Menschenwürde - oft zitiert, doch zu schwach definiert!
Der Mensch an sich besitzt keine Würde! Das belegt die unentdeckte Geschichte dieses höchsten Grundwerts, wie sie so noch nie geschildert wurde. Menschenwürde entsteht erst aus fürsorglichem Tun und der Achtung des einzelnen vor sich und seinen Mitbürgern.
Hartz IV, Großer Lauschangriff, Guantánamo, Luftsicherheitsgesetz - Würdeverletzungen? Die Menschenwürde hat Hochkonjunktur: Inzwischen gilt sie als der höchste Grundwert - bei den Vereinten Nationen, in der Europäischen Union und in unserer Gesellschaft.
Heute berufen sich Personen, Politiker und Parteien, Sekten, Weltanschauungen und Religionen, Staaten, Weltorganisationen und Verfassungen auf die Würde: Sie grenzen die Biotechnik ein, stecken ethische Ziele ab, fordern Gesetze und verwerfen Staatssysteme im Namen der Würde. Doch wurde die jüngste Geschichte mit der Tinte der Menschenverachtung geschrieben: Die Weltkriege, der Holocaust und die Diktaturen des 20. Jahrhunderts sprechen die Sprache von Terror und Tod. Die Geschichte der Würde war und ist eine anmaßende Illusion.
Menschen sind verletzlich, schutzbedürftig und sterblich. Gerade deshalb können sie auf Ehr- und Schamgefühl ebenso wenig verzichten wie auf Selbstachtung. Die Menschenwürde ist uns nicht angeboren. Wir müssen erst lernen, uns gegenseitig zu achten, damit jeder seine Würde entfalten kann.
Inhaltsverzeichnis
Ein Wort für Sonntagsreden
Kulturgeschichte der Würde
- Antike - Ein moralischer Adel- Spätantike und Mittelalter - Gottes wertvolle Kreatur- Humanismus und Renaissance - Der großartige Mensch- Neuzeit - Geist,Vernunft und Freiheit- Moderne - Bedingung fairer Kommunikation
Würde als höchster Verfassungswert
- Im Labyrinth der Rechtsgeschichte- Warum gerade im 20. Jahrhundert?- Warum nicht schon im 18. Jahrhundert?- Verfassungskonvent und Parlamentarischer Rat- Bundesverfassungsgericht- Europäische Union- Gottesbezug und Religionserbe
Ohne Würde
- Zivilreligion in Bedrängnis- Vernunft in der Kritik- Zweifelhafte Selbsterhöhung des Menschen- Der Mensch - ein schmalnasiges Säugetier- Die Würde des Verbrechers
Ein neues Würdebild
- Selbstbehauptung der Menschenwürde- Würde als Gestaltungsauftrag- Existentielle Gleichstellung aller Menschen- Nacktheit, Scham und Selbstwertgefühl- Warum die Würde achten?- Humanität und Brutalität- Von elitärer Ehre zur egalitären Würde
Rechtsprinzipien, Menschenrechte und Soziale Marktwirtschaft
- Was ist ein zivilisierter Mensch?- Wertordnung des Mißtrauens- Höchste Rechtsarten- Menschenrechte im ideologischen Wertestreit- Nachtwächterstaat im Rückzug- Wirtschaftlicher Wettbewerb im Wohlfahrtsstaat- Globalisierung und Standortnachteile- Recht auf Arbeit und Eigentum
Anhang
AnmerkungenLiteraturPersonenregister
Leseprobe
Ein Wort für Sonntagsreden
»Wir, die Völker der Vereinten Nationen, [sind] fest entschlossen [...], unseren Glauben [...] an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit [...] erneut zu bekräftigen« - heißt es in der Präambel der am 26. Juni 1945 verabschiedeten Charta der Vereinten Nationen. Ähnlich lautet Artikel 1 der am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: »Alle Menschen sind frei und an Würde und Rechten gleich geboren.« Dem folgt unser Grundgesetz, welches am 24. Mai 1949 in Kraft trat, und das, von der Präambel einmal abgesehen, mit den Worten beginnt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Ganz offensichtlich diente diese Formulierung als Vorlage für Artikel 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 9. Dezember 2000: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen. « Heute werden Achtung der Menschenwürde und Einhaltung der Menschenrechte weltweit gefordert.
