Familiäre Belastungen in früher Kindheit

Früherkennung, Verlauf, Begleitung, Intervention

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Umfassende Hilfen für Familien in Not

Das Buch macht Gefährdungssituationen transparent, stellt Präventionsstrategien vor und zeigt, wie man mit modernen Interventionsstrategien Familien in Belastungssituationen professionell begleiten kann.

Belastungen in der frühen Kindheit können vielfältig sein. Das Spektrum reicht vom Übergang in die außerfamiliäre Betreuung über die psychische Erkrankung eines Elternteils, die Geburt als Frühchen oder die Entwicklung einer Regulationsstörung bis hin zu schweren Traumatisierungen.  

Die Autorinnen und Autoren zeigen, wie man mit modernen Interventionsstrategien Familien in Belastungssituationen professionell begleiten kann:
- Wie kann Früherkennung geleistet werden?
- Wie können Säuglinge und Kleinkinder geschützt werden?
- Wie können langfristige Auswirkungen von Risikokonstellationen aussehen?
- Wie kann man diesen gezielt entgegen wirken?

Zielgruppe:
- Alle professionellen Helfer, die belastete Familien und deren Kinder in Forschung und Praxis betreuen: z. B. Hebammen, Erzieherinnen, Heilpädagoginnen, Psychologen, Psychotherapeuten, Ärzte, Sozialarbeiterinnen, Mitarbeiterinnen aus Jugend- und Sozialämtern, Studierende.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .10

Martin Dornes
Erziehungsnotstand? Mythen und Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .17

1 Belastungsszenarien in früher Kindheit

Angela Kribs, Sabine Jerchel und Norbert Heinen
Psychische Belastung von Eltern Frühgeborener . . . . . . . . . . . . .49

Hans-Peter Hartmann
Ursachen, Behandlung und Verlauf postpartaler Depression . . . . .65

Peter Rossmann
Depressive Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter . . . . . . . .82

Klaus Sarimski
Behinderung als Risikofaktor für Komorbidität . . . . . . . . . . . . . .93

2 Früherkennung und Diagnostik

Karin Grossmann
Stumme Zeichen des Leids bei Kleinkindern in Familie und Tagesbetreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .113

Frans Coninx
Zur Notwendigkeit der Früherfassung von Hörstörungen . . . . . .125

Carola Bindt
Diagnostik und Therapie von Fütter- und Gedeihstörungen aus psychosomatischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Sven Bölte
Früherkennung von Autismus-Spektrum-Störungen:
Konzepte, Instrumente und praktische Umsetzung . . . . . . . . . . 153

3 Verlauf und Begleitung

Hans-Günther Roßbach
Langfristige Auswirkungen außerfamilialer frühkindlicher Betreuung . . 169

Fabienne Becker-Stoll
Qualitätsstandards der Krippenbetreuung in Deutschland und Europa . . 179

Wilfried Datler, Maria Fürstaller und Katharina Ereky-Stevens
Der Übergang in die außerfamiliäre Betreuung: Der Beitrag der Kleinkinder zum Verlauf von Eingewöhnungsprozessen . . . . . . . . 205

Jennifer Jaque-Rodney
Begleitung von Familien mit Frühgeborenen durch Familienhebammen 229

Corinna Offermann und Rüdiger Kißgen
Stationäre Betreuung Frühgeborener und ihrer Eltern in Deutschland: Eine quantitativ-empirische Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

4 Intervention und Therapie

Mechthild Paul
Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH):
Aufgaben, Bilanz, Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .251

Tordis Horstmann
Der Stellenwert der interdisziplinären Frühförderung in der Begleitung von Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

Éva Hédervári-Heller
Eltern-Säuglings- und -Kleinkind-Therapie bei frühen
Verhaltensauffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .277

Karl Heinz Brisch
Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Therapie bei früher Traumatisierung . . . . . 291

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .313



Leseprobe

Vorwort

Kinder im Vorschulalter scheinen in den letzten Jahren zunehmenden Herausforderungen, Risiken und Belastungen ausgesetzt zu sein, die ihre Entwicklung behindern und erschweren und ihr Wohl beeinträchtigen. Sowohl die unterschiedlichen Fachwissenschaften als auch die verschiedenen Praxisfelder tragen dieser Entwicklung Rechnung, indem sie die aktuellen Aufgaben in ihren Fokus nehmen und durch intensive Forschungsarbeit bzw. die Entwicklung von neuen Praxiskonzepten zur Lösung der vielfältigen Fragen und Probleme beizutragen suchen. Aufmerksamkeit findet die Situation der Kinder auch in der Sozialpolitik, sodass sich gegenwärtig zahlreiche Initiativen auf unterschiedlichen politischen Ebenen konstatieren lassen, die sowohl auf die Prävention und Rehabilitation als auch auf die Entwicklungsförderung und vorschulische Bildung gerichtet sind. Alle diese Anstrengungen können jedoch als Einzelaktivitäten wenig ausrichten und bedürfen deshalb einer interdisziplinären Koordination und Vernetzung, da adäquate und effiziente Hilfestellungen für gefährdete, von Behinderung bedrohte und behinderte Kinder nur fachdisziplin- und ressortübergreifend entwickelt und verwirklicht werden können.

Die Vielfältigkeit und Vielgestaltigkeit der Ursachen, Formen und Wirkrichtungen von Risiken und Belastungen in der frühen Kindheit sowie die unterschiedlichen Zeitpunkte ihres Auftretens erfordern einerseits eine hohe Fachspezifität in Diagnostik, Therapie, Intervention und bei der Gestaltung heilpädagogischer und (sozial-)pädagogischer Maßnahmen. Andererseits ist eine intensive Vernetzung und Kooperation zwischen den verschiedenen Disziplinen in Theorie und Praxis erforderlich. Um den begonnenen Prozess konsequent und erfolgreich weitergehen zu können, bedarf es darüber hinaus zum einen der Bereitstellung finanzieller und personeller Ressourcen und zum anderen in den Institutionen der Wissenschaft und Praxis des verantwortlichen und professionellen Umgangs mit den bereitgestellten Mitteln. Zudem kann durch Internationalität der Forschung, des Austausches und der Kooperation in den verschiedenen Praxisfeldern eine Beschleunigung des Verbesserungs- und Veränderungsprozesses zur Lebenssituation von Kindern im Vorschulalter erreicht werden.
Mit diesem Buch halten Sie einen Band in Händen, der in enger Verzahnung von Theorie und Praxis aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Disziplinen und Professionen aktuelle Forschungsergebnisse und Praxiskonzepte dokumentiert und Impulse für die Arbeit mit Kindern im Vorschulalter geben will. Die einzelnen Beiträge resultieren aus den Vorträgen des zweiten wissenschaftlichen Kongresses mit dem Titel Kölner Forum Frühe Kindheit 2010 – Entwicklung: Ausgangslagen und Verläufe aus interdisziplinärer Perspektive, der von der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln am 29. und 30. Oktober 2010 im Kölner Gürzenich veranstaltet wurde. Das Programm dieses zweiten Kongresses zielte in Fortsetzung des im Jahr 2008 zum Thema Frühe Risiken – Frühe Hilfen realisierten Kongresses darauf ab, die Besonderheiten normaler und auffälliger Entwicklung in der frühen Kindheit aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und ausgewählten Praxisbereichen auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes zu präsentieren.

Die wiederum übergroße Resonanz, die auch der zweite Kongress bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der verschiedenen Fachdisziplinen und Praxisfelder fand, veranlasste die Veranstalter, auch zu diesem Kongress einen Band herauszugeben und damit die aktuellen Forschungsergebnisse und Praxiskonzepte einem größeren Fachkreis zugänglich zu machen.

Hinsichtlich der thematischen Akzentuierungen sowie der inhaltlich-formalen Gestaltung wollen sowohl der Kongress als auch das Buch den oben formulierten Leitgedanken Rechnung tragen, weshalb die einzelnen Vorträge für die Veröffentlichung aktualisiert, ausdifferenziert und zu Fachartikeln erweitert wurden. Deren Präsentation wird in vier Kapiteln mit den Schwerpunkten
• Belastungsszenarien in früher Kindheit,
• Früherkennung und Diagnostik,
• Verlauf und Begleitung,
• Intervention und Therapie
nachfolgend umgesetzt.

Wir danken allen Autorinnen und Autoren, die ihre Beiträge für diese Publikation zur Verfügung gestellt haben. Ein weiterer Dank gilt unseren studentischen Mitarbeiterinnen Mareike Huuk, Sahra Söhn und Fenja Wieneke, die nicht nur durch ihr Engagement und ihre Professionalität bei der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung des Kongresses wesentlich zu dessen Gelingen beigetragen, sondern auch Teile der redaktionellen Arbeit an diesem Band übernommen haben. Herrn Dr. Heinz Beyer vom Verlag KlettCotta, dessen Zuverlässigkeit und Professionalität wir auch bei der Entstehung dieser Publikation wieder erfahren durften, danken wir herzlich für die Kooperation. Für die finanzielle Unterstützung, die uns nach 2008 auch bei der Realisierung des Kongresses im Jahre 2010 durch die Köhler-Stiftung im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft und die Rhein Energie Stiftung Köln zur Verfügung gestellt wurde, danken wir ebenso herzlich.

Es ist unser Wunsch, dass dieses Buch ein breites Interesse findet und Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Disziplinen und Professionen – wie zum Beispiel Erzieherinnen, Heilpädagoginnen, Erziehungsberaterinnen, Psychologinnen, Ärztinnen, Sozialarbeiterinnen, Ergotherapeutinnen, Logopädinnen, Hebammen – Anregungen für ihre Praxis gibt und ihnen Mut macht, weiter für die Verbesserung der Lebenssituation von Kindern und ihren Familien zu arbeiten. Zudem hoffen wir, dass auch Studierende verschiedener Fachdisziplinen von dieser Veröffentlichung profitieren können.

Rüdiger Kißgen und Norbert Heinen Einleitung

Das vorliegende Buch gliedert sich in einen übergeordneten, eröffnenden Beitrag zum Thema Erziehung und in vier Teile, in denen verschiedene Facetten familiärer Belastungen in der frühen Kindheit erörtert werden. Der erste Teil sensibilisiert für verschiedene klinisch relevante Belastungsszenarien und präsentiert damit einhergehende aktuelle Forschungsergebnisse. Die Beiträge des zweiten Teils skizzieren die Möglichkeiten und die Notwendigkeit der Früherkennung und der Diagnostik früher Belastungen und klinisch relevanter Probleme. In Teil 3 stehen der Verlauf und die Begleitung früher Belastungen im Mittelpunkt. Das inhaltliche Spektrum reicht hier von den langfristigen Auswirkungen außerfamiliärer Betreuung bis hin zu einer Bestandsaufnahme der Qualität stationärer Betreuung frühgeborener Kinder und ihrer Eltern in Deutschland. Der abschließende vierte Teil enthält Beiträge, die sich mit der Intervention und der Therapie in der frühen Kindheit auseinander setzen.

Martin Dornes eröffnet den vorliegenden Herausgeberband mit einem Beitrag zu Mythen und Fakten eines vermeintlichen Erziehungsnotstands, von dem in der heutigen Zeit auch im Kontext und auf der Grundlage diverser früher familiärer Belastungen immer wieder in den Medien die Rede ist. Neben dem Wandel erzieherischer Maximen, der Frage, ob es Kindern heute seelisch besser oder schlechter als früher geht, und der Darstellung verschiedener Konfliktkonstellationen thematisiert Martin Dornes die Verbreitung von Katastrophenszenarien. Es spricht einiges dafür, dass die Probleme, die wir heute im Vergleich zu früher haben, nicht größer, sondern eher kleiner, vor allem aber andere geworden sind. Die Andersartigkeit kann man in Kurzform dahingehend zusammenfassen, dass heutige Kinder und Jugendliche nicht mehr an einem Übermaß an Unterdrückung leiden, sondern – im Großen und Ganzen erfolgreich – damit beschäftigt sind, von den Freiheiten, welche die modernisierte Erziehung und die pluralisierte Gesellschaft mit sich gebracht haben, verantwortungsvoll Gebrauch zu machen. Das beruhigende Fazit des Autors lautet, dass es zu keiner Zeit der Mehrzahl der Kinder in Deutschland so gut ging wie heute, und zwar in jeder nur denkbaren Hinsicht: in materieller, psychischer, körperlicher, kognitiver und bildungsmäßiger.

