Die vierte Folge von »Siebzig verweht«, in den Jahren zwischen 1986 und 1990 entstanden, macht erneut deutlich, dass Ernst Jüngers Tagebücher die beste Einführung sind in sein Denken und in seine Weise, die Welt mit »stereoskopischem Blick« zu erfassen.
Der vertraute Umgang mit der zur Heimat gewordenen Wilflinger Landschaft und die zahlreichen Ausflüge in die Fremde haben einen Schatz von teils kostbaren, teils signifikanten Einzelheiten angehäuft, die sich durch die Kunst des Autors zu einem unverwechselbaren Muster zusammenfügen, in dem die Harmonie des zugrundeliegenden Weltplanes aufleuchtet.
Das mit wachen Sinnen registrierte Fortschreiten der Erdrevolution mit Hilfe der perfektionierten Technik führt bei Ernst Jünger auch im Alter nicht zu einem Einstimmen in die Klagen der Kulturpessimisten, sondern stärkt sein Vertrauen in eine Entwicklung, als deren Gesetz er die Annäherung an das Vollkommene begreift.
In den zu Lebzeiten Ernst Jüngers abgeschlossenen achtzehn Bänden der »Sämtlichen Werke« sind die nach 1983 publizierten Arbeiten des Autors noch nicht enthalten. Deshalb werden die »Sämtlichen Werke« um vier Supplementbände ergänzt, mit denen das Gesamtwerk Ernst Jüngers in einer geschlossenen Edition vorliegt.
Alle Bücher von Ernst Jünger - mit den Sämtlichen Werken
Strahlungen VI
Wilflingen, 3. Januar 1986
Die Übervölkerung war schlimmer als in Ägypten; auf Straßen und Plätzen bildeten sich Staus, die sich kaum auflösten. Vor den Läden mußte man halbe Tage lang anstehen; sie waren ausverkauft, wenn man an der Reihe war. Tagsüber kam man nicht zum Dienst und abends nicht zum Vergnügen, wenn man Pech hatte. Oft waren die Passanten wie Heringe eingeklemmt. Sie konnten die Arme nicht aufheben – außer zierlichen Taschendieben, die sich wie Aale im Netz bewegten und die Brieftaschen zogen, als ob sie Kleiderpuppen abstaubten. Sie wurden nicht einmal bestraft.
Zum Glück gabs Privilegien. Wenn man »dazugehörte«, trug man einen Mantel wie alle anderen – nur daß er mit Pelz gefüttert war. Man kannte das Paßwort: den Code, den man in das Mikrophon einer der Zellen flüsterte, die wie Bedürfniskabinette unauffällig im Gebiet verteilt waren. Man mußte sie kennen; sie waren als Hauseingänge getarnt. Auf den Code hin öffnete sich die Tür zu einem Fahrstuhl, der in den Untergrund hinabschwebte. Dort gab es Raum in Fülle, dazu laufende Bänder, die mit Sesseln bestückt waren und im Nu zum Ziel führten. Dann stieg man diskret durch eine der Zellen wieder aus, falls man nicht vorzog, unten zu bleiben, denn dort war für Bequemlichkeit in jeder Weise gesorgt; die Zeit verfloß wie im Traum. Bars, Kinos, Lesesäle, Bäder mit Bedienung, Callgirls standen zur Verfügung – alles umsonst. Ein unbegrenztes Scheckbuch wäre nur eine Vorstufe gewesen; das Codewort genügte zum Eintritt in den Untergrund. Und wenn sich einer einschliche? Das wollte ich ihm nicht anraten.
Wilflingen. 6. Januar 1986
Rauhnächte haben je nach der Landschaft verschiedene Namen: Rauch-, Raun-, Raub- und Freinächte; werden auch verschieden datiert. »Vielfach bezeichnet man die ganze Zeit der Zwölfe als Rauhnächte.« (Bächtold-Stäubli) Dem möchte ich mich meiner Erfahrung nach anschließen. Als besonders trächtig gilt die Dreikönigsnacht. Heuer war wenig zu notieren; die Nächsten zeichneten sich in den Traumgesellschaften nur vage ab.
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In der Neujahrspost fallen Korrespondenten aus, die Jahre und Jahrzehnte lang gegrüßt haben. Für manche treten die Kinder ein; so setzen Otto und Christa Plassmann die lateinischen Augurensprüche und Sonja Maatsch die Zeichnungen der Väter fort.
Die Bilder der Abgeschiedenen verkleinern sich von Jahr zu Jahr; manche verschwinden bei wachsender Entfernung wie Sterne in der kosmischen Dämmerung. Andere werden wie Gemmen schärfer, weil das Alltägliche der Erscheinung schwindet – besonders solche, an die sich Anekdoten ansetzen.
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An Konrad Zimmer: »Der im Kyffhäuser scheint sich nicht zu regen – entweder fühlt er sich nicht angesprochen, oder es muß ein Erdbeben kommen, bis er erwacht.«
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Helmuth Krück bereichert mein Naturalienkabinett durch das Schwanzende einer Klapperschlange und notiert dazu: »Aus dem Land der zitternden Erde (Prairies tremblantes), dem von schwimmenden Inseln bedeckten Sumpf Okeefenokee an der Grenze zwischen Florida und Georgia. Eine diskrete Rassel (Rattle-Snake) keine Klapper! Sicher hat Hiawatha sie in seinem Medizinbeutel mitgeführt.«
Klappern und rasseln. Es liegt in der Natur der Sprache, daß sie der hörbaren Welt dichter anliegt als der sichtbaren. Daher ist sie bei der Schilderung von Farbnuancen auf Vergleiche angewiesen – türkisgrün, tabakbraun, zitronengelb. Lauten dagegen antwortet sie unmittelbar, besonders den eindringlichen, also der Brandung mehr als dem sanften Wellengang, dem Sturm mehr als dem leichten Wind. Hinweise auf Unterschiede von Schlag- und Blas- zu Saiteninstrumenten, von Ballade und Lyrik, Konsonanten und Vokalen, von Rhythmus und Melos schlechthin.
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Daß Kindheitserinnerungen stärker und genauer sind als solche aus dem Alter, ist oft bemerkt worden. In einem Alten sind Lehrer und Kameraden der Vorschule lebendig, während ihm Einzelheiten des gestrigen Tages entfallen sind.
Wenn wir über eine Seite, deren Schrift noch feucht ist, mit dem Löscher fahren, bleiben die letzten Zeilen viel blasser als die ersten auf dem Blatt.
Damals müssen wir stärker gelebt haben. Und vielleicht noch stärker in Zeiten, von denen kein Echo kommt, zu denen keine Erinnerung reicht.
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Wiederbegegnungen, die alles übertreffen, was uns im Leben köstlich schien.
Ernst Jünger, am 29. März 1895 in Heidelberg geboren. 1901–1912 Schüler in Hannover, Schwarzenberg, Braunschweig u. a. 1913 Flucht in die ...
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