Leider klaffen in der Praxis jedoch Abgründe zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Angst- und Schreckensschreie Tausender auf der ganzen Welt machen Menschenrechtsverletzungen von bedrückendem Ausmaß offenbar. Im 20. Jahrhundert kannte die von Menschen bewirkte Not und Qual keine Grenzen; man nennt es daher oft das blutigste und brutalste in der abendländischen Geschichte. So fielen in den letzten hundert Jahren Millionen Menschen grausigem Treiben zum Opfer, dem bis heute anscheinend nichts und niemand dauerhaft Einhalt zu gebieten vermag, denn die Bereitschaft, dem Schwächeren weh zu tun, besteht unvermindert fort.
Die im Jahre 1961 von dem Londoner Rechtsanwalt Peter Benenson gegründete Menschenrechtsorganisation amnesty international wies erst jüngst wieder auf Menschenrechtsverletzungen der schlimmsten Art hin, die auf drastische Weise verdeutlichen, daß der Kampf für die Freilassung von gewaltlosen, politischen Gefangenen, gegen Todesstrafe, Folter und andere Formen unmenschlicher Grausamkeit weiter gehen muß.Auch künftig werden Durchsetzung fairer Gerichtsverfahren, Hilfe für politisch Verfolgte und Unterstützung ihrer Angehörigen wichtige Aufgaben der internationalen Politik bleiben. Heute üben unterschiedliche Organisationen rund um den Erdball mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Druck auf Staatsführungen aus, die Menschen wegen ihrer Überzeugung, Hautfarbe und Rasse benachteiligen oder mißhandeln.
In unermüdlichem Kampf gegen die Gleichgültigkeit einer durch die täglichen Nachrichten über menschliche Greueltaten abgestumpften Öffentlichkeit dokumentiert amnesty international die Schrecken der Welt regelmäßig in Fakten und Zahlen. Die Bilanz ist jedes Mal erschreckend, wenn man bedenkt, in wieviel Staaten Gefangene nach wie vor gefoltert und willkürlich hingerichtet werden, wieviel Tausende ohne Anklage in Kerkern sitzen, wieviel bewaffnete Konflikte auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen werden, wieviel Millionen Verzweifelter auf der Flucht sind, wieviele Menschen in absoluter Armut dahinvegetieren und wieviel unschuldige Kinder daran täglich sterben. Besonders verabscheuungswürdig ist der weltweite Handel mit Hinrichtungs- und Folterwerkzeugen, wie Daumenschrauben, Fußeisen oder Elektroschockgeräten, in den selbst einige Industrienationen verstrickt sind. Aber der Aufschrei der Empörung verhallt bis heute meist unerhört.
Nun braucht dieser erdrückende Katalog des Vergehens gegen die Menschlichkeit hier nicht weiter aufgeblättert zu werden; vieles ist bekannt, die Medien berichten fast täglich davon.Wem käme da nicht die Frage, ob es eine unantastbare Menschenwürde überhaupt gibt?
Tatsächlich abhanden gekommen war sie 1980, als unbekannte Täter von einem Schriftrelief des Frankfurter Schwurgerichtsgebäudes mit dem Wortlaut: »Die Würde des Menschen ist unantastbar« die »Würde« gestohlen hatten. »Daß die Justiz so plötzlich ihre Würde verlor, war am hellichten Tag geschehen. Gerade lag die Würde am Boden, da huschten junge Männer herbei und bemächtigen sich ihrer. Arbeiter am Gebäude, die den großen Spruch nach erfolgter Renovierung der Fassade wieder anbringen wollten, sahen noch, wie sie sich hurtig davonmachten - auf dem Fahrrad und hintendrauf die Würde. «1 Anschließend forderten die Entwender auf einem Flugblatt die »Freilassung aller Gefangenen, die Auflösung aller Schulen und sonstigen Verdummungszentren, Stillegung aller Fabrik- und Atomanlagen, Einführung der Menschenrechte für alle,Ausrufung der Anarchie.« Doch konnte die »Würde« nach wochenlanger vergeblicher Suche auch ohne Erfüllung dieser teilweise verrückten Forderungen wieder sichergestellt werden. Statt unwiederbringlich verloren,war sie lediglich baden gegangen: Man fand sie, leicht ramponiert, in einem nahegelegenen Baggersee.Wie es hieß, sollte sie ursprünglich sogar im Meer versenkt werden, doch schien sie diesen Aufwand nicht wert zu sein. So bekam das Justizgebäude seine alte Würde wieder, mit der sich offenbar leicht Mißbrauch treiben läßt, und die, worauf der hochsymbolische Akt der Seebestattung aufmerksam machte, mühelos untertauchen, sozusagen in der Versenkung verschwinden kann.