Teil 1 zu den Belastungsszenarien in früher Kindheit wird mit einem Beitrag von Angela Kribs, Sabine Jerchel und Norbert Heinen eröffnet. Die Autorengruppe setzt sich dort mit den psychischen Belastungen von Eltern Frühgeborener auseinander. Die Frühgeburt eines Kindes stellt eine drastische Unterbrechung der elterlichen Vorbereitung auf die Geburt und den Übergang zur Elternschaft dar, in deren Folge sich die Eltern mit einer Flut unterschiedlichster belastender Gefühle (z. B. Schuld, Unzulänglichkeit, Angst, Niedergeschlagenheit, Hilflosigkeit, Ohnmacht) konfrontiert sehen. Es wird dargelegt, welche Reaktionsformen und Störungsbilder aus dieser Situation auf Seiten der Eltern entstehen können.

Eine Reaktion auf die Frühgeburt eines Kindes – jedoch auch auf eine komplikationslose Geburt – kann die Entwicklung einer postpartalen Depression der Mutter sein. Diese psychische Störung hat nicht nur wesentlichen Einfluss auf die Mutter. Auch der Partner der Mutter, die Familie, die Mutter-Kind-Interaktion und längerfristig die emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes sind besonders dann betroffen, wenn die Depression der Mutter im ersten Lebensjahr des Kindes für mehrere Monate bestehen bleibt. Hans-Peter Hartmann stellt in seinem Beitrag aktuelle Ursachen- und Behandlungsansätze sowie den Verlauf postpartaler Depression vor.

Peter Rossmann zeigt auf, dass depressive Störungen nicht Erwachsenen vorbehalten sind, sondern bereits im Säuglings- und Kleinkindalter auftreten können. Aktuelle Untersuchungen an älteren Kindern und Jugendlichen belegen, dass sich depressive Störungen ausgesprochen ungünstig auf die weitere Entwicklung der Betroffenen auswirken und zu massiven Beeinträchtigungen in diversen Entwicklungsbereichen führen, wenn sie nicht rechtzeitig durch geeignete Interventionen oder Präventionsmaßnahmen abgefangen werden. Der Autor sichtet aktuelle Forschungsergebnisse und stellt Überlegungen zu früher Intervention und Prävention an.

Die Geburt eines behinderten Kindes stellt einen erheblichen Belastungsfaktor für die hiermit konfrontierte Familie dar. Darüber hinaus sind behinderte Kinder in einem hohen Ausmaß dem Risiko ausgesetzt, weitere Probleme im Sinne komorbider psychischer Störungen auszubilden. Klaus Sarimski stellt in seinem Beitrag den aktuellen Forschungsstand zur Prävalenz psychischer Störungen bei behinderten Kindern vor, skizziert die Einflussfaktoren auf die Ausbildung psychischer Störungen bei diesen Kindern und leitet Schlussfolgerungen für präventive Konzepte ab.
Um Früherkennung und Diagnostik geht es in Teil 2 des Buches. Karin Grossmann eröffnet das Kapitel mit einem Beitrag zu stummen Zeichen des Leids bei Kleinkindern in Familie und Tagesbetreuung. Je offensichtlicher, lauter, aggressiver oder auch destruktiver sich kindliche Verhaltensweisen darstellen, desto leichter ist es, diese wahrzunehmen. Die Wahrnehmung der kindlichen Signale ist erschwert, wenn diese subtil, wenig offensichtlich, leise oder auch versteckt gezeigt werden. Wenn ein Kind eher »stumme« Signale sendet, bedeutet dies nicht, dass es emotional weniger belastet ist als ein Kind, welches schreit oder laut weint. Umso mehr gilt es, die familiäre und außerfamiliäre Umwelt eines Kindes für die Wahrnehmung dieser subtilen Signale zu sensibilisieren, damit diese Kinder eine angemessene Reaktion auf ihre Signale erfahren und sich trotz ihrer emotionalen Belastung nicht weiter zurückziehen. Karin Grossmann stellt im vorliegenden Beitrag das Spektrum und die Ursachen dieser Verhaltensweisen zusammen.

Die Notwendigkeit der Früherfassung von Hörstörungen zeigt Frans Coninx auf. Für sämtliche neuronalen Reifungsprozesse, die mit dem Sprechenlernen einhergehen, gilt, dass frühes Hören eine Voraussetzung ist. Allgemein gilt: je größer der Hörverlust, desto größer der Sprachentwicklungsrückstand. Damit das Hören bei Kindern in den ersten Lebensjahren gesichert wird, muss es zu angemessenen Zeitpunkten mit altersspezifischen Inventaren überwacht werden. Nur dann können Beeinträchtigungen früh erfasst und entsprechende Maßnahmen in die Wege geleitet werden, wie Coninx betont.

Fütter- und Gedeihstörungen gehören zu den häufigsten Anlässen der Vorstellung bei Kinderärzten. Mit deren Diagnostik und deren Therapie aus der psychosomatischen Perspektive beschäftigt sich Carola Bindt. Seit den 1990er Jahren gilt es als gesichert, dass eine frühe Essproblematik häufig bis in das Schulalter persistiert und dass eine während der ersten 18 Monate auftretende Gedeihstörung einem Prädiktor für Gewichts- und Längenwachstumsdefizite in der mittleren Kindheit gleichkommt. Sollen diese problembelasteten Entwicklungswege erfolgreich unterbrochen werden, bedarf es einer sorgfältigen klinischen Diagnostik, die die Basis für eine erfolgreiche Behandlungsstrategie bildet.

Sven Bölte vom Stockholmer Karolinska Institut befasst sich in seinem Beitrag mit der Früherkennung von Autismus-Spektrum-Störungen. Das Durchschnittsalter von Kindern mit Verdacht auf Autismus, die in der Praxis vorgestellt werden, sinkt kontinuierlich. So besteht das Ziel der Früherkennung darin, die Identifikation und Stellung einer Verdachtsdiagnose zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat zu gewährleisten. Der Autor stellt die hierzu vorliegenden Inventare vor und erörtert abschließend die Notwendigkeit der Differentialdiagnostik zur frühen Identifikation komorbider Störungsbilder. Die Beiträge des dritten Teils beschäftigen sich mit dem Verlauf und der Begleitung familiärer Belastungen in der frühen Kindheit. Den Beginn bilden drei Beiträge, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit der außerfamiliären Betreuung in den ersten Lebensjahren beschäftigen. Zwei weitere Beiträge dieses Kapitels erörtern dann die besondere Situation des Verlaufs und der Begleitung von Familien mit frühgeborenen Kindern.

In der kindlichen Entwicklung stellt der Übergang in eine Institution der außerfamiliären Erziehung einen Belastungsfaktor für die Kinder und ihre Familien dar. In der Regel begegnen die Familien hier erstmals professionellen Erzieherinnen, die künftig einen erheblichen Zeitanteil mit ihren Kindern verbringen werden. Sowohl für die Kinder als auch für die Eltern ist diese neue Situation mit Unwägbarkeiten verbunden, die sich emotional belastend auswirken und die es zu bewältigen gilt. Hans-Günther Roßbach klärt daher anhand der aktuellen Forschungslage unter anderem in seinem Beitrag, welche längerfristigen Auswirkungen von Kindertageseinrichtungen auf die kindliche Entwicklung im sozial-emotionalen und im kognitiv-leistungsbezogenen Bereich bestehen und ob sich für Kinder aus benachteiligten Familien kompensatorische Effekte erschließen lassen.

Fabienne Becker-Stoll, die Leiterin des bayerischen Staatsinstituts für Frühpädagogik, übernimmt es, die Qualitätsstandards der Krippenbetreuung in Deutschland und Europa systematisch zu recherchieren und zu bewerten. Im ersten Teil dieses Beitrags findet sich eine bindungstheoretisch fundierte Erörterung jener Standards, die bei der außerfamiliären Betreuung in den ersten Lebensjahren berücksichtigt werden sollten. In den beiden anschließenden Teilen setzt sich die Autorin mit den aktuellen Qualitätsstandards der Krippenbetreuung in Deutschland und in Europa auseinander. Es wird deutlich, dass zur Qualitätsbeurteilung der Krippenbetreuung nicht nur die Gruppengröße, sondern auch beispielsweise der Personalschlüssel, die Ausstattung der Einrichtungen und das Ausbildungsniveau des Personals herangezogen werden müssen. Als Fazit lässt sich ableiten, dass Investitionen in die Qualität frühkindlicher Bildung Geld kosten, sich aber auszahlen. So zeigen verschiedene nationale und internationale Forschungsergebnisse eindrücklich, dass Investitionen in die Qualität der frühkindlichen Bildung unter anderem den nachhaltigsten volkswirtschaftlichen Nutzen bringen.

Die Autorengruppe um Wilfried Datler vom Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien konkretisiert am Beispiel zweier Kinder den Verlauf von Eingewöhnungsprozessen in eine Kinderkrippe. Im Kontext der Wiener Kinderkrippenstudie, die im Jahr 2007 begonnen wurde, untersucht man unter anderem, wie Kinder den Eintritt in die Kindertagesstätte erleben und wie sich die Eingewöhnungsverläufe über die Zeit hinweg gestalten. Von den 104 teilnehmenden Kindern wurden 11 gesondert in einem Zeitraum von etwa sechs Monaten einmal pro Woche eine Stunde lang in der Kindertagesstätte nach der Methode der Young Child Observation im Sinne des Tavistock-Konzepts beobachtet. Diese qualitativen Einzelfallstudien erlauben eine tief gehende Analyse der Beziehungsprozesse zwischen den Kindern und ihren Erzieherinnen. Da beide im Beitrag geschilderten Kinder eher subtile Zeichen zum Ausdruck ihrer Belastung wählen, stellt dieser Beitrag auch eine sinnvolle Ergänzung zum Beitrag von Karin Grossmann in Teil 2 des vorliegenden Buches dar.

In den letzten Jahrzehnten hat die Frühgeborenen-Medizin enorme Fortschritte gemacht. Auf neonatalen Intensivstationen konnten die Überlebenschancen von extremen Früh- und Risikogeborenen erheblich verbessert werden und viele Frühgeborene werden nach kurzer Zeit aus der Klinik entlassen. Somit hat die sozialmedizinische Nachsorge im häuslichen Umfeld und damit die Arbeit der Familienhebammen erheblich an Bedeutung gewonnen. Speziell die Eltern frühgeborener Kinder benötigen eine intensive und regelmäßige Unterstützung durch die Hebamme im familiären Kontext, damit sie dem Kind ein angemessenes Umfeld bieten können. Die Familienhebammenbeauftragte des Landesverbandes der Hebammen NRW Jennifer Jaque-Rodney stellt in ihrem Beitrag das Spektrum der Hebammentätigkeit bei der Begleitung frühgeborener Kinder und ihrer Familien dar.

In einem weiteren Beitrag zu den Besonderheiten des Verlaufs und der Begleitung von Familien mit Frühgeborenen stellen Corinna Offermann und Rüdiger Kißgen Teilergebnisse einer an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln durchgeführten Studie vor. Die im Jahr 2008 abgeschlossene repräsentative Studie hatte zum Ziel, die Betreuungsstandards und die Betreuungsqualität Frühgeborener und ihrer Eltern in den 286 deutschen Kinderkliniken mit einer Frühgeborenenstation zu erheben. Die Autoren erörtern in ihrem Beitrag zunächst die Ergebnisse zum Licht- und Lärmeinfluss als Umgebungsfaktoren der Frühgeborenen auf den Stationen. Im Anschluss daran erfolgt die Darstellung der Studienergebnisse zur Akzeptanz und konkreten Anwendung der Känguru-Methode auf den Frühgeborenenstationen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Situation von Frühgeborenen und ihren Eltern auf vielen Stationen bereits als kind- und familienorientiert anzusehen ist und dass die Mitarbeiter um die besondere Situation von Eltern und Kind und ihr Bedürfnis nach Unterstützung und Hilfe wissen.

Im abschließenden vierten Teil wird exemplarisch vorgestellt, welche Interventions- und Therapieoptionen bei familiären Belastungen in der frühen Kindheit bestehen.

Das im Jahr 2005 im Auftrag der Bundesregierung begründete Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) hatte den Auftrag, eine Initiative zur nachhaltigen Verbesserung des Kinderschutzes zu starten und das Wohl von Kindern stärker in den Fokus der gesellschaftlichen Verantwortung zu rücken. Wie dieser Auftrag in die Praxis umgesetzt wurde, stellt Mechthild Paul, die Leiterin des NZFH, in einer Rückschau über den Zeitraum von 2005 bis 2010 dar. In der vorliegenden Bilanz wird deutlich, dass es u. a. gelungen ist, Kinder durch eine möglichst wirksame Vernetzung von Hilfen des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe früher und besser vor Gefährdungen zu schützen. So geben inzwischen 96% der Jugendämter und fast 79% der Gesundheitsämter an, in ihren Kommunen diesbezüglich aktiv zu sein, und 73% der Jugendämter und fast 59% der Gesundheitsämter sagen, dass in ihren Kommunen ein Netzwerk Früher Hilfen existiert.

