Persönlichkeitsstörungen sind immer auch soziale Störungen
Eine Therapie von Patienten mit komplexen Persönlichkeitsstörungen kann dann erfolgreich sein, wenn sie auf die Gestaltung entwicklungsförderlicher zwischenmenschlicher Beziehungen ausgerichtet ist. Dieses Buch enthält die Ergebnisse und Erfahrungen eines Autors, der seit fast 30 Jahren mit der psychoanalytischinteraktionellen Einzel- und Gruppentherapie erfolgreich arbeitet.
In Lehr- und Therapiebüchern wird die Diagnostik und Therapie einzelner, häufig klar umrissener Krankheits- und Störungsbilder erläutert. In der klinischen Praxis sieht man dagegen überwiegend Patienten, die unter einer Kombination von verschiedenen Störungsbildern leiden. Besonders im stationären Bereich sind das häufig strukturelle Persönlichkeitsstörungen in Kombination mit weiteren Erkrankungen wie zum Beispiel Phobien oder Depressionen. Diese Patienten galten lange als unbehandelbar. Sie leiden unter einer verzerrten Wahrnehmung ihrer selbst und anderer Menschen oder der Unfähigkeit, Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten. Ihre Störungen manifestieren sich überwiegend in der sozialen Lebenswelt, in der Beziehung zu anderen Menschen. Hier setzt die psychoanalytisch- interaktionelle Methode an. Sie verlangt vom Therapeuten eine diagnostische und therapeutische Herangehensweise, die auf das Verhalten des Patienten in sozialen Situationen, im Umgang mit anderen und dem Therapeuten fokussiert. Im Vordergrund der Therapie steht deshalb das Bemühen um entwicklungsförderliche zwischenmenschliche Beziehungen.
1. Einleitung
2. Strukturelle Störungen, komplexe Störungen und schwere Persönlichkeitsstörungen
- Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörungen
- Organisation der Persönlichkeit und inneres Arbeitsmodell
- Komplexe Störungen
- Zur Problematik des Störungsbegriffs und des Konzepts der Komorbidität
- Dekompensation, auslösende Situation und
- Beziehungsstörungen als Therapiefokus
Soziale Lebenswelten
- Zur existenziellen Bedeutung des sozialen Lebens
- Interpersonalität in der Psychoanalyse und der soziologische Interaktionismus
- Zusammenleben mit Anderen und körperliche Gesundheit
Psychische Dispositionen und interpersonelle Beziehungen
- Psychotherapie als »talk in interaction«
- Erleben und Verhalten in Beziehungen
Unbewusster Konflikt und Entwicklungsstörung
3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
- Strukturelle Störungen und soziale Umwelt
- Beeinträchtigungen basaler psychischer Funktionen bei strukturellen Störungen
- Mentalisieren
- Klinische Besonderheiten struktureller Störungen
Selbstentwicklung, Bindung, Mentalisieren und traumatisierende Entwicklungsbedingungen
Strukturelle Störungen und soziale Ängste
- Zur Psychodynamik sozialer Ängste
- Soziale Ängste und Abwehr von Sexualität
- Soziale Ängste und narzisstische Persönlichkeitsstörung
- Soziale Ängste und die Angst vor Kontrollverlust
4. Psychotherapeutische Methoden und therapeutische Kommunikation
Modifikationen der Psychoanalyse für Patienten mit schweren
Persönlichkeitsstörungen
- Die psychoanalytisch-interaktionelle Modifikation (Heigl und Heigl-Evers)
- Selbst- und Beziehungsregulierung im Zentrum der therapeutischen Aufmerksamkeit
Strukturelle Störungen und die therapeutische Beziehung
- Szenische Darstellungen, Enactments und nichtsprachliches Verhalten
- Soziale Ängste und die therapeutische Beziehung
5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
- Zur Geschichte der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie
- Progression statt Regression
Die therapeutische Arbeitsweise
Vor Beginn der Behandlung
- Die Zeit für die Vorbereitung des Patienten
- Zur Aufklärung des Patienten
- Aufklärung über die Diagnose
- Aufklärung über die geplante Behandlung
Rahmenbedingungen
Rahmenbedingungen als Vertrag
Voraussetzungen für die therapeutische Arbeit
- Fokus und Schwerpunkt der Behandlung
- Behandlungsziele
- Aufgabenverteilung in der Therapie und die therapeutische Arbeitsweise
- Kooperation in der Behandlung: Der Therapeut
- Kooperation in der Behandlung: Der Patient
- Suizidales und selbstverletzendes Verhalten
- Umgang mit Medikamenten
- Therapie außerhalb der Therapiezeiten
- Dauer der Behandlung
- Rahmen und therapeutische Ordnung
- Gruppentherapie in der Ambulanz und in der Klinik
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Das therapeutische Setting
- Das Setting der Einzeltherapie
- Das Setting der Gruppentherapie
Die Haltung des Psychotherapeuten
- Der Psychotherapeut als präsente andere Person
- Authentizität als Haltung
- Emotionale Akzeptanz und Gegenübertragungsgefühle
Das therapeutische Gespräch
- Antworten
- Zum antwortenden Umgang mit Idealisierungen
- Antworten und Antizipation habituellen Verhaltens
- Antworten und das Primat der Progressionsorientierung
- Zur passageren Übernahme von psychischen Funktionen:
- Der Therapeut in der Funktion eines Selbstobjekts
- Zum therapeutischen Umgang mit Affekten
- Wahrnehmung und Differenzierung von Gefühlen
- Ausdruck von Gefühlen
- Affekte und situativer Kontext
- Zum therapeutischen Umgang mit nichtsprachlichem Verhalten
Der »Austausch von Worten« in einem therapeutischen Dialog
Besondere therapeutische Probleme
- Der Fokus: Richtschnur therapeutischen Handelns
- Psychotherapie von Patienten mit strukturellen Störungen als »Landgewinnung«
- Zum Umgang mit Träumen
- Initiative zum Gesprächsbeginn
- Zum Umgang mit Schweigen
- Affektives und impulsives Verhalten
- Negative Übertragungen
- Suizidalität
- Zeitliche Begrenzungen
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Öffentlich und privat: ein historischer Exkurs
Subjektives Erleben und interpersonelle Beziehungen
Interaktion in der therapeutischen Gruppe
- Definition der Situation
- Sanktionen
- Soziale Normen und Regeln interpersonellen Verhaltens
- Interaktionsmuster
Besondere Fragen bei der Vorbereitung des Patienten auf die Gruppentherapie
- Zeitlicher Rahmen und Vorgespräch
- Der Nutzen von Gruppentherapie
- Die Grundregel für die therapeutische Arbeit in der Gruppe
- Unzensiertes Äußern
- Belastbarkeitsgrenzen
- Verpflichtung zur Verschwiegenheit
Funktionen des Therapeuten in der Gruppe
Funktionen im Prozess des Aushandelns normativer Regulierungen
- Erläuterungen zur Regulierung interpersoneller Beziehungen
Das Gespräch in der Gruppentherapie
- Der »Austausch von Worten« in der Gruppe
Wiederkehrende Themen in der Gruppentherapie
Indikation und Kontraindikation
Spezielle Probleme während der Gruppentherapie
- Gefährdung