Angesichts von Leid und Ungerechtigkeit überall auf der Welt klagen wir die Würde dort ein, wo sie verletzt, mißachtet, mit Füßen getreten wird. Doch sind wir uns überhaupt im klaren, was Menschenwürde bedeutet, in deren Namen wir gegen alle von Menschen begangenen Grausamkeiten immer wieder aufbegehren? Haben tatsächlich alle Menschen die gleiche Würde, nur weil sie Menschen sind - der untadelige Bürger ebenso wie der schlimmste Verbrecher? Heutzutage glauben viele, daß es eine allgemeine Menschenwürde gibt, selbst wenn sie bei Tag und bei Nacht auf übelste Weise verletzt wird. Daher darf die Frage nicht unbeantwortet bleiben,was Würde ist.Wie zeigt sie sich, woher kommt sie, worauf gründet sie? Bis heute überläßt man Fragen dieser Art gerne Metaphysikern und Juristen, welche die Würde auch als ihre Domäne ansehen; die philosophische Ethik scheint dagegen auf diese Fragen verzichtet und sich mit diesem Verzicht bereits abgefunden zu haben. Dennoch ist es keine Übertreibung zu sagen, daß nur wenige Menschen den genaueren Inhalt der Würdeidee und deren Begründung wirklich kennen.Vermutlich würden bei einer Umfrage in den Parlamenten unserer Länder und in den Fußgängerzonen unserer Städte die meisten Politiker und Bürger in Verlegenheit geraten, wenn man von ihnen Näheres über Bedeutung und Begründung der Menschenwürde erfahren möchte.
Weder das Grundgesetz noch die Allgemeine Erklärung oder irgendeine andere Proklamation gibt hierüber klare Auskunft, und wir beginnen gewöhnlich verlegen zu werden, wenn man uns nach Sinn, Gültigkeit und Verbindlichkeit dieser großartigen Idee befragt. Die Würde des Menschen ist zwar ein Schlagwort der Gegenwart mit höchster Rechtsbedeutung, diesem haftet aber eine merkwürdige Vagheit an, die es mit anderen hohen populären Begriffen wie »das Schöne« oder »das Gute« teilt. Hier wie dort verschleiert das Pathos, das mit solchen Ausdrücken einherzugehen pflegt, allzu leicht deren Unbestimmtheit. Aber auch große Wissenslücken kennzeichnen das heutige Würdebewußtsein, weshalb die Würde oft bloß zitiert, doch nur selten definiert wird. Obwohl wir uns lautstark zum Grundsatz der Menschenwürde bekennen, weiß kaum einer genau, was dieser Ausdruck eigentlich bedeutet und worauf sich dieses schöne Wort im Ernstfall noch stützen könnte; ja, seine Konturen verschwimmen desto stärker, je intensiver man sich damit befaßt. Darum ist es nicht weiter verwunderlich, daß heute einige diese Idee als bloße Phrase, schöne Floskel oder leere Worthülse belächeln und als rhetorisches, praxisfernes Ornament abtun. Die Sprache der großen Worte scheint mittlerweile verschlissen zu sein. Der Begriff Menschenwürde vermag zwar nach wie vor zu faszinieren, er scheint aber nichts als eine abgegriffene, bedeutungslose Begriffsschablone zu sein. In diesem Sinne ist die Aussage des Nobelpreisträgers Friedrich A. von Hayek zu verstehen: »So edel und lobenswert die Gefühle sind, die in Begriffen wie Menschenwürde ihren Ausdruck finden, für sie ist in einem Versuch zu rationaler Überzeugung kein Platz.«2 Denn bei näherem Hinsehen erweisen sich solche Sprachgebilde - trotz oder gerade wegen ihres Glanzes und ihrer Leuchtkraft - als unverständlich, als bloße Präambellyrik und Fassadenornamentik.Wenn das stimmt, dann ist die Würde, welche jedem Menschen von Natur aus zukommen soll, heute nicht mehr nur praktisch gefährdet, sondern sogar theoretisch. Es scheint, als sei sie ein bloßer Sprachfetisch, ein Orakel, das im Anrufungsfall zwar sofort zur Stelle ist und besonnene Gemüter bisweilen in ehrfürchtiges Schweigen versetzt, das aber als Antwort auf die drängenden Fragen unserer Zeit doch nur dunkle Sprüche bereithält.