Die Komplexleistung Frühförderung besteht aus einem interdisziplinär abgestimmten System ärztlicher, medizinisch-therapeutischer, psychologischer, heilpädagogischer und sozialpädagogischer Leistungen und schließt ambulante und mobile Beratung ein. Der Aufgabenschwerpunkt in der interdisziplinären Frühförderung hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich auf Kindergruppen mit Entwicklungsstörungen gerichtet, bei denen nicht primär eine Behinderung im Vordergrund steht, sondern bei denen die psychischen Auffälligkeiten eine zusätzliche Belastung für die Entwicklung darstellen. Tordis Horstmann, die langjährige Leiterin des Kölner Zentrums für Frühbehandlung und Frühförderung, legt dar, dass die entscheidenden Merkmale für die langfristige Erfolgssicherung der stützenden Maßnahmen in der interdisziplinären Frühforderung die Elternarbeit und der Aufbau des Netzwerks für Kind und Familie sind.

Nach der Präsentation eines staatlichen und eines institutionellen Angebots zur Intervention bei familiären Belastungen in der frühen Kindheit bilden den Abschluss dieses Kapitels zwei Beiträge, in denen die frühe psychotherapeutische Begleitung von Familien veranschaulicht wird. Éva Hédervári-Heller, die an der Fachhochschule Potsdam lehrt und forscht, setzt sich mit frühen Verhaltensauffälligkeiten und deren Begleitung im Rahmen der Eltern-Säuglings- und -Kleinkind-Psychotherapie auseinander. Den Fokus legt die Autorin auf das Trotzverhalten von Kindern, welches sie auch aus der Perspektive der Eltern betrachtet. Wenn exzessives Trotzverhalten auftritt, ist eine professionelle psychotherapeutische Begleitung der Familie indiziert. Diese ist dann am erfolgreichsten, wenn es gelingt, beide Eltern zur Teilnahme an der Therapie zu motivieren.

Den Abschluss bildet der Beitrag von Karl-Heinz Brisch zur Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Therapie bei früher Traumatisierung. Ziel dieses Behandlungsansatzes ist die Verhinderung von langfristigen emotionalen Bewältigungsschwierigkeiten bei den jungen Eltern und die Vermeidung der entsprechenden Auswirkungen auf den Säugling. Hierbei wird insbesondere auf die Phänomene der postnatalen Bindung sowie die präventive Psychotherapie eingegangen. Der Autor zeigt Möglichkeiten auf, wie in den ersten Lebensjahren langfristig die sichere Bindung gefördert und negative Auswirkungen auf die Bindungsentwicklung des Säuglings zu seinen Eltern verhindert werden können.

Martin Dornes Erziehungsnotstand? Mythen und Fakten1

Einleitung
Die wichtigste Veränderung in der leitenden Erziehungsvorstellung und -praxis lässt sich in Kurzform als Verschiebung von der »Erziehung zur Beziehung« oder vom »Befehls- zum Verhandlungshaushalt« kennzeichnen (Büchner et al. 1996, 1997, Reuband 1997, du Bois-Reymond 2001, Schütze 2002, Alt et al. 2005, Fuhrer 2005, Ecarius 2002, Ecarius et al. 2011). Ich stimme mit Oelkers (2002, S. 554) darin überein, »dass wir nicht den Erziehungsnotstand ausrufen müssen, nur weil wir mehr mit Kindern verhandeln müssen als je zuvor in der Geschichte des Problems«. Ein wesentliches Merkmal des verhandlungsorientierten Erziehungsstils ist sein Fokus auf kommunikativen Austausch und Wertschätzung kindlicher Lebensäußerungen. Die zentralen Erziehungsvorstellungen sind nicht mehr Gehorsam und Unterordnung, sondern Selbständigkeit und freier Wille. In dieser selbstwertorientierten Form der Erziehung werden Kinder als Eigenpersönlichkeiten ernster genommen als früher. Die zu Grunde liegende Hoffnung ist, dadurch das psychosoziale Wohlbefinden und die Selbständigkeit der Kinder zu fördern.

Erziehungswandel
Dieser Wandel ist durch vielerlei demographische, ökonomische, soziokulturelle und juristische Wandlungen hervorgerufen worden: Rückgang der Kinderzahl, Einführung der Rentenversicherung, Wertewandel, Befreiung der Kinder vom Beitrag zur materiellen Reproduktion der Familie, Emanzipation der Frau. Gleichzeitig hat sich ein Sensorium innerhalb der Gesellschaft für die verbliebene Kernfunktion der Familie entwickelt: reine, zweckfreie emotionale Zuwendung und Förderung der Persönlichkeitsbildung (Giddens 1992). Die Ablösung traditioneller Erziehungsziele wie Gehorsam und Unterordnung durch das zentrale Ziel der Selbständigkeit reflektiert diesen Wandel der Gesellschaft, in der die genannten alten Tugenden dysfunktional geworden sind. Starre Persönlichkeiten sind dem rapiden Wandel nicht gewachsen. Eltern wollen deshalb nicht mehr so sehr, dass ihre Kinder sich unterordnen, sondern dass sie selbstständige, flexible Persönlichkeiten werden (Münchmeier 2001, Schneewind 2001, Hofer 2003), und sie versprechen sich von einer Respektierung kindlicher Anerkennungs- und Autonomiebedürfnisse ein Erreichen dieses Ziels (das sich in einer gewandelten Lebens- und Arbeitswelt bewähren muss oder auch scheitern kann).

Einschlägige Untersuchungen zeigen (z. B. Alt et al. 2005, Edlinger & Wahl 2007, Haunberger & Teubner 2007), dass zwei Drittel der Mütter und drei Viertel der Väter 9- bis 11-jähriger Kinder zu einem eher milden Erziehungsstil neigen und nur ein Drittel bzw. ein Viertel eine strenge Kontrolle der Kinder befürwortet, das heißt der Auffassung ist, dass sich Kinder den Wünschen Erwachsener nicht widersetzen sollten, und straft, wenn das Kind etwas gegen ihren Willen tut.2 Die Kindzentriertheit der elterlichen Kommunikation kam in diesen repräsentativen Untersuchungen darin zum Ausdruck, dass Eltern mit den Kindern über das, was sie erlebt haben, sprechen oder sie bei Angelegenheiten, die sie betreffen, nach ihrer Meinung fragen. Im Gegensatz zu einer oft geäußerten Behauptung, Eltern würden die Kinder heute überall mitbestimmen lassen, wird die Mitbeteiligung nicht undifferenziert gehandhabt. Eltern unterscheiden je nach Alter des Kindes und Handlungsfeld, ob und in welchem Umfang sie es fragen und mitentscheiden lassen. Häufig selbst entscheiden dürfen Kinder etwa darüber, wie sie ihr Taschengeld ausgeben, was sie mit dem Computer machen oder was sie anziehen; seltener darüber, wann sie abends zu Hause sein oder ob sie das Zimmer aufräumen müssen.

Umfragen zeigen, dass seit Mitte der 1990er Jahre zumindest auf der Meinungsebene eine gewisse Trendumkehr stattgefunden hat. Das Erziehungsziel der Selbständigkeit hat etwas an Boden verloren, während Gehorsam wieder häufiger genannt wird und auch bei den gewünschten Tugenden erfreuen sich die sogenannten Sekundärtugenden wie Gewissenhaftigkeit und Sparsamkeit einer etwas größeren Beliebtheit. Nach wie vor aber bleiben Selbständigkeit und freie Entfaltung der Fähigkeiten das zentrale Erziehungsziel (Göppel 2010, Kap. 1).

Insgesamt kann man den Wandel im Erziehungsverhalten seit 1968 so zusammenfassen. Er ist gekennzeichnet »a) durch ein geringeres Maß an Anpassungsforderungen hinsichtlich religiöser, leistungsbezogener und sozialer Verhaltensstandards, b) durch mehr Mitspracherecht, Nachgiebigkeit und offen zum Ausdruck gebrachte Zuneigung sowie schließlich c) durch eine stärkere Betonung positiver Emotionalität als Antwort auf erwünschtes Kindverhalten bei gleichzeitiger Zurücknahme aggressiv-körperlicher Disziplinierungsmaßnahmen sowie Formen einer nur bedingten Anerkennung kindlicher Bemühungen« (Schneewind & Ruppert 1995, S. 141).

Diese Veränderungen haben Hypothesen über die psychosozialen und psychostrukturellen Folgen einer solchen Erziehung inspiriert, die nun dargestellt werden sollen.

Geht es Kindern und Jugendlichen heute seelisch besser oder schlechter als früher?

Gesundheit
Meine diesbezügliche Antwort lautet wie folgt: Das Resultat vieler epidemiologischer Studien ist – bei Vorbehalten wegen mangelnder Vergleichbarkeit auf Grund unterschiedlicher Erhebungsmethoden, verschiedener Krankheitsdefinitionen, erhöhter Sensibilität für kindliche Probleme etc. –, dass sich die Erkrankungshäufigkeit von Kindern und Jugendlichen in den letzten 50 Jahren nicht nennenswert verändert hat. Sie liegt nahezu unverändert im Durchschnitt aller Studien bei etwa 17% eines Jahrgangs, in der Unterschicht höher, in der Mittelschicht niedriger (Barkmann & Schulte-Markwort 2004; Göppel 2007, Kap. 8; KiGGS 2007; Ravens-Sieberer et al. 2007; Kurth et al. 2008; Dornes, in Vorb., Kap. 8). Eine liberalisierte und demokratisierte Erziehung macht also Kinder und Jugendliche über Jahrzehnte betrachtet weder gesünder noch kränker. Einzelne Erkrankungstypen mögen zu- oder abnehmen, die Gesamtzahl bleibt gleich; ob modern (heute) oder weniger modern (früher) erzogen, 17% werden krank; gut die Hälfte davon, etwa 10%, ist es auch zu mehr als einem Untersuchungszeitpunkt, kann also als dauerhaft krank betrachtet werden (Ihle & Esser 2002); vielleicht beeinflusst der Erziehungsstil den Krankheitstyp, nicht aber die Gesamterkrankungsrate – unter anderem deshalb nicht, weil sie von anderen Faktoren abhängen könnte als von der Erziehung, etwa von aktuellen Belastungen oder von der genetischen Ausstattung oder von unveränderlichen seelischen Konflikten.

Zufriedenheit

Die Konstanz von Erkrankungen ist auf den ersten Blick ein recht desillusionierendes Resultat in Bezug auf die Frage, ob sich die Mühen einer verhandlungsorientierten Erziehung überhaupt gelohnt haben – anscheinend nicht. Es könnte aber immerhin sein, dass eine liberalisierte Erziehung zu einem erhöhten seelischen Wohlbefinden im subklinischen Bereich führt. Kinder und Jugendliche würden dann zwar nicht seltener krank, aber sie wären zufriedener – mit sich und mit ihren Eltern. In der Tat scheint dies der Fall zu sein. Alle diesbezüglich verfügbaren Daten weisen auf einen signifikanten Anstieg des Zufriedenheitsniveaus bei Jugendlichen ab 1985 hin, also genau bei denen, die um 1970 herum geboren wurden und deshalb als die ersten Adressaten einer liberalisierten Erziehung gelten können. Den meisten Untersuchungen zufolge sind heutzutage 85 – 90% der Kinder und Jugendlichen mit sich, ihren Eltern und ihren Lebensumständen zufrieden (Bucher 2001; Göppel 2007, Kap. 7; 2010, Kap. 1; Andresen & Hurrelmann 2010; Dornes, in Vorb., Kap. 1). Die Mühen einer verhandlungsorientierten Erziehung haben sich also zumindest für die Kinder gelohnt. Den Standardverdacht gegen Zufriedenheitsuntersuchungen, sie seien oberflächlich, teile ich nur bedingt. Er trifft für einige Einstellungsumfragen zu, nicht aber für ebenfalls vorhandene methodisch elaborierte Untersuchungen (ref. in Göppel 2007, Kap. 7), die zum selben Ergebnis gelangen.

Eine andere Frage ist, ob sich die Mühen einer verhandlungsorientierten Erziehung auch für die Eltern gelohnt haben. Diese Erziehungsform ist nämlich mit erhöhten elterlichen Anforderungen verbunden, weil die Pflichten der Kinder abgenommen, ihre Mitspracherechte aber zugenommen haben. Dies wird von Eltern gelegentlich als anstrengend empfunden. Insgesamt kann man aber sagen, dass moderne Eltern nicht unzufriedener mit ihren Kindern sind als frühere Elterngenerationen, sondern eher zufriedener, weil die Erziehungsliberalisierung zu einer nicht problembehafteten Entkonfliktualisierung der Eltern-Kind-Beziehungen geführt hat, die von beiden Seiten begrüßt und geschätzt wird.

