Die dunkle Unermesslichkeit des Todes

Roman
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»Massimo Carlotto ist in seiner Heimat längst ein Star. Bei uns ein noch zu entdeckender.« (ARD-ttt, titel, thesen, temperamente, 17.08.08)

Oktober 2008 auf der KrimiWelt-Bestenliste von WELT, ARTE und Nordwestradio
(Weitere Informationen mit den Jury-Rezensionen unter: www.arte.tv/krimiwelt)

»Die dunkle Unermesslichkeit des Todes« erzählt von zwei Männern und einem brutalen Verbrechen, das die beiden untrennbar miteinander verbindet. Zwei Lebensgeschichten werden raffiniert verwoben zu einer wütenden Anklage gegen eine Gesellschaft, in der es keine Wiedergutmachung und keinen Trost geben kann. Eine große Geschichte über Rache und Vergebung.

Silvio Contin, Weinhändler in einer venezianischen Kleinstadt, führt ein unbeschwertes Leben mit seiner hübschen Frau und einem kleinen Sohn. Doch eines Tages nehmen zwei Männer bei einem Raubüberfall Frau und Sohn als Geiseln und töten sie kaltblütig. Der Verlust lässt Contin tief fallen, bis ihn 15 Jahre nach der Tragödie ein Gnadengesuch des inhaftierten und mittlerweile schwer kranken Mörders, Raffaello Beggiato, erreicht. Langsam begreift Contin, dass dies die Chance seines Lebens ist: Rache. »Die dunkle Unermesslichkeit des Todes« ist ein Roman von erzählerischer Radikalität und rasender Spannung. 