Das klingt beunruhigend - und ist es auch, wenn man bedenkt, daß die Menschenwürde den höchsten Rechtswert unserer Verfassung darstellt und deren tragendes Prinzip ist, das höheren Rang als alle mehrheitsdemokratischen Entscheidungen besitzt. Nach Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes gehört die Menschenwürde zum Kernbestand der Verfassungsordnung, der, wie es dort heißt, niemals durch Verfassungsänderungen berührt werden darf, von jeder Verfassungsrevision ausgenommen ist.Wie aber konnten die Urheber des Grundgesetzes, der Parlamentarische Rat, einen so vagen Rechtsbegriff, dem sehr Unterschiedliches unterlegt werden kann, in den Mittelpunkt des Grundgesetzes rücken und zu einer alle Staatsgewalt bindenden Leitidee erheben? Diese Frage drängt sich jedem nachdenklichen Menschen auf, der erkennt, daß die Erhebung eines unbestimmten Begriffes in den Rang höchster Verbindlichkeit soviel bedeutet, wie diesen letzten Endes doch unverbindlich zu lassen.
Sosehr im politischen Bekenntnis zur Menschenwürde eine Antwort auf die nationalsozialistische Tyrannei gesehen werden muß, ist damit nicht schon die Frage beantwortet,was menschliche Würde eigentlich bedeutet. Diese Idee wird im Grundgesetz einfach vorausgesetzt, ohne daß weiter erklärt würde, worin sie besteht und worauf sie sich gründet. Die beklagte Offenheit hat allerdings einen Vorzug: Sie ermöglicht es, daß die Idee der Menschenwürde ihre Wirkung im Wandel der Zeit bewahren und an neue Erkenntnisse oder veränderte Wertvorstellungen angepaßt werden kann. Erst so ist sie mit verschiedenen Grundeinstellungen vereinbar und mithin mögliche Grundlage für eine pluralistische Gesellschaft mit unterschiedlichen Weltanschauungen. Denn läßt man die Idee menschlicher Würde undefiniert, so können ihr zumeist alle zustimmen. Nicht zuletzt deshalb weigern sich manche Rechtswissenschaftler, den Ausdruck Würde näher zu bestimmen. Diesen für vielfältige Auslegungen offenhaltend, vertrauen sie darauf, daß wir auch ohne solche Definitionen die richtigen Vorstellungen mit diesem Begriff verbinden.
Allerdings ist die Kehrseite hiervon eine beunruhigende Ungreifbarkeit der Würdeidee, wodurch sie in den Verdacht gerät, eine willkürlich auslegbare Leerformel zu sein. Als Leerstelle mit unbestimmtem Auslegungsspielraum gilt sie mit Recht als zu vage, um verbindliche Richtschnur für den Gesetzgeber und orientierender Grundwert für die Bürger sein zu können. Trotz der aufgezeigten Vorteile bleibt ihre Unschärfe somit ein großes Problem und die sich daraus ergebende Versuchung, den Ausdruck Würde mit beliebigen, widersprüchlichen Inhalten zu füllen, eine ernste Gefahr, der mit einer klaren, wohlbegründeten Würdevorstellung begegnet werden muß; andernfalls droht die höchste Verfassungsgarantie beliebig zu werden, ins Leere zu laufen.
Gesucht wird demnach eine gut begründete, allgemeingültige Bestimmung der Würdeidee, die dem Pluralismus des modernen Staates wie der multikulturellen Weltöffentlichkeit gerecht wird. Eine solche darf nach der einen Seite hin nicht dogmatisch, nach der anderen nicht willkürlich sein. Doch selbst wenn es gelänge, die Würdeidee schärfer zu profilieren, so wären damit nicht schon alle Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt bei der Anwendung dieses Begriffes in der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, da jede sei es noch so scharfe Würdedefinition nur eine Auslegungsrichtung vorgeben kann, niemals aber ein operationalisierbares Handlungsprinzip darstellt.
Weit davon entfernt eine glaubwürdige Form der Begründung zu sein, war der Würdebegriff in der Vergangenheit oft bloß deren schlechter Ersatz, und bis heute tritt das Bekenntnis zur Würde häufig an die Stelle guter Argumente. Nicht selten liefert die Idee der Würde den Schein einer Begründung und konserviert auf diese Weise nur die Probleme, als deren Lösung sie auftritt. Darauf vertrauend, daß niemand gerne gegen die Menschenwürde verstößt, mißbrauchen die einen sogar diesen Begriff, um ihre Argumentationsgegner mundtot und sprachlos zu machen, die anderen, um ihrer eigenen, nicht verallgemeinerungsfähigen Weltanschauung zu allgemeiner Anerkennung zu verhelfen. Solche Instrumentalisierungen lassen sich am ehesten noch verhindern durch nähere Bestimmung der Würdeidee, welche allerdings eine intensive Auseinandersetzung mit ihren geistesgeschichtlichen Quellen und Grundlagen voraussetzt. Darum soll als erstes ein Überblick über die herkömmlichen Bedeutungen und Ableitungen des Würdebegriffs gegeben werden.
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