß der Geist auf seinem Herrschaftsanspruch, auf Ordnung und Benennung, bestehen. Vielleicht ist bereits der Andrang von Tatsachen ein Symptom der Schwächung, ein hellenistischer Zug. Der Geist wird zum Museumsdirektor, zum Kustos unkontrollierbarer Sammlungen.
Bereits aus diesem Grunde ist Spenglers System mit seiner Einteilung in acht Kulturen dem Toynbees vorzuziehen, das sich auf deren einundzwanzig stützt. Auch diese Zahl könnte durch archäologische Ergebnisse und feinere Einteilung vermehrt werden. Es bleibt aber richtig, daß der Geist der Forschung die Aufträge erteilt, nicht umgekehrt. Tatsachen schaffen Belege, nicht Wahrheiten. Wo geforscht wird, wurde das Feld bereits durch geistige Vetos und Placets abgesteckt. Was gefunden wird, ist daher nicht zufällig.

Klett-Cotta
2. Aufl. 2019, 256 Seiten, Taschenbuch
ISBN: 978-3-608-96069-3
autor_portrait
© Ulf Andersen

Ernst Jünger

Ernst Jünger, am 29. März 1895 in Heidelberg geboren. 1901–1912 Schüler in Hannover, Schwarzenberg, Braunschweig u. a. 1913 Flucht in die ...

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Tagebücher VII: Strahlungen VI, Strahlungen VII

Sämtliche Werke - Band 8

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Sämtliche Werke - Band 9

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Essays II: Der Arbeiter

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Essays III: Das Abenteuerliche Herz

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Essays IV: Subtile Jagden

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Essays V: Annäherungen

Sämtliche Werke - Band 14

Essays VI: Fassungen I

Sämtliche Werke - Band 15

Essays VII: Fassungen II

Sämtliche Werke - Band 16

Essays VIII: Fassungen III

Sämtliche Werke - Band 18

Erzählende Schriften I: Erzählungen

Sämtliche Werke - Band 19

Erzählende Schriften II: Heliopolis

Sämtliche Werke - Band 20

Erzählende Schriften III: Eumeswil

Sämtliche Werke - Band 21

Erzählende Schriften IV: Die Zwille

Sämtliche Werke - Band 22

Supplement-Band: Späte Arbeiten - Aus dem Nachlass

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Schriften zum Ersten Weltkrieg

Auf den Marmorklippen

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Naturbetrachtungen

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Die Tagebücher des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit (1939-1948) Historisch-kritische Ausgabe herausgegeben von Joana van de Löcht und Helmuth Kiesel


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