Konfliktvermeidung oder sozial induzierter Autoritätsverlust?

Viele Autoren thematisieren in unterschiedlichen Theoriesprachen das, was sie für das zentrale Elend moderner Erziehung halten: Konfliktscheu, fehlende Grenzen, mangelnde Disziplin, partnerschaftliche, demokratisierte Erziehung, die zu aufsässigen, tyrannischen oder kranken Kindern führt.

Für diese Behauptung können – wie oben gezeigt – keine statistisch repräsentativen Daten beigebracht werden. Diese Debatte soll deshalb nicht noch einmal rekapituliert werden. Die beiden prominentesten Bücher (Bueb 2006; Winterhoff 2008) sind einschlägig und – wie ich meine – überzeugend kritisiert worden (Brumlik 2007; Göppel 2010, Kap. 5). Ich werde dieser Kritik keine weitere hinzufügen, sondern die Frage anders stellen, nämlich: Gibt es soziale oder objektive Gründe für einen Autoritätsabbau der älteren Generation und wenn ja, welche Folgen hat er, wenn die Standardkritik, er sei für die Zunahme tyrannisch-unzufriedener oder kranker Kinder verantwortlich, unrichtig ist.

Um eine lange Geschichte von Kritiken, welche die »Erziehungsvergessenheit« beklagen, kurz zu machen, fasse ich zusammen: Sicher gibt es individualpsychologische Gründe, die manche Eltern Konflikte als bedrohlich und deshalb als zu vermeiden erleben lassen, und sicher gibt es auch einen Wandel in den kollektiven Erziehungsvorstellungen und -praktiken in Richtung auf eine partnerschaftliche Erziehung, der gelegentlich zu einem Erziehungsverzicht führt, welcher der Verantwortung, die Erwachsene für ihre Kinder haben, nicht gerecht wird. Dennoch werden damit weder die gegenwärtige Erziehungsrealität noch die Gründe für deren Veränderung hinreichend erfasst.

Es gibt nämlich so etwas wie einen »objektiven« Autoritätsverlust moderner Eltern, der tiefer und anders begründet ist als in individueller oder zeitgeistgestützter Konfliktvermeidung, nämlich darin, dass die Zukunftsoffenheit und das Modernisierungstempo zeitgenössischer Gesellschaften den Wissensvorsprung der Erwachsenen relativieren und damit ihre Autorität tendenziell entwerten. Die Generationsvorstellung der Vertreter der Erziehungskritik – von Gaschke (2001) über Ahrbeck (2004) bis Bueb (2006), Thompson (2007) und Winterhoff (2008) – basiert auf der traditionellen Idee der nach wie vor ungebrochenen Geltung einer »überlegenen Autorität und Vorbildlichkeit Erwachsener, einem klaren Wissens- und Kompetenzgefälle zwischen den Generationen, einer Statusdifferenz, die Respekt und Achtung der Jüngeren vor den Älteren beinhaltet, einer Formalisierung und Ritualisierung der Umgangsformen zwischen Älteren und Jüngeren sowie der Hochschätzung des kulturellen Kanons, der durch die Ältern verkörpert wird« (Kramer et al. 2001, S. 131).

Genau diese Vorstellungen sind im Gefolge von soziokulturellen Modernisierungsprozessen unterschiedlich weit gehend in Frage gestellt worden. Hier ein Kurzpanorama: Winkler (1998, S. 132) spricht davon, dass die Welt in ihrer Veränderungsdynamik den Älteren heute immer schon so weit enteilt sei, dass sie zu vermittelnder Tätigkeit gar nicht mehr in der Lage seien und das kulturelle Erbe von den Jüngeren deshalb nur noch als Verfallsprodukt angetreten werden könne. Etwas zurückhaltender formuliert Grundmann (2000, S. 96): »Verlässliche Aussagen darüber, ob die vermittelten Handlungs- und Wertorientierungen, der einmal eingeschlagene Bildungsweg oder die Zukunftspläne der einzelnen Familienmitglieder überhaupt realisierbar sind, lassen sich nicht mehr machen.« Keupp (2003, S. 21) stellt fest: »Erwachsenwerden ist ein Projekt, das in eine Welt hineinführt, die zunehmend unlesbar geworden ist, für die unsere Erfahrungen und Begriffe nicht ausreichen, um eine stimmige Interpretation oder eine verlässliche Prognose zu erreichen. Für diese Welt existiert kein Atlas, auf den Erwachsene zurückgreifen könnten, um Heranwachsenden ihren möglichen Ort und den Weg dorthin erklären zu können. Insofern sind sie zunehmend auch selbst überfordert, Jugendlichen überzeugend zu vermitteln, worauf es bei einem gelingenden Leben ankommt.« Supp (2000) fragt: »Wie kann man ein Kind fit machen für die Welt, die da kommt? Und für welche Welt eigentlich? Früher war es normal, dass der Mensch eine Vorstellung hatte von der Wirklichkeit, die seine Nachkommen erleben würden – wie ihr Alltag aussehen würde, ihre Familie, ihr Beruf. Das ist vorbei. Niemand kann heute wissen, welche Art von Mensch morgen gefragt sein wird, für welche Art von Arbeit, für welche Art von Existenz.« Riesman et al. hatten schon 1950 vorhergesagt, dass Eltern sich in einer sich wandelnden Welt nicht mehr als Vorbilder hinstellen und eindeutige Ziele vorgeben könnten. Vielmehr seien sie nur noch in der Lage, ihre Kinder dazu anzuhalten, ihr Bestes zu geben, ohne aber sagen zu können, was das Beste eigentlich sei (ref. in Parsons 1964, S. 239, 241, der dieser Auffassung ausdrücklich nicht zustimmt; ebd., S. 250ff.; s. a. Schroer 2000, S. 211). Und Margaret Mead charakterisierte die gewandelte Beziehung der Generationen bereits vor geraumer Zeit mit der legendären und häufig zitierten Formulierung: »Noch bis vor kurzem konnten die Älteren sagen: Weißt Du, ich war auch einmal jung, aber Du warst niemals alt. Heute können die jungen Leute darauf antworten: Ihr wart nie jung in der Welt, in der wir jung sind, und Ihr werdet es auch nie sein!« (Mead 1970, S. 94).3

Insbesondere in Bezug auf die Berufswahl Jugendlicher haben sich in den letzten 30 Jahren gewisse Veränderungen ergeben. Zum einen hat die »Vererbungswahrscheinlichkeit« der väterlichen Berufsposition abgenommen, weil im Zuge der Bildungsexpansion immer mehr Jugendliche Zugang zu weiterführenden Schulen fanden, was die Streubreite ihrer möglichen Berufswünsche und -entscheidungen erhöht. Zum anderen sind Eltern auch subjektiv bereitwilliger als früher, die abweichenden (Berufs-)Wünsche ihrer Kinder zu respektieren. Diese Großzügigkeit ist ihrerseits sowohl subjektiv als auch objektiv verankert. Subjektiv im gewachsenen Respekt der Eltern für die Entscheidungen ihrer Kinder; objektiv, insofern sie wissen, dass auf Grund beschleunigter technologischer und ökonomischer Entwicklung ihre eigenen Berufswünsche in Bezug auf die Kinder schnell antiquiert sein können. Die legendäre Empfehlung, eine Banklehre zu absolvieren, um etwas »fürs Leben« zu haben, ist durch die Entwicklung im Bankensektor, die eine Auslagerung vieler vormals lokal gebundener Aufgaben ins Ausland ermöglichte, obsolet geworden. Anderseits haben Eltern von vielen neu entstandenen zukunftsträchtigen Berufen wie Web-Designer, Event-Manager oder Coaching kaum eine Vorstellung. Entsprechend sehen Jugendsoziologen eine der größten Schwierigkeiten familialer Sozialisation so:

»Elterliche Erziehung müsste eigentlich antizipatorische Sozialisation sein, d. h. eine an der Zukunft der Jugendlichen orientierte und keine, die auf das Hier und Jetzt der Familienmitglieder allzu eng bezogen ist. Da der Beruf und die Familientradition des Vaters bzw. der Mutter und bestimmte Berufsleitbilder aber immer weniger den Horizont abgeben für familiale Erziehungsprozesse, fehlen für die antizipatorische Sozialisation die notwendigen ›Vorgaben‹« (Schäfers & Scherr 2005, S. 104).4

Man muss die hier skizzierten Vorstellungen nicht (alle) teilen, und es gibt in der Tat verschiedene Auffassungen dazu (übersichtlich dargestellt bei Kramer et al. 2001, S. 130ff.), aber man sollte sich klarmachen, dass sich das Verhältnis der Generationen nicht deshalb gewandelt hat, weil die Älteren »einfach« zu nachgiebig geworden sind und dies nun wieder durch einen »Ruck« geändert werden könnte (obwohl auch das bis zu einem gewissen Grad möglich ist), sondern dass der Kern der gewandelten Generationenbeziehung ein Fundament in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen hat, insbesondere im beschleunigten Modernisierungstempo zeitgenössischer Gesellschaften. Dadurch wird nicht nur in Bezug auf Berufsempfehlungen die Autorität der Eltern abgeschwächt, sondern es vergrößert sich auch bei den Eltern die innere Diskrepanz zwischen der als Kind erlebten und der als Eltern zu praktizierenden Erziehung. Dies führt zu vermehrten »Suchbewegungen«, weil unklarer ist als früher, ob die verinnerlichten Erziehungsmodelle auch für die eigenen Kinder noch gültig sind oder sein sollten. Die Individuen sind zwar nicht bloße »Charaktermasken« des dadurch bedingten Autoritätsabbaus, sondern können ihn durchaus unterschiedlich gestalten. Aber die oben als »traditionell« apostrophierte Vorstellung von Generationenbeziehungen wird sich auf Dauer nicht mehr restaurieren lassen, weil das Tempo des sozialen und normativen Wandels zu schnell geworden ist. Dies impliziert eine neue Vorstellung von Autorität, die stärker personengebunden ist. Vorbilder, also Eltern und Lehrer, können ihre Vorbild- und Leitfunktion nicht mehr durch Berufung auf etwas jenseits ihrer selbst stützen, etwa allgemein verbindliche Werte, die sie repräsentieren, sondern »nur« noch oder zumindest überwiegend auf ihre Kompetenz in der Erfüllung einer Aufgabe und auf ihre konkrete Personalität und deren »Ausstrahlung«. Sach- und personale Autorität treten an die Stelle von Amts- und Rollenautorität. »Daher ist nicht mehr Autorität das kardinale Problem, sondern die Macht des jeweiligen Arguments und das Geschick der Kommunikation. [...] Das Gleichgewicht in der Beziehung muß ständig neu gefunden werden, ist also immer auch gefährdet. [...] Die heutige Kindheit ist nicht dämonisch, nur sehr viel anstrengender für die Erwachsenen« (Oelkers 2002, S. 559f.). Damit wächst die Sehnsucht nach einfachen Lösungen. Autorität aber muss man sich heute verdienen, man bekommt sie nicht mehr geschenkt; und man verdient sie sich, wie Göppel (2010, S. 40) zutreffend schreibt, indem man den Kindern gegenüber deutlich macht, dass man von der Welt und vom Leben etwas versteht, Sachkenntnisse vermittelt, Unkenntnisse eingesteht, Zusammenhänge erklärt, Abläufe organisiert, Konflikte schlichtet, sich um Gerechtigkeit und Fairness bemüht, je nach Situation Engagement und Geduld, Gelassenheit und Humor, Verständnis und Zorn, Anteilnahme und Empörung zeigt. Mit »weil darum«, »basta«, »das ist eben so« und »das haben wir schon immer so gemacht« kommt man nur noch begrenzt über die Runden; und Kinder verlieren auch nicht den Respekt vor Erwachsenen, wenn sie deren Grenzen erkennen oder die Erwachsenen sie freimütig eingestehen.

Ist demokratische Erziehung überhaupt möglich?

Man kann allerdings den oben skizzierten partiellen Autoritätsab- oder -umbau bzw. die Verschiebung von der Amts- und Rollen- zur Sach- und personalen Autorität nicht nur als unausweichlich, sondern auch als wünschenswert betrachten. Dann muss man sich allerdings fragen: Kann die Beziehung zwischen Eltern und (kleinen) Kindern überhaupt »demokratisch« sein?

»Sie kann es und sollte es in genau demselben Sinn sein, in dem dies für eine demokratische politische Ordnung gilt. Es ist, mit anderen Worten, ein Recht des Kindes, als mit dem Erwachsenen potentiell gleichberechtigt behandelt zu werden. Handlungen, die nicht direkt mit dem Kind ausgehandelt werden können, weil es zu klein ist, um zu begreifen, worum es geht, müssen gegenüber gegenteiligen Bewertungen verteidigt werden. Es wird dabei vorausgesetzt, dass eine Übereinkunft erreicht und das Vertrauen erhalten werden könnte, wenn das Kind ausreichend autonom wäre, um auf Grund gleicher Rechte mit dem Erwachsenen zu argumentieren« (Giddens 1992, S. 207).

