Der gordische Knoten1
»Ost und West«: diese Begegnung im Weltgeschehen ist nicht nur ersten Ranges, sondern beansprucht einen Rang für sich. Sie gibt die geschichtliche Hauptrichtung, die Achse, die sich nach der Sonnenbahn bestimmt. Aufleuchtend mit dem frühesten Lichte, spinnen sich ihre Muster bis in unsere Tage fort. Die Völker treten mit stets neuer Spannung auf die alte Bühne und in die alte Handlung ein.
Es liegt an unserer Optik, daß sie vor allem den Glanz der Waffen festhält, der über dem Schauspiel liegt. All diese Heere, Phalangen, Silberschildner, Elefanten, Kreuzritter und Sarazenenhändel, Seeschlachten in der Levante, Panzer und Luftgeschwader, Untergänge in Eis und Wüsten, Städtezertrümmerungen von den Zeiten des Demetrios Poliorketes, des Titus, des Tamerlan bis zu den unseren: das prägt sich dem Gedächtnis ein. Doch immer folgen friedliche Jahrhunderte, versponnene Ränder vom hohen Norden bis zu den afrikanischen Grenzländern.
Das gleiche gilt für das Thema: Freiheit und Schicksalszwang. Es liegt auch an unserer Optik, daß sich ihr vor allem die Despotie aufdrängt. Wir fühlen die Schwerkraft des Kontinents, hören das Klirren der Ketten vom Kaukasus. Die persischen Könige und ihre Satrapen, die Schahs und Khane, die Anführer unermeßlicher Geschwader und Heersäulen, über denen die fremden Banner aufsteigen: Roßschweife, Drachen, rote Sonnen, Sterne, Sicheln und Halbmonde – es bleibt immer der gleiche Schrecken, der ihrem Einbruch vorausweht, während Brände den Himmel rot malen.
Dagegen verblaßt die Drohung einer Niederlage durch Ähnliche, durch Gleiche im Völker-, ja selbst im Bruderkrieg. Mit den schlitzäugig Dunklen, den kleinen, lächelnden Gelben, den pferdehaarigen Reitern, den breitbackigen Riesen zieht eine andere Sonne auf. Sie stehen wie fremde Götterbilder auf den Hügeln, vor ihren Zelten, im eroberten Palast. Die großen Brände rauchen ihnen als Opferfeuer, das Blut von Massenmorden, der Schrei der Geschändeten verkünden die Geburt, den Anbruch ihrer Macht. Die Führer gleichen nicht Alexander, dem Vorbild westlicher Fürsten und Feldherren. Sie sehen wie Dschingis-Khan ihren Ruhm und ihre Stärke darin »niemals milde zu sein«.
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Demgegenüber wird der Schutz der Ströme und Bollwerke zur heiligen Aufgabe. Sie hebt die Sonderungen, die ererbten Händel des Abendlandes in und zwischen seinen Völkern auf. Marathon und die Thermopylen, Byzanz und Rhodos, die katalaunischen Felder, Wien und Wahlstatt: an solchen Punkten wendet die Geschichte sich immer wieder ihrer Hauptrichtung, dem großen Thema zu. An solchen Orten wird das Abendland gemessen mit dem umfassendsten Maße, gewogen mit dem schwersten Gewicht. Es wird auf seinen Sinn, auf seine Einheit zurückgeworfen und In Ihnen wiederhergestellt, wenn es dessen bedarf. Jede irdische Macht, auch die größte, hat ihr Gegengewicht. Durch dieses Widerspiel erhält sich der Gang der Welt, die Fülle ihrer Stunden, wie es die schöne Stelle in Jesus Sirach beschreibt (43, 23–26).
Daß freier Geist die Welt beherrsche, Wird nachgewiesen um den höchsten Preis. Das ist die Prüfung, die im Opfergange bestanden werden muß. In ihr ist zu erweisen, daß freie Führung die Despotien überflügelt, daß freie Kampfer der Schwerkraft der Massen überlegen, daß ihre Waffen durchdachter und fernhin treffender sind. Dann kommt es zu den Wenden bei denen die Geister mitkämpfen. Die ungeheuren Heere werden gestellt, in Täler, Kessel und Engpässe getrieben in Seen oder Meerengen gedrückt. Die Reste fliehen, ihre Führer legen Hand an sich in den Wäldern und Einöden, sie werden ermordet, wie Darius bei den kaspischen Toren, oder vom Kismet zur Hinrichtung in fernen Residenzen aufgespart.
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Wiederum gehört zum Bilde der Untergang
westlicher Heere in Wüsten, Steppen und Ebenen. Der Raum wird feindlich, Hitze und Frost treten als seine Bundesgenossen auf, Die Ordnung wird angegriffen, von Auflösung bedroht. Der Feind benutzt die Einöde als Netz, als Irrgarten. Oft bleibt er unsichtbar. Er kann auf die Entscheidungsschlacht verzichten und zieht Beunruhigung durch Reiterschwärme, Nachhutgefechte und Partisanen vor. Die Glut, der Frost, der Hunger, die Ungewißheit zermürben gründlicher als jede Strategie. Sich auf das Ungebahnte einzulassen, bedeutet für den westlichen Feldherrn ein größeres Wagnis als für den östlichen. Das kostete schon Crassus den Kopf.
Wo es zu sichtbaren Triumphen, wie zu Städteeroberungen, kommt, verwandelt sich leicht über Nacht der Sieger zum Bedrohten, der Angreifer zum Belagerten. So ging es Karl XII. bei Poltawa, Napoleon bei Moskau, dem Marschall Paulus bei Stalingrad.
Nach den Katastrophen erreichen nur Trümmer das Meer oder die Grenzflüsse, und spät kehren die aus grausamer Leibeigenschaft Entronnenen zurück. Die Inbrunst, mit der Xenophons Gefährten das offene Meer begrüßten, wiederholt sich durch die Jahrhunderte bis zur Befreiung der Schiltberger und Cervantes, bis zu den Grenadieren der Großen Armee, bis zu unseren Heimkehrern.
Die Größe Alexanders, das Licht, das sie auf jede abendländische Fürstenkrone wirft, liegt eher darin, daß er dem Großraum, als daß er dem Großkönige gewachsen war. Wunderbarer, als daß er Babylon brach, bleibt, daß er aus Indien zurückkehrte. Es läßt sich schwer sagen, welcher Vorstoß das größere Wagnis darstellt: jener von Westen in die östlichen Weiten oder jener von Osten in die westlichen Ordnungen. Beide entfernen sich vom Feld der eigenen Stärke und führen in ein anderes Gesetz. Das deutet sich schon in der Vorbereitung an. Dem einen Partner ist daran gelegen, die Weite auszudehnen, dem anderen, sie in Maß zu bringen und zu bändigen. Einebnung und Erhöhung von Richtpunkten begegnen sich, wie zwischen den Hunnen und Heinrich dem Städtebauer, als Kampfweisen. Beides wird mit sichtbaren und unsichtbaren Mitteln, physisch und geistig, versucht. Es treffen sich zwei Arten der Freiheit, die sich gegenseitig als Zwang empfinden; Weite und Höhe sind ihre Urmaße.
Erklärt nun die Größe des Wagnisses, daß es seit Vorzeiten her trotz allen Pendelschlägen nie zur Entscheidung gekommen ist? Oder erklärt die Tatsache, daß es sich um Grundmächte handelt, die Größe des Wagnisses? Das sind zwei Fragen, die sich in der Schwebe halten, ähnlich wie jene, ob bei den großen Gängen die Zerstörung oder die Befruchtung überwiegt.