Leseprobe



Silvano
Kommissar Valiani war überrascht. Ich war schon lange nicht mehr im Präsidium gewesen, um nach Neuigkeiten zu fragen. Er stand hinter seinem mit Akten überhäuften Schreibtisch auf und streckte mir seine vom Nikotin gelbe Hand hin.
»Guten Tag, Signor Contin«, begrüßte er mich misstrauisch.
»Ich muss mit Ihnen reden.«
»Der Fall ist seit einer Weile zu den Akten gelegt.«
»Das ist mir bekannt. Aber Beggiato hat jetzt Krebs und erhält vielleicht Haftverschonung.«
»Möglicherweise ...«
»Ich habe mit dem zuständigen Richter gesprochen, die Möglichkeit ist groß.«
»Und?«
»Wenn er draußen ist, nimmt er vielleicht Kontakt zu seinem Komplizen auf.«
»Wir werden ihn im Auge behalten. Wir haben den Fall nicht vergessen, auch wenn wir den anderen bisher nicht ermitteln konnten. In ein paar Jahren gehe ich in Pension und möchte ungern offene Fälle zurücklassen.«
»Ich kann mich also auf Sie verlassen?«
»Ich werde mich persönlich darum kümmern.«
Beim Abschied dachte ich, ein jüngerer, ehrgeizigerer Beamter würde mir mehr Zutrauen einflößen. Ich hatte nur noch den Komplizen im Kopf, schien doch jetzt seine Verhaftung wenigstens denkbar. Aber nur, wenn Beggiato es aus dem Zuchthaus raus schaffen würde, und nur, wenn er dann Kontakt zu ihm aufnähme. Sein beharrliches Schweigen war für mich ein Zeichen dafür, dass der andere noch am Leben war, frei und in Italien lebte, vielleicht sogar in der Stadt. Sonst hätte er ohne Gewissensbisse reden können. Je länger ich darüber nachdachte, desto gewisser war ich, dass Beggiato ihn aufsuchen würde, sobald er aus dem Gefängnis kam. Aber diesmal würde die Polizei ihn nicht wieder entkommen lassen. Meine Drohung, Beggiatos Freilassung zu verhindern, war nur ein Bluff. In Wirklichkeit sehnte ich den Moment herbei, in dem er Valianis Männer zu seinem Komplizen führte. Er musste mehr oder weniger so alt sein wie Beggiato selbst. Er würde bis zu seinem Tod im Zuchthaus schmoren. Beggiato wäre dann schon lange tot. Tot. Alle tot. Die Verbrecher, Clara, Enrico. Und irgendwann würde auch ich selbst an die Reihe kommen.
Don Silvio wartete, bis ich eine Kundin fertig bedient hatte.
»Was ist passiert?«, fragte er besorgt.
»In welchem Sinne?«
»Beggiato ist verzweifelt und hat mir nicht erzählen wollen, wie Ihr Treffen gelaufen ist.«
»Vielleicht, weil es nichts zu erzählen gibt.«
»Sie werden der Begnadigung nicht zustimmen, oder?«
Ich zuckte mit den Schultern und schaltete die Maschine an, mit der ich Absätze befestigte. Nach ein paar Minuten gab der Priester auf. Mit einem müden, resignierten Winken verabschiedete er sich.
An diesem Abend hatte ich eine Vorladung der Carabinieri im Briefkasten. Ich ging sofort auf die Wache. Ein Beamter in Zivil erklärte mir, es handele sich um Beggiatos Gnadengesuch.
»Es tut mir leid, dass wir Sie wegen dieser Sache behelligen müssen.« Er klang aufrichtig.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe das schon erwartet.«
»Was soll ich schreiben? Positive oder negative Stellungnahme?«
»Negative.«
Am Ausgang wurde ich von einem Mann in den Vierzigern erwartet. Er sagte, sein Name sei Presotto, er arbeite für eine Tageszeitung. In unserer Stadt gab es drei Blätter, eines, das Mitte rechts stand, eines Mitte links und das dritte als Beilage zu einer großen landesweiten Tageszeitung. Presotto arbeitete für das erste.
»Wir haben erfahren, dass Raffaello Beggiato ein Gnadengesuch gestellt hat«, sagte er. »Ich kann mir nur vorstellen, dass Sie dagegen sind.«
Ich betrachtete sein Doppelkinn, die gelbliche Gesichtsfarbe und die dicke Brille. Ich hatte jetzt keine Lust, mit ihm zu reden, aber sein entschlossenes Auftreten machte mir klar, dass ich ihn nicht so leicht loswerden würde.
»Ja, ich habe eben meine Ablehnung zu Protokoll gegeben.«
»Tut Beggiato Ihnen nicht leid? Er hat Krebs, ihm bleibt nicht mehr viel Zeit ...«
So ist es immer mit den Journalisten. Eine Frage ergibt die nächste. Ich versuchte, ihm meine Lüge gelassen aufzutischen.
»Aus menschlicher Sicht tun mir seine gesundheitlichen Probleme leid, aber sein Verbrechen ist zu schwerwiegend, als dass er Milde verdient hätte.«
»Stimmt es, dass Sie ihn im Zuchthaus besucht haben?«
»Ja.«
»Und Sie hatten um das Treffen gebeten?«
»Ja.«
»Und warum?«
»Ich war neugierig. Er hatte mich schriftlich um Vergebung gebeten und geschworen, er sei ein anderer Mensch geworden, er würde bereuen ...«
»Aber?«
»Ich hatte nicht den Eindruck.«