Das bedeutet, dass der Erwachsene in einer Auseinandersetzung mit einem kleinen Kind advokatorisch die Position einnimmt, die das Kind vertreten könnte, wenn es ein Erwachsener wäre und Gegenargumente gegen die Position des Erwachsenen vorbringen könnte. Diese muss er abwägen und bewerten. Will das Kind zum Beispiel nackt auf die Straße laufen, so kann der Erwachsene dies verbieten, denn wenn das Kind erwachsen wäre, würde es die Gründe für das Verbot verstehen und selbst vertreten. In diesem imaginären Dialog wäre also eine Übereinkunft erreicht, auch wenn es faktisch einen Dissens gibt, der ein Verbot erfordert. Das Verbot ist gerechtfertigt durch die prüfende Zurückweisung der potentiellen Argumente, die das Kind für seine Position vorbringen könnte. Man sieht, dass die Forderung nach Demokratisierung weder Konflikte noch Verbote aus der Welt schafft, aber die Einstellung ändert, die wir in Bezug auf kindliche Bedürfnisse und Forderungen haben. Diese müssen grundsätzlich auf ihre Berechtigung hin geprüft und können nicht einfach zurückgewiesen werden. Damit ist nicht die Autorität verschwunden, sondern ihre Struktur hat sich verändert. Sie ist von einer auf Zwangsmaßregeln gegründeten Macht zu einem auf das Prinzip der Begründung gestützten Anspruch geworden (ebd., S. 123).5

In concreto ergeben sich – je älter die Kinder werden – die üblichen alltäglichen Schwierigkeiten diskursiver Erziehung, die unter anderem darin bestehen, dass der Diskussionsbedarf wächst, der Alltag mit Kindern deshalb für die Erwachsenen gelegentlich anstrengender wird, für die Kinder dafür aber auch angstfreier und für beide auf- und anregender; und es ergibt sich das weitere grundsätzliche Problem, ob Erwachsene wirklich unparteiisch prüfen können, ob die mögliche Gegenposition des Kindes nicht doch zu rechtfertigen ist. Wenn das Kind keine Hausaufgaben machen will, so kann der Erwachsene darauf bestehen, denn auch dies würde das Kind vermutlich billigen, wenn es erwachsen wäre. Wie aber sieht es mit dem Fernsehkonsum aus, oder mit dem Konsum von Süßigkeiten, oder mit dem Fall, dass der Jugendliche die Schule verlassen will? Und wie verhält es sich mit dem stellvertretenden Wahlrecht, das Eltern manchen neueren Diskussionen zufolge für ihre Kinder ausüben können sollen? Würden sie wirklich die Entscheidung treffen (Partei wählen), die Kinder treffen würden, wenn sie erwachsene Personen wären? Im Grundsatz sind all dies Fragen, die auch der Vormund einer (teil)entmündigten erwachsenen Personen zu prüfen hat oder die Betreuerin eines Schwerbehinderten. Kaum jemand würde bezweifeln, dass die Belange solcher Personen einen besonders sensiblen Umgang erfordern. Deshalb kann gelten, dass jede Kommunikation mit einem Säugling ebenso wie mit einem Behinderten oder Dementen kontrafaktisch dessen Gleichberechtigung, Autonomie und Intentionalität unterstellen sollte – nicht die Gleichheit der Fähigkeiten, das wäre offenkundig absurd, wohl aber die Gleichheit der Ansprüche (Benhabib 1992, S. 283f.).

Man sieht, die Frage, ob die Eltern-Kind-Beziehung demokratisch sein kann, wirft eine Reihe von Problemen auf, die hier nicht weiter diskutiert werden können (Überblick bei Göppel 2010, Kap. 14). Versteht man die advokatorische Position jedoch nicht als regulative Idee, sondern als konkrete Anweisung für den Erziehungsalltag, so wirkt sie überspannt und birgt die Gefahr, Betreuung und Fürsorge mit Reflexionsanstrengungen zu überlasten. Insgesamt neige ich zu der Auffassung, dass diese Position im Prinzip berechtigt ist, heute weitgehend akzeptiert und praktiziert wird, aber pragmatisch gehandhabt werden sollte. Auf mögliche Folgeprobleme komme ich andernorts zu sprechen, insbesondere auf das nicht zu unterschätzende Risiko, die eigenen Interessen und Bedürfnisse in die Person, deren Advokat man ist, hineinzuprojizieren (s. Dornes, in Vorb., Kap. 5, 8). Allgemein kann auf Grund einer Vielzahl von empirischen Studien gezeigt werden, dass sich heutige Eltern in ihrer überwiegenden Mehrheit mit großem zeitlichen Einsatz und eher wachsender als abnehmender Kompetenz um die Erziehung ihrer Kinder kümmern (ebd., Kap. 1, 3). Die verbreitete Rede von der »Erziehungsvergessenheit« (Ahrbeck 2004), dem »Erziehungsnotstand« (Bueb 2006) oder gar der »Erziehungskatastrophe« (Gaschke 2001) kann somit allenfalls auf bestimmte Subgruppen zutreffen.

Erziehungsschwierigkeiten: Eine Bilanz

Dennoch verstummt die Rede darüber nicht. In einem Lehrbuch der Erziehungspsychologie (Fuhrer 2005) wird das Thema »Erziehungsschwierigkeiten« um eine weitere Variante bereichert. Der Autor ist der Auffassung, dass moderne Eltern weder a) erziehungsmüde sind (wegen Zeitmangel), noch b) erziehungsverweigernd (wegen Konfliktscheu oder antiautoritärer Erblasten), noch c) erziehungsüberengagiert (wegen Ehrgeiz), aber sie sind d) erziehungsdesorientiert. Bueb (2006) führt die Desorientierung auf einen Mangel an allgemeinverbindlichen Erziehungsvorstellungen zurück, die er mit einer Rückbesinnung auf traditionelle Werte kurieren möchte. Fuhrer (2005) gibt dem Topos der Erziehungsdesorientierung dadurch eine spezifische Note, dass er sie als Orientierungsdefizit in Bezug auf kindliche Entwicklungsbedürfnisse betrachtet. Die Desorientierung führt er auf die Orientierungsschwierigkeiten in individualistischen Gesellschaften zurück. »Das Elend der Kinder liegt [...] nicht darin, dass die Gesellschaft familienmüde geworden ist, oder Eltern sich nicht unter großen Entbehrungen für ihre Kinder einsetzen würden, sondern vielmehr darin, dass es ihnen angesichts der Freiheiten, die sie sich unter den Bedingungen einer individualisierten Gesellschaft in ihren Paarbeziehungen nehmen, an der notwendigen Orientierung im Umgang mit den Entwicklungsbedürfnissen ihrer Kinder fehlt« (ebd., S. 141). Das Elend der Kinder gibt es jedoch sowenig wie die Freiheiten in Paarbeziehungen, und auch für die mangelnde Orientierung im Umgang mit kindlichen Entwicklungsbedürfnissen fehlen überzeugende Belege. Der Hinweis darauf, dass die Beziehungsgestaltung in der Familie »prekärer« oder »instabiler« (ebd., S. 109) geworden ist, genügt als Beleg jedenfalls nicht, ebensowenig wie die häufig angeführte expandierende Ratgeberliteratur oder Expertisierung der Erziehung. Deren Zunahme ist a) sicher Ausdruck eines Verlustes von selbstverständlichem (Alltags-)Orientierungswissen, b) aber ebenso eine (partielle) Kompensation desselben, die c) auch positiv konnotiert und als Ausdruck von Neugier verstanden werden kann, wie man »heute« etwas tut.

Vor allem aber sollte das Orientierungswissen vergangener Zeiten nicht idealisiert werden. Wenn Vorstellungen wie »Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will« oder »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr«, welche die Disziplinierung von Kindern legitimationsideologisch begleiteten, verloren gehen, so ist das kein Verlust, sondern ein Gewinn – auch dann, wenn das »verwissenschaftlichte« Erziehungswissen über die Entwicklungsbedürfnisse von Kindern, das an die Stelle des alten Alltagswissen getreten ist, weniger eindeutig ist. Ein solcher Verlust an Eindeutigkeit und Selbstverständlichkeit bedeutet aber noch lange nicht, dass moderne Eltern nicht mehr wüssten, was sie für ihre Kinder wollen oder was für diese gut ist. Leider übernehmen zu viele Autoren ungeprüft die Auffassung von der wachsenden Erziehungsinkompetenz oder -unsicherheit moderner Eltern (z. B. Ferchhoff 1997, S. 75, oder Bohrhardt 2006, S. 183), von deren Dramatisierung die Ratgeberliteratur lebt.

Tatsächlich ist eher das Gegenteil der Fall. Was die Erziehungsziele angeht, so wollen die meisten Eltern heute, dass ihre Kinder selbständige, glückliche und sozial verantwortlich handelnde Menschen werden (du Bois-Reymond 2001, S. 81). »Nicht der egoistische Individualist, der sich in der Ellenbogengesellschaft durchzusetzen versteht, schwebt Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder vor, sondern ein selbstbewußter, persönlichkeitsstarker, aber gleichzeitig kooperativer Mensch, der verantwortungsbewußt von seinen Rechten Gebrauch macht und seine Pflichten erfüllt sowie Verständnis für den Mitmenschen aufzubringen vermag« (Dannenbeck, zit. bei Münchmeier 1998, S. 11); und auch über den Weg dorthin bestehen recht einheitliche Vorstellungen, dass nämlich eine kommunikations- und verhandlungsorientierte Erziehung die Erreichung dieses Ziels fördert und den kindlichen Entwicklungsbedürfnissen am besten entspricht. Sicher gibt es in der alltäglichen Erziehungspraxis moderner Eltern Verunsicherungen, aber die vormaligen Sicherheiten waren oft Ausdruck eines Unwissens oder Unwillens, sich mit der Frage kindlicher Entwicklungsbedürfnisse überhaupt auseinander zu setzen. Gewiss steigen die kommunikativen Anforderungen an Eltern und Kinder, wenn Erziehung – und Beziehung überhaupt, z. B. die Paarbeziehung – keine selbstverständliche Ausführung kollektiv geteilter, verbindlicher Vorstellungen mehr ist, sondern in gewissem Umfang eine Verhandlungsangelegenheit geworden ist. Aber das Risiko des Scheiterns war auch der traditionellen Eltern-Kind- oder Paarbeziehung immanent, nur nahm es dort andere Ausdrucksformen an, etwa die des stillen Erduldens, der chronischen Verbitterung, der explosiven Revolte oder des irreparablen Bruchs.

Insgesamt jedenfalls gibt es nur impressionistische Belege für die Aussage, die Verunsicherung von Eltern oder ihre kommunikative Überforderung sei ein Hauptproblem moderner Erziehung und führe zu Schäden bei den Kindern. Hingegen gibt es systematische Belege für die entwicklungs- und leistungsfördernde Wirkung einer kommunikativ-partnerschaftlich orientierten Erziehung und für die entwicklungs- und leistungshemmenden Effekte einer disziplin- und kontrollorientierten Erziehung (s. z. B. Ullrich & Kreppner 1997; Zinnecker 1997; weitere Studien bei Ecarius et al. 2011, S. 112). Um nur Zinneckers Befunde kurz zusammenzufassen: Der Autor hat mittels einer Clusteranalyse aus den Befragungen von Kindern über deren subjektive Wahrnehmung des elterlichen Erziehungsverhaltens vier Gruppen von Eltern bzw. Familienmilieus gebildet: Konflikteltern (28%), Kontrolleltern (31%), Partnereltern (18%) und lockere Eltern (23%). Die Cluster 1 und 3 bilden entgegengesetzte Elternprofile ab: Rigidität, wenig Vertrauen, viele Konflikte im Cluster 1 versus Empathie, viel Unterstützung und viel Vertrauen im Cluster 3. Die beiden Cluster können deshalb für einen Extremgruppenvergleich verwendet werden. Die Daten über die Kinder verdeutlichen, dass sich die der Partnereltern im Vergleich mit denen der Konflikteltern nicht nur signifikant wohler fühlten, sondern auch weniger depressiv waren, weniger rauchten, ihre Mitschüler seltener hänselten, in ihren Bildungsambitionen anspruchsvoller und in ihren Schulleistungen besser waren. Insgesamt entwickelten sich die Kinder der Partnereltern von allen vier Gruppen am besten. Dies lässt die zeitgenössische Rede vom »Lob der Disziplin« (Bueb 2006) oder den kindlichen »Tyrannen« als Ergebnis partnerschaftlicher Erziehung (Thompson 2007, Winterhoff 2008) als insgesamt wenig plausibel erscheinen, auch wenn sie für Einzelfälle oder eine häufig leider nicht näher benannte Prozentzahl zutreffen mag.

Eine angemessene Gesamteinschätzung der Erziehungssituation in deutschen Familien müsste aus meiner Sicht so lauten: Wohl gibt es Eltern, die zu wenig Zeit haben, beruflich überfordert, charakterlich nicht geeignet oder psychisch gestört sind, kein Interesse an ihren Kindern haben, keine klaren Vorstellungen von deren Entwicklungsbedürfnissen, konfliktscheu oder übermäßig ehrgeizig sind und vieles andere mehr. Für manche dieser Subgruppen gibt es Daten über ihren Umfang, für andere ist man auf Vermutungen angewiesen. Die vorliegenden Studien (ausgewählte Literatur in Abschnitt II; umfassend Dornes, in Vorb., Kap. 1) lassen folgende verlässliche Aussagen zu: 80 – 90% der Kinder und Jugendlichen fühlen sich in ihren Familien wohl; 80 – 90% finden, ihre Eltern hätten genügend Zeit für sie; 10% leben in als zu konflikthaft empfundenen Familien; 10% spielen zu viel Computer; 10 – 15% klagen über elterlichen Schuldruck und/oder Schulstress, etwa die gleiche Zahl über ehrgeizige Freizeiteltern oder zu wenig Freizeit; und 15 – 20% sind psychisch erkrankt. All dies lässt sich zu der Aussage verdichten, dass etwa 80 – 85% der Eltern ihrer Erziehungsaufgabe insgesamt gewachsen sind und 15 – 20% damit Schwierigkeiten haben.

Auch auf anderen Wegen gelangt man zu ähnlichen Zahlen. Schätzungen zufolge leiden etwa 20% der Mütter und 11% der Väter kleiner Kinder gelegentlich oder häufiger an »nervösen Erschöpfungszuständen«, fühlen sich also subjektiv be- oder überlastet. Besonders oft findet sich dieses Syndrom bei Alleinerziehenden und Ehepartnerinnen von Arbeitslosen (Küppers 2008, S. 3). Direktbefragungen der Eltern zum Thema Erziehungsschwierigkeiten lassen ebenfalls auf einen Wert von 15 – 20% erziehungsstrapazierter Eltern schließen. Die drei jüngsten befassen sich mit dem viel diskutierten Thema Verunsicherung und der damit verbundenen mangelhaften Grenzsetzung, Autorität und Disziplin. Sie zeigen, dass im Schnitt knapp 15% der Eltern damit Probleme haben.6 Alle drei Untersuchungen stimmen darin überein, dass die Probleme bevorzugt bei Eltern mit geringem Einkommen und Bildungsniveau auftreten. Über das Ausmaß der Verunsicherung kann man nur Vermutungen anstellen. Nimmt man als Anhaltspunkt für starke Verunsicherung die beiden Gruppen derer, die professionelle Hilfe in Anspruch nehmen (5%) oder dies zu tun beabsichtigen (3%), so lässt sich näherungsweise schließen, dass etwa 8% der Eltern stark verunsichert sind und deshalb erhebliche Probleme mit der Erziehung haben. Das andere Extrem bildet die Gruppe der Eltern, die nach wie vor ihre Kinder misshandeln oder schwer körperlich züchtigen. Hier schwanken die Zahlen zwischen 5% (Bussmann 2007; Baier et al. 2009) und 10% (Engfer 2008). Nimmt man den »pragmatischen« Mittelwert von 8% und addiert ihn zu den 8% der stark Verunsicherten hinzu, so kommt man erneut auf den schon oben aus anderen Untersuchungen herausdestillierten Schätzwert von insgesamt 15 – 20% der Eltern, die die Erziehung ihrer Kinder schwierig finden und/oder Kinder mit erheblichen Schwierigkeiten haben.7

Zur Gruppe der »schlagkräftigen« und gravierend vernachlässigenden Problemfälle noch eine Anmerkung. Expertenschätzungen zufolge sind 1 – 2% der Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder so stark überfordert, dass ein Sorgerechtsentzug erwogen werden sollte (Hurrelmann & Andresen 2007, S. 378). Die Fälle von Kindesvernachlässigung und schwerer körperlicher Misshandlung sollen in den letzten 30 Jahren nicht abgenommen haben, wohl aber mittelschwere und leichtere Formen körperlicher Züchtigung wie »Tracht Prügel« und »Klaps auf den Po« (Dornes 2006, Kap. 9; Bussmann 2007; Engfer 2008; Baier et al. 2009). Deutsche Kinder und Jugendliche werden somit heute insgesamt seltener körperlich bestraft als ihre Eltern es wurden, und sie beobachten auch weniger Gewalt zwischen ihren Eltern, als ihre Eltern dies noch (bei ihren Eltern) taten (Mayer et al. 2005, S. 249f.).

Insgesamt kann man also eine Zivilisierung im Umgang mit Kindern feststellen, die von diesen durchaus bemerkt und wertgeschätzt wird. Sie hat auch nicht zu einer Zunahme krankheitswertigen kindlichen Problemverhaltens geführt – allenfalls dazu, dass wir heute mehr Probleme sehen (s. dazu den nächsten Abschnitt). Kinder sind heute glücklicher, zufriedener und auf keinen Fall psychisch kränker als vor 50 Jahren, Eltern sind etwas gestresster, aber insgesamt mit ihren Kindern genauso zufrieden wie diese mit ihnen. Grundsätzlich ist zum Thema Ratlosigkeit, Erziehungsinkompetenz oder Verunsicherung der Eltern noch anzumerken, dass diese Phänomene, sofern vorhanden, auch eine veränderte soziale und kulturelle Realität widerspiegeln. Um nur ein Beispiel aus dem Bildungsbereich zu nennen: Wo ständig neue Vergleichsarbeiten, Schul- oder Kindergartenstandards, modularisierte Studiengänge, veränderte Lern- und Unterrichtsformen, Assessmentverfahren und Potentialanalysen diskutiert werden, ist es kein Ausdruck von elterlicher Inkompetenz, wenn der Beratungsbedarf wächst, sondern eine realistische Wahrnehmung komplizierter gewordener Verhältnisse, auf welche die Eltern reagieren, wenn sie sich beraten lassen (Andresen 2007, S. 91f.).

In toto kann man festhalten, dass es zu keiner Zeit der Mehrzahl der Kinder in Deutschland so gut ging wie heute, und zwar in jeder nur denkbaren Hinsicht: in materieller, psychischer, körperlicher, kognitiver und bildungsmäßiger.8 Was die materielle Seite angeht, so hatten Kinder und Jugendliche noch nie so viel Geld zur Verfügung wie heute, auch wenn sich die relative Armutsquote zwischen 1993 und 2009 von 12 auf 14% erhöht hat. Was die psychologische Seite angeht, so ist das hohe Wohlbefinden unstrittig (Göppel 2007, Kap. 7; 2010, Kap. 1; Dornes, in Vorb., Kap. 1). Was die körperliche Gesundheit angeht, so gibt die Studie des Robert-Koch-Instituts (KiGGS 2007; Kurth et al. 2008) einen umfassenden, antiapokalyptischen Überblick und attestiert Kindern und Jugendlichen in Deutschland eine überwiegend gute bis sehr gute Gesundheit. Was die kognitive Seite betrifft, so hat der Intelligenzquotient seit den 1960er Jahren bis in die 1990er pro Dekade um drei Punkte zugenommen und liegt heute in Deutschland und den anderen Industrieländern auf einem historisch einmaligen Niveau. Die Steigerung scheint sich in den Industrieländern allerdings abzuschwächen oder sogar zum Stillstand zu kommen, wohingegen sie in den Entwicklungsländern anhält (Rindermann 2009, S. 668, 676).

Was die Bildungsseite betrifft, so sind 15 – 20% funktionelle Analphabeten, also 15-Jährige, die nach neun Schuljahren nur über elementare Kenntnisse in Rechnen und Schreiben verfügen, für eine Wissensgesellschaft sicher zu viel, und deren Qualifizierung ist für die Zukunft der Sozialintegration und die Sicherung des wirtschaftlichen Wohlstands von erheblicher Bedeutung. Dabei dürfen allerdings auch die Eliten nicht zu kurz kommen, denn das Fähigkeitsniveau der etwa fünf Prozent kognitiv Leistungsfähigsten einer Gesellschaft ist für das wirtschaftliche Wohlergehen eines Landes besonders relevant, »weil diese Personen für technische Innovationen und deren Adaption, für die Steuerung in Betrieben und Verwaltungen und für die Funktionalität komplexer Systeme die größte Verantwortung tragen« (Rindermann & Rost 2010, S. 29). Die Bildungsabschlüsse mögen derzeit insgesamt noch nicht so hoch sein wie gewünscht. Aber im historischen Rückblick gilt, dass noch nie so viele Jugendliche so hochqualifizierte Bildungsabschlüsse hatten wie heute. Knapp 40% eines Jahrgangs haben Abitur oder Fachabitur, gut 30% Realschulabschluss, gut 20% Hauptschulabschluss und etwa 8% keinen Schulabschluss (die Hälfte davon holt ihn allerdings zu einem späteren Zeitpunkt nach). Vor 40 Jahren machten gerade einmal knapp 10% das Abitur, die meisten davon waren männlichen Geschlechts. Ähnliches gilt für die Abhängigkeit des Schulabschlusses vom sozialen Hintergrund. Sie mag nach wie vor in einem unerwünschten Ausmaß vorhanden sein, aber sie hat sich innerhalb eines knappen Jahrhunderts erheblich verringert. Hatte ein Arbeiterkind um 1920 eine Chance von 1:100, das Abitur zu machen, so liegt diese Chance heute bei 1:5 (Tenorth 2008 a, S. 382), anderen Angaben zufolge bei 1:8 (Tenorth 2008 b), hat sich also verzwanzig- bzw. verzwölfeinhalbfacht. Ganz zum Verschwinden bringen wird man die Unterschiede nie. Der Einfluss elterlicher Faktoren, seien es genetische oder sozialisatorische, ist so stark, dass er durch keine Krippe, keinen Kindergarten und keine Schule vollständig ausgeglichen werden kann. Zwar ist eindeutig, dass Bildung in Kinderkrippen, Schulen und Hochschulen äußerst förderlich für die Intelligenzentwicklung ist und für etwa 80% des gesamten Intelligenzwachstums verantwortlich gemacht werden kann. »Aber es gelingt diesen Institutionen nicht, familiäre Unterschiede unkenntlich zu machen« (Rindermann 2009, S. 667).

Darüber hinaus ist noch dreierlei festzuhalten: Zum ersten hat sich noch in keiner Generation zuvor die Mehrzahl der Eltern so hingebungsvoll und zeitintensiv um ihre Kinder gekümmert wie heute; zum zweiten war dementsprechend in keiner anderen Generation das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern so entspannt und solidarisch wie heute; zum dritten ist die diesbezüglich gelegentlich geäußerte Befürchtung, das Abflachen des Generationenkonflikts habe nachteilige Folgen für die kindliche Entwicklung, unzutreffend. Wieso in Anbetracht all dieser Tatsachen »das Katastrophenszenario die beliebteste Stilform [ist], wenn hierzulande über Familien berichtet wird« (Spiewak 2008, S. 37), bleibt ein aufklärungsbedürftiger Sachverhalt, dem ich mich nun zuwende (s. a. Bucher 2001, S. 130ff., 218ff., 248f. und Göppel 2007, S. 188ff.).

Warum Katastrophenszenarien so verbreitet sind

Erstens: Nicht die Probleme sind gewachsen, sondern die Problemsensibilität. Dafür zwei Beispiele. Früher konnte ein Kind nicht schreiben und wurde »aussortiert«. Heute hat es Legasthenie und wird zum Objekt vielfältiger Förderungsbemühungen. Dies ist ein Gewinn an Humanität im Umgang mit Kindern, erhöht aber zugleich die Wahrscheinlichkeit, sie als Problem- oder Symptomträger in den Blick zu nehmen. Ähnliches gilt für den Sachverhalt des sexuellen Kindesmissbrauchs und der körperlichen Bestrafung. Allen verfügbaren Daten zufolge hat beides in den letzten 50 Jahren abgenommen. Dennoch wurde noch nie so viel über dieses Thema gesprochen wie heute – auch dies ein Zeichen für zunehmendes Problembewusstsein, nicht für zunehmende Probleme.

Zweitens: Mit der gewachsenen Problemsensibilität geht eine Perfektionierungsvorstellung hinsichtlich der Erziehung einher, die Probleme als vermeidbar betrachtet und dazu neigt, Brüche und Friktionen in der Entwicklung als Störungen zu betrachten. Die Toleranz für Abweichungen sinkt (Oelkers 2002, S. 564ff.), die Beunruhigungs- und Interventionsneigung steigt. Das ist nicht immer – wahrscheinlich nicht einmal in den meisten Fällen – eine Folge der Konkurrenzgesellschaft, in der Eltern ihre Kinder fit für den Weltmarkt machen wollen, sondern häufig die Folge eines aus der gewachsenen Sensibilität resultierenden Leidminderungsbedürfnisses. Eine Rückbesinnung auf Winnicott (1960), der gerade nicht von einer optimalen, sondern von einer genügend guten Mutter (good enough mother) gesprochen hat (Überblick bei Abram 1996, S. 193ff.), wäre hier hilfreich sowie generell eine Skepsis hinsichtlich übertriebener Machbarkeits- und Optimierungsvorstellungen, auch deshalb, weil die Besorgnisanfälligkeit, die ein Resultat gestiegener Sensibilität ist, sich spiralförmig steigern lässt, indem man sie ihrerseits zum Anlass von Besorgnis macht. Man ist dann besorgt über die Besorgnis. Exemplarisch kann dies anhand einer Titelgeschichte des SPIEGEL »Die große Sorge um die lieben Kleinen« verdeutlicht werden (Kullmann 2009). Im Innenteil trägt die Geschichte den Titel »Kinder der Angst« und zeigt sich besorgt darüber, dass moderne Eltern überbesorgt, verunsichert, frühförderungswütig sowie zukunftsängstlich in Bezug auf ihre Kinder sind und sie deshalb mit ihren eigenen Ängsten vollpumpen. Würde diese Beschreibung stimmen, so müsste man eine Generation gestörter und bindungsunsicherer Kinder erwarten. Die von der Autorin befragten Experten teilen zwar zum Teil die Diagnose elterlicher Überbesorgnis, treffen aber dennoch die Feststellung, dass die Zahl der gestörten Kinder nicht zugenommen hat. Daraus kann man schließen, dass, selbst wenn die Eltern so überbesorgt wären, wie der Artikel glauben machen will, dies bei den Kindern offenbar keine nennenswerten Schäden anrichtet und viele der geschilderten elterlichen Marotten zwar nicht in den Medien, wohl aber bei den Kindern recht wirkungslos verpuffen. Dies sollte Anlass zur Beruhigung, nicht zur Besorgnis sein. Anscheinend handelt es sich bei der Überforderung, Überbesorgnis und Ängstlichkeit heutiger Eltern nicht um ein Massenphänomen, sondern um die massenmediale Kolportage eines Gerüchts, oder aber die Eigenarten der Eltern haben (auf Grund geringer Ausprägungsstärke bzw. relativer Unempfindlichkeit der Kinder) nicht die Auswirkungen, die ihnen häufig ebenso großzügig wie unüberprüft attestiert werden. Das dritte Element, das den Krisendiskurs um Kindheit und Jugend befeuert, ist die mediale Dauerberichterstattung über spektakuläre Einzelfälle von Jugendgewalt, Kindesmisshandlung und schwer erziehbaren Kindern (Stichwort: »Super-Nanny«). Sie führt ebenfalls zu einer problemfokussierten Wahrnehmungsverzerrung. Aufschlussreich ist hier die Diskrepanz zwischen Nah- und Fernwahrnehmung. Fragt man beispielsweise Eltern, wie es ihren Kindern, deren Freunden oder Bekannten geht, so lautet die Antwort in der Regel »gut«. Fragt man hingegen nach der Lage »der« Jugend, so hört man wesentlich pessimistischere Antworten (Göppel 2007, S. 165). Fragt man, ob der Zusammenhalt in der eigenen Familie gut sei, so bejahen dies 82%, fragt man indes nach allgemeinen diesbezüglichen Einschätzungen, so finden nur 20°% den familiären Zusammenhalt ausreichend. Ebenso halten 80% der Eltern ihren Einfluss auf die Kinder für groß genug, aber nur 35% finden dies generell zutreffend. Das Urteil aus dem Nahbereich ist nun nicht etwa durch Wunschvorstellungen von einer eigenen heilen Familie verzerrt, denn Eltern sehen bei ihren eigenen Kindern durchaus auch Probleme (Hollstein 2009, S. 4). Es ist aber erfahrungsgesättigt, wohingegen das Urteil aus dem Fernbereich medial verzerrt und entsprechend einseitig ist, weil für mediale Berichterstattung das Prinzip gilt: »Good news are no news and bad news are good news.« Entsprechend sind, wie Klaus Farin, Leiter des Archivs der Jugendkulturen in Berlin, herausfand, 80% der Berichterstattung über Jugendliche negativ. Verstärkt wird dieser Trend dadurch, dass sich verschiedene Kinderkulturen zunehmend auseinander entwickeln, also etwa bestimmte Migranten- oder Armutskulturen verstärkt problematisch werden (Stichwort: Neukölln), andere hingegen eine gegenläufige, positive Entwicklung nehmen. Die Bedenken beziehen sich überproportional häufig auf die problematischen, aber medial präsenteren Teile der Kinder- und Jugendkultur.

Viertens: Man könnte meinen, dass Erzieherinnen und Lehrerinnen über bessere Informationen aus dem Nahbereich verfügen. Fragt man indes Lehrerinnen nach einer Einschätzung moderner Kinder, so erhält man überwiegend Negativurteile: sie seien »heute« (je nach Befragungszeitpunkt 1992, 1999, 2008) ichbezogener, weniger sozial, streitsüchtiger, ansprüchlicher, unruhiger, konzentrationsschwächer, weniger belastbar, weniger rücksichtsvoll. Bucher (2001, S. 218ff.) interpretiert diesen Befund so, dass sich nicht die Kinder, sondern unsere Bilder vom Kind verändert haben. So wird heute in der Mittelschicht insbesondere von Buben erwartet, dass sie nicht so expansiv sind, nicht mit Kriegsspielzeug spielen, keinen Baum mit dem Taschenmesser ritzen und schon gar keine Katze am Schwanz ziehen. Dadurch gerät Spiel- und Alltagsverhalten, das früher als normal gegolten hätte, leicht in den Geruch des Aggressiven oder Streitbaren. Auch die Beobachtung, dass die seriös diagnostizierten Fälle von ADHS zwischen 2 und 5% schwanken (Schlack et al. 2007; Lehmkuhl et al. 2008), Grundschullehrerinnen aber berichten, sie hätten bis zu acht Fälle pro Klasse, zeigt, dass sich vor allem die Beurteilung kindlichen Verhaltens verändert hat. Gegen eine tatsächliche Veränderung der Kinder in die besagte Richtung spricht, dass sich die erwähnten Klagen zu allen Zeiten finden lassen. Das schließt nicht aus, dass es solche Veränderungen gibt, etwa, dass Kinder heute impulsiver oder nervöser sind. Ob das wirklich der Fall ist, ist aber allein schon deshalb fraglich, weil sich diese Klage seit 1900 in nahezu jedem Kinder- und Jugendbericht findet (s. Dollase 1986, S. 133, und Göppel 2007, S. 188). Anscheinend gehört sie zum festen Inventar aller Kulturkritik, derzufolge die gegenwärtigen Probleme meistens größer sind als die früherer Zeiten (Bucher 2001, S. 220, 249).

Fünftens: Lehrer und Erzieher altern nicht mit ihren Kindern. Sie selbst werden älter und damit in ihrer Einschätzung konservativer, die Kinder bleiben immer gleich alt. Einen 60-jährigen Lehrer/Erzieher wird die Unruhe von 10-jährigen Kindern in der Regel stärker stören als einen 30-Jährigen. Befragt man ihn, ob sich die Kinder in den letzten 30 Jahren verändert haben, so wird er dies bejahen, obwohl es mindestens ebenso wahrscheinlich ist, dass er sich verändert hat.

Sechstens: Vermutlich ist es weniger die Erziehungsfähigkeit oder -bereitschaft, die verfällt, als vielmehr das Gedächtnis der jeweils älteren Generation von ihrer eigenen Kindheit. Kaum einer erinnert sich noch daran, wieviel Anlass zur Besorgnis er in seiner Jugend gab, weil er bettnässte, ungepflegt aussah, sich widersetzlich benahm, es in der Schule an Ehrgeiz, Leistung oder Benehmen fehlen ließ, die falschen Freunde hatte, unpassend gekleidet war, zu spät nach Hause kam, zu viel und zu früh rauchte oder trank, wilde Musik hörte, das verkehrte Studium ergriff. Außerdem neigen Erwachsene dazu, die in der Kindheit gemachten Erfahrungen auf die eigenen Kinder zu projizieren und zum Beurteilungsmaßstab zu machen. Wer beim Lesen glücklich war, kann schwer verstehen, wieso sein Kind kein Interesse an dieser Tätigkeit hat; wer sportlich war und sich viel bewegte, blickt mit Skepsis auf die Unsportlichkeit des eigenen Kindes oder die eingeschränkten freien Bewegungsmöglichkeiten in Großstädten; wem Computer fremd sind, der kann mit der diesbezüglichen spielerischen Begeisterung seines Kindes wenig anfangen. Hier besteht in der Tat ein Einfühlungsmangel, aber er scheint eher auf Seiten der Erwachsenen als auf Seiten der Kinder zu liegen. Wenn wir Kindheit heute durch die Brille von Kindheit gestern betrachten, dann wird die freie, aufregende, abwechslungsreiche Kindheit von heute schnell zu einer permissiven, übererregten, hektischen – aber dieselbe Einschätzung gab es auch schon in Bezug auf die Kindheit um 1900 oder 1950; und ebenso gab es damals die derzeit weit verbreiteten Klagen über Disziplinlosigkeit, Verfall der Sitten, Unruhe, mangelndes Konzentrationsvermögen, Flatterhaftigkeit, Überempfindlichkeit, Rücksichtslosigkeit, fehlende Höflichkeit, mangelnden Respekt, verschwindende Generationenunterschiede, Autoritätsabbau, ansprüchliche Verwöhnhaltungen. Sie lassen sich sogar bis in die Antike zurückverfolgen (s. dazu die eindrücklichen Beispiele bei Dollase 1986, S. 133; Bucher 2001, S. 220; Andresen 2007, S. 80f.; Göppel 2007, S. 187f.; Radtke 2007, S. 209).

Summa summarum spricht einiges dafür, dass die Probleme, die wir heute im Vergleich zu früher haben, nicht größer, sondern eher kleiner, vor allem aber andere geworden sind. Die Andersartigkeit kann man in Kurzform dahingehend zusammenfassen, dass heutige Kinder und Jugendliche nicht mehr an einem Übermaß an Unterdrückung leiden, sondern – im Großen und Ganzen erfolgreich – damit beschäftigt sind, von den Freiheiten, welche die modernisierte Erziehung und die pluralisierte Gesellschaft mit sich gebracht haben, verantwortungsvoll Gebrauch zu machen (s. dazu Dornes 2010 a).

Die postheroische Persönlichkeit

Ich sprach am Beginn des dritten Abschnitts über die möglichen Folgen einer demokratisierten Erziehung, die ich thematisiere, weil ich die Standardkritik der »Erziehungskatastrophe« und ihrer negativen Folgen für empirisch falsch halte. In Kurzform zusammengefasst, habe ich festgestellt, dass Kinder und Jugendliche heute nicht kränker sind als früher, dass sie sich in den Familien wohler fühlen und dass sie auch ökonomisch, kognitiv und vom Bildungsniveau her betrachtet besser dastehen, als die Generation(en) vor ihnen.

Zum Schluss möchte ich noch eine kurze persönlichkeitstheoretische Skizze versuchen, die nicht in Zahlen und Befunden zusammenfasst, worin sich heutige Kinder und Jugendliche von früheren unterscheiden, sondern in psychoanalytischen Begriffen. Ich bin der Auffassung, dass die veränderten Erziehungspraktiken zu einem Wandel in den seelischen Grundstrukturen geführt haben, der sowohl progressive wie regressive Elemente enthält. Er soll deshalb ambivalent genannt werden. Die Grundidee ist die einer kommunikativen Verflüssigung des »psychischen Apparats« (Freud 1933, Kap. 31), und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen verflüssigen sich die Substrukturen Es, Ich und Überich in sich selbst. Das Es wird als weniger triebhaft-überwältigend erlebt, das Überich als weniger triebfeindlich und rigide, das Ich wird flexibler und kreativer. Zum anderen aber – und das ist mit kommunikativer Verflüssigung gemeint – verändert sich auch das Verhältnis dieser Instanzen zueinander. Ihr vormals antagonistisches Verhältnis wird dialogischer. Ich und Überich sind nun geneigter, Es-Impulse anzuhören, sie zu prüfen und weniger schnell und rigide zurückzuweisen, als früher.

Dadurch wird der psychische Apparat insgesamt aufgelockert und entkrampft. Das Zwiespältige an dieser Entwicklung ist, dass die Entkrampfung mit einer Schwächung des psychischen Formierungspotentials einhergehen könnte. Störende Triebregungen werden jetzt nicht mehr, wie früher, einfach abgewiesen, sondern zunächst einmal angehört und auf ihre mögliche Berechtigung hin geprüft. Dieser Prozess impliziert eine gesteigerte Aufmerksamkeit für sie – ähnlich wie eine demokratisierte Erziehung eine ständige Anhörung und Prüfung kindlicher Ansprüche erfordert. Dies erhöht (möglicherweise) die Störanfälligkeit der Psyche und damit die Wahrscheinlichkeit, bei äußeren Belastungen zu dekompensieren. In anderen Worten: Mit der vormaligen Charakterstarre geht (vielleicht) auch ein Stück Charakterstärke verloren, wenn man unter Charakterstärke die Fähigkeit versteht, störende Triebregungen ungeprüft, aber erfolgreich abzuweisen. Dies ist »stark«, weil es die Konzentration auf eine Aufgabe erleichtert, aber »starr«, weil es auf Kosten von Impulsen geht, die das Seelenleben auch bereichern und die psychische Lebendigkeit erhöhen könnten, wenn sie zugelassen würden. Wir stehen dann vor dem Ergebnis, dass der durch eine liberalisierte Erziehung aufgelockerte psychische Apparat durch diese Auflockerung zugleich freier und verletzlicher geworden ist. Das Junktim von größerer intrapsychischer Freiheit und größerer Verletzlichkeit macht die Ambivalenz dieser Entwicklung aus. Vielleicht ist der nicht enden wollende Problemdiskurs über Kinder auch Ausdruck eines Ahnungsbewusstseins über den intrinsischen Zusammenhang von Freiheit und Verletzlichkeit.

»Subjektive Modernisierung« als Ergebnis einer modernisierten Erziehung in einer sich ständig verändernden Gesellschaft führt zu einer Psychostruktur, die ich mit dem sozialcharakterologischen Begriff der »postheroischen Persönlichkeit« bezeichnen will (ausführlich dazu Dornes 2010 b). Damit ist zum einen gemeint, dass sich dieser Typus von einer »heroischen« Unterdrückung eigener Impulse ebenso verabschiedet hat wie von einem »heroischen« Aus- und Durchhalten einmal getroffener (Lebens-)Entscheidungen. Er ist gewissermaßen beweglicher geworden. Zum zweiten soll mit dieser Begriffswahl angezeigt werden, dass dieser Typus trotz Intensivierung des inneren Gesprächs »mit sich selbst« nicht als narzisstisch (dis)qualifiziert werden kann. Mehr innerer Dialog bedeutet nämlich nicht unbedingt mehr Narzissmus – ansonsten wäre jede Psychoanalyse ein narzisstisches Unternehmen, was nicht der Fall ist.

Die psychische Grundkonfiguration der postheroischen Persönlichkeit ist aufgelockert, ohne deswegen zu fragil zu sein. Sie fühlt sich Werten verpflichtet, die sie aber nicht prinzipien- oder konformitätsgeleitet verwirklicht, sondern kontextsensitiv. Ihre Flexibilität ist nicht erzwungen, sondern psychisch verankert. Sie lässt vormals tabuierte Impulse zu und befindet sich in einem inneren Dialog mit ihnen. Ihre Flexibilität ist nicht Ausdruck von Angst, sondern der einer psychischen Verfassung, die nicht Anpassung, sondern einen Zuwachs neuer Selbst- und Weltgestaltungsmöglichkeiten impliziert. Wegen des hohen Tempos sozialer Wandlungs- und Enttraditionalisierungsprozesse sowie der damit einhergehenden »Dehnung des sozialen Gewebes« (Garland 2001, S. 284) steht die psychische Struktur dieser Persönlichkeit allerdings weitgehend im Freien. Sie findet ihren Halt überwiegend in sich selbst und ist deshalb von Entgleisungen und Selbstformierungs(über)anstrengungen, die ihr zum Teil auch sozial aufgezwungen werden, bedroht. Die Zukunft wird zeigen, wie sie damit fertig werden wird. Bisher jedenfalls ist ihr das ganz passabel gelungen.

Zusammenfassung Seit Ende der 1960er Jahre ist in vielen Familien eine Veränderung der Erziehungseinstellungen und -praktiken zu beobachten, die man in Kurzform als Verschiebung »vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt« kennzeichnen kann. Nicht nur die Beziehung zwischen den Geschlechtern ist egalitärer geworden, sondern auch die zwischen Eltern und Kindern. Diese »Demokratisierung« der Eltern-Kind-Beziehung hat zu vielerlei Hoffnungen und Befürchtungen Anlass gegeben, wobei in jüngster Zeit die Befürchtungen überwiegen. Kinder und Jugendliche sollen unter dem Einfluss einer liberalisierten Erziehung zunehmend »aus dem Ruder laufen«: Verhaltensstörungen, Aufmerksamkeitsdefizite, Aggressivität und Gewalttätigkeit sowie subklinische Phänomene wie Unhöflichkeit, Mangel an Leistungsbereitschaft und Ansprüchlichkeit seien das Ergebnis einer übermäßig nachgiebigen Erziehung, welche die psychosoziale Entwicklung der Kinder bedrohe. Der Aufsatz überprüft diese Befürchtungen und gibt Entwarnung: Moderne Eltern, Kinder und Jugendliche sind besser als ihr Ruf! Warum aber glauben wir den Krisendiagnosen?

Anmerkungen

1 Ich danke der Köhler-Stiftung für die finanzielle Förderung des Forschungsprojekts »Die Modernisierung der Seele«, in dessen Rahmen dieser Aufsatz entstanden ist.
2 In der Studie von Alt et al. waren die Mütter etwas großzügiger als die Väter. Über längere Zeiträume betrachtet, ergibt sich ebenfalls eine Abnahme in der Strenge des Erziehung. Um 1925 wurden (nach Selbsteinschätzung der Betroffenen) 80% der Kinder streng erzogen, um 1985 waren es noch 20% (Thome 2005, S. 415). Ecarius et al. (2011, S. 33) verweisen auf Studien, denen zufolge heute in 80% aller Haushalte zumindest Elemente von Verhandlung bzw. Entscheidungsmitbeteiligung vorhanden sind. Befehlsstrukturen sind am ehesten noch in Unterschichtfamilien anzutreffen.
3 Die Klage, man wisse nicht mehr, wie die Kinder zu erziehen seien, ist allerdings nicht neu, sondern findet sich bereits bei John Locke (1690; s. von Friedeburg 1965, S. 11); und von einer Erziehungskrise sprach Hannah Arendt schon 1958 (S. 260) mit Bezug auf einen in den Vereinigten Staaten damals populären Bestseller: »Warum Johnny das Lesen nicht mehr lernen kann.«
4 Das Verblassen der Vorbildfunktion der Eltern im Berufsbereich hat jedoch, sofern es vorliegt, nicht nur sozialpsychologische, sondern auch sozialstrukturelle Gründe. Der Sohn eines Bergarbeiters betrachtet seinen Vater vielleicht nach wie vor als Vorbild, dem er gerne auch beruflich nacheifern würde, kann es aber nicht, weil die Zeche nicht mehr existiert. Dann verblasst jedoch nicht das Vorbild, sondern die Gelegenheit ihm nachzueifern ist verschwunden. Trotz dieser Befunde sind Eltern insgesamt weiterhin relevante Vorbilder (s. dazu ausführlich Dornes, in Vorb., Kap. 3).
5 In einfach gelagerten Fällen erübrigen sich solche grundsätzlichen Überlegungen. Man wird ein dreijähriges Kind nicht auf eine von Autos befahrene Straße rennen lassen, sondern diesen Impuls unterbinden, Grenzen setzen, verbieten und es notfalls auch handfest davon abhalten. Dazu bedarf es keiner Begründung in Form eines (inneren) Dialogs. Allerdings gibt es verschiedene Formen, wie man ein Kind davon abhalten kann – schreiend, gehetzt, bedrohlich oder ruhig, gelassen und dennoch nachdrücklich. Diese Verhaltensweisen vermitteln dem Kind, welche Einstellung die Eltern zu seinen Impulsen haben: Sehen sie die Impulse als zu unterbindende, letztlich lästige oder gar feindselige Bedrohung an oder als Teil seiner natürlichen Lebensregungen, von denen manche deshalb verboten werden müssen, weil sie das Kind in Gefahr bringen? Ein und dieselbe Verbotshandlung kann also auf Grund der Art und Weise, wie sie kommuniziert wird, ganz unterschiedliche Einstellungen zum Kind ausdrücken, die von diesem auch wahrgenommen und entsprechend verarbeitet werden (ausführlich dazu Bergmann 2009, S. 163ff.). Für grundsätzliche, philosophisch grundierte Überlegungen zur advokatorischen Ethik und Pädagogik siehe Brumlik (2004).
6 Die drei Untersuchungen sind: eine Befragung des Sinus-Sociovision-Instituts (ref. bei Sievers 2008, S. 5), eine Befragung des Forsa-Instituts (ref. bei Deißner 2008, S. 5) und eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (ref. bei Edlinger & Wahl 2007, S. 316f.).
7 Eine Studie des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts an 1000 Kindergartenkindern im Alter von 3 – 4 Jahren kommt zu höheren Zahlen. Die Autorinnen schätzen, dass etwa 30% der Eltern auf Grund persönlicher oder gesellschaftlicher Schwierigkeiten »nur bedingt« in der Lage sind, ihren elterlichen Funktionen nachzukommen (Leuzinger-Bohleber et al. 2009, S. 119). Diese Zahl hängt vermutlich entweder a) mit sensibleren Erhebungsmethoden als den oben genannten zusammen oder b) mit höheren Ansprüchen an das, was als hinreichend gute Erziehung betrachtet wird, oder c) mit dem klinischen Fokus der Studie, der Problemfälle in den Vordergrund treten lässt und so die Schätzzahlen ebenfalls beeinflusst; außerdem ist d) die Stichprobe zwar für Frankfurt/Main repräsentativ, nicht aber für Deutschland. Durch den stark erhöhten Migrantenanteil in Frankfurt/ Main und die damit verbundenen gehäuft auftretenden psychosozialen Probleme steigt die Zahl der Problemfälle weiter. Würde man etwa eine für Berlin-Neukölln repräsentative Stichprobe ziehen und den Anteil der Eltern schätzen, die ihrer elterlichen Funktion nur bedingt gewachsen sind, wäre die Zahl vermutlich noch höher.
8 Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt auch die Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts »Aufwachsen in Deutschland«. Über bisher unveröffentlichte Zwischenergebnisse berichtet in Kurzform Schmoll (2010)

Literatur

Abram, J. (1996): The Language of Winnicott. A Dictionary of Winnicott’s Use of Words. London (Karnac).
Ahrbeck, B. (2004): Kinder brauchen Erziehung. Die vergessene pädagogische Verantwortung. Stuttgart (Kohlhammer).
Arendt, H. (1958): Die Krise der Erziehung. In: dies. (1994): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München/Zürich (Piper), S. 255 – 276.
Alt, C. , K. Blanke und M. Joos (2005): Wege aus der Betreuungskrise? Institutionelle und familiale Betreuungsarrangements von 5- bis 6-jährigen Kindern. In: Alt, C. (Hrsg.): Kinderleben – Aufwachsen zwischen Familie, Freunden und Institutionen. Band 2: Aufwachsen zwischen Freunden und Institutionen. Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften), S. 123 – 155.
Andresen, S. (2007): Vom Missbrauch der Erziehung. In: Brumlik, M. (Hrsg.): Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernhard Bueb. Weinheim/ Basel (Beltz), S. 76 – 99.

Klett-Cotta Fachbuch Hrsg. von Norbert Heinen und Rüdiger Kißgen
1. Aufl. 2011, 314 Seiten, Gebunden
ISBN: 978-3-608-94685-7
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Rüdiger Kißgen

Rüdiger Kißgen, Dr. päd., Erziehungswissenschaftler, Appr. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, ist Univ. Prof. für Entwicklungswissenschaft und ...

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Norbert Heinen

Norbert Heinen, Dr. päd. habil., Sonderpädagoge, ist Professor für Pädagogik und Didaktik bei Menschen mit geistiger Behinderung an der ...

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Grundlagen, Diagnostik, Prävention

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