»Könnten Sie das genauer sagen?«
»Nein. Ich bin müde, ich möchte nach Hause.«
»Nur noch eine Frage. Avvocato De Bastiani hat heute einen Antrag auf Haftverschonung aus Gesundheitsgründen gestellt, und die wird aller Wahrscheinlichkeit nach gewährt werden. Was empfinden Sie, wenn der Mörder Ihrer Lieben auf diese Weise wohl doch freikommt?«
»Die Entscheidung wird vom zuständigen Gericht gefällt, das meine Meinung nicht einzuholen braucht.«
»Das heißt, Sie sind dagegen.«
Ich antwortete nicht sofort. Ich musste mich entscheiden, ob ich dafür sorgen wollte, dass Beggiato hinter Gittern bleiben musste. Doch dann konnte er niemanden zu seinem Komplizen führen.
»Sagen wir es so, die Sache geht mich nichts an. Aber die Haftverschonung hebt nicht die Strafe auf. Beggiato würde auch auf diese Weise zu ›lebenslänglich‹ verurteilt bleiben.« »Ich muss sagen, ich bin wirklich überrascht«, sagte Presotto, »und auch ein bisschen enttäuscht. Ich hätte eine härtere, entschlossenere Reaktion von Ihnen erwartet. Ich persönlich bin der Ansicht, dass dieser Verbrecher es verdient, zu bleiben, wo er ist. Meine Zeitung ist politisch gut vernetzt, ich glaube, Sie verstehen, was ich meine ... Wir könnten Ihnen helfen.«
Das hatte ich sehr gut verstanden. Ich gab ihm die Hand und ging eilig meines Weges. Ich wollte mich nicht weiter mit Presotto auseinandersetzen. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, ich hatte Angst, etwas zu sagen, das meinem noch allzu diffusen Plan schaden könnte. Hoffentlich hatte ich keinen Fehler begangen. Sorge und Unruhe führten mich in eine Bar. Ich hatte schon lange keine mehr besucht. Ich bestellte einen Espresso mit einem Schuss Brandy. Die Frau hinterm Tresen war jung und stammte nicht von hier; sie würdigte mich keines Blickes und unterhielt sich ungestört weiter mit der Kassiererin. Ich war ihr dankbar dafür. Ich brauchte nur eine Pause zum Nachdenken.
Früher war ich geschickt im Umgang mit Menschen gewesen. Jetzt war ich immer gleich befangen. Auch den Kunden gegenüber. Wenn es eine Reklamation gab, wusste ich mich nicht zu verteidigen. Lieber erließ ich dem Kunden die Rechnung. Aber das kam selten vor. Mich auf die Absätze, Sohlen und Schlüssel zu konzentrieren verschuf mir eine Atempause in meinen Grübeleien. Fernzusehen hatte dieselbe Wirkung. Meine Stunden vorm Bildschirm waren unabdingbar nötig, um der Unruhe ein wenig Zeit zu stehlen, obwohl es schwierig war, Sendungen zu finden, die nicht irgendwie Erinnerungen an Clara und Enrico weckten.
Nachrichten, Diskussionen, Krimis oder Dokumentar. lme über Kriminalfälle schaltete ich nicht an. Nicht mal Fußball konnte ich sehen. Zwei Sonntage vor der Tragödie war ich mit Enrico im Stadion gewesen. Es hatte ihm so gut gefallen, und ich musste ihm versprechen, dass wir öfter hingehen würden. Am liebsten sah ich Quizsendungen und Unterhaltungsshows. Die Tagesnachrichten über. og ich morgens früh in der Zeitung, bevor ich meinen Laden aufmachte. Zu der Tageszeit war ich am stabilsten. Gefährdeter war abends der Moment, in dem ich die Wohnungstür aufschloss, im Wissen, dass niemand da war, der mich erwartete. Dann machte ich rasch den Fernseher an, um die Stille zu vertreiben, in der sonst unweigerlich die Erinnerungen hochgekommen wären.
Das würde auch heute nicht anders sein, das wusste ich, als ich den Schlüssel ins Schloss steckte. Ich machte alle Lichter an und stellte den Fernseher laut. Statt eine Packung Penne mit Lachs aus dem Tiefkühlfach zu nehmen, beschloss ich, selbst etwas zuzubereiten. Brühe aus Würfeln mit Suppennudeln. Etwas Heißes, das den säuerlichen Geschmack des Kaffees vertreiben würde. Ich stellte die Küchenuhr auf die Kochzeit der Nudeln ein, sieben Minuten. Dann tat ich Butter und Parmesan dazu. So wie Clara, wenn sie dasselbe für Enrico kochte. Diese Nacht würde nicht leicht werden.
Presottos Artikel erschien zwei Tage später. Ich musste ihn mehrfach lesen. Vor Aufregung konnte ich mich kaum konzentrieren. Neben der Überschrift war ein Foto von Clara und Enrico abgedruckt. Beide lächelten. Daneben eines von Beggiato. Der ernste, undurchschaubare Blick des eingefleischten Verbrechers. Und darunter meines, eine Aufnahme vom Prozess. Ich betrachtete meine verwirrten Augen, die sich noch an die dunkle Unermesslichkeit des Todes gewöhnen mussten.
Raffaello Beggiato bald frei?
Jeder in unserer Stadt dürfte sich daran erinnern, wie gnadenlos der Raubmörder Raffaello Beggiato und ein nie identifizierter Komplize vor fünfzehn Jahren Clara und Enrico Contin umbrachten. Ein grausames Verbrechen, das Beggiato eine lebenslängliche Haftstrafe einbrachte. Zu Recht. Jetzt aber scheint er dank eines bösartigen Tumors, den der ärztliche Dienst des Gefängnisses bei ihm diagnostiziert hat, bald wieder in Freiheit gelangen zu können. Eigentlich dürfte eine solche Maßnahme ausschließlich zu einer vorübergehenden Unterbrechung der Strafe dienen, in der der Gefangene so weit behandelt wird, dass er die Haft wieder antreten kann. Für Beggiato, dessen Krankheit unheilbar ist, käme dies also nicht in Frage, doch häu. g überschreitet das Mitleid die Grenzen des Gesetzes, und die zuständigen Richter tendieren dazu, die entsprechenden Paragraphen mit überzogener Milde auszulegen. Wohlverstanden: Der Häftling und Bürger Beggiato hat das Recht auf die beste Behandlung. Doch warum ihn frei lassen, wenn er auch im Gefängnis behandelt werden könnte? Der Umstand, dass er seine Erkrankung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht überstehen wird, darf in keinster Weise den strengen Sinn des Gesetzes aushebeln. »Lebenslänglich« ist die härteste bei uns vorgesehene Strafe, und in Raffaello Beggiatos Fall ist sie mehr als verdient. Jetzt wünscht der Doppelmörder also, sein Leben als freier Mann zu beenden. Tatsächlich hat sein Anwalt ein Gnadengesuch gestellt, dem jedoch gewiss nicht stattgegeben wird, nachdem der zivilrechtliche Neben kläger, Silvano Contin, seine Ablehnung dieses Gesuchs ausgedrückt hat. Contin, der Vater des kleinen Enrico und Gatte von Clara, die beide von Beggiato und seinem Komplizen getötet wurden, hat den Häftling kürzlich im Zuchthaus besucht; er wollte sich vergewissern, dass Beggiato seine Tat wirklich bereut, wie dieser es in einem Brief behauptete, in dem er ihn um Vergebung gebeten hat. Eine noble Geste, mit der Silvano Contin beweist, dass er trotz der schrecklichen Tragödie tiefe Menschlichkeit bewahrt hat. Vergebung jedoch konnte er nicht gewähren. Beggiato hat ihn nicht überzeugt. Warum ihn dann aus der Haft entlassen, wenn es doch offensichtlich ist, dass Haftverschonung in seinem Fall einer Begnadigung gleichkäme? Niemand wird einem Todkranken mitleidlos gegenüberstehen, aber man darf auch nicht vergessen, welch furchtbares Verbrechen ihn hinter Gitter gebracht hat. Wer Geiseln nimmt und umbringt, nur um sich zu bereichern, der soll auch den Mut haben, seine Rechnung mit der Gesellschaft zu begleichen. Gewiss verlangen wir nicht von Beggiato, diesen Mut unter Beweis zu stellen, wohl aber vom zuständigen Gericht. Und vom Minister er warten wir, dass er weiterhin die feste Hand zeigt, durch die seine Amtsführung sich bisher aus zeichnete.
Nun hatte Presottos Zeitung also ihren Feldzug begonnen. Beggiato konnte alle Hoffnung vergessen freizukommen. Der Minister würde es nicht zulassen. Und so löste sich auch mein eigener Plan in Luft auf. Ich musste mich damit abfinden, dass Beggiatos Komplize weiterhin davonkam.
Das Foto in der Zeitung sah mir nicht mehr ähnlich, niemand auf der Straße würdigte mich eines Blickes. Auch heute war ich für alle nur der Mann vom »Absatz-Blitz«.
Mir war seltsam zumute. Unbehaglicher als sonst. Die Ereignisse dieser Tage und die Gefühle, die sie auslösten, hatten das empfindliche Gleichgewicht meines Lebens durcheinandergebracht. Ich konnte den inneren Hilferuf nur noch schwer unterdrücken. Mit quälender Beharrlichkeit schrillte er in meinem Gedächtnis und fuhr mir direkt ins Herz. »Es ist alles so dunkel, Silvano. Ich kann nichts mehr sehen. Ich habe Angst, ich habe Angst, hilf mir, es ist so dunkel !« Ich wollte sobald wie möglich nach Hause und ins Bett, aber dort wäre es nur noch schlimmer. So versuchte ich, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Ein Nagel, ein Schlag mit dem Hammer. Der nächste Nagel, der nächste Schlag. Dann die Maschine anstellen. Fräsen, polieren und nachpolieren.
»Es ist alles so dunkel, Silvano !«
»Ich weiß, Liebes. Ich weiß.« [...]

Tropen Aus dem Italienischen von Hinrich Schmidt-Henkel
2. Aufl. 2008, 188 Seiten, Gebunden
ISBN: 978-3-608-50200-8
autor_portrait

Massimo Carlotto

Massimo Carlotto, geboren 1956 in Padua, ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Italiens. Als Sympathisant der extremen Linken wurde er in den 1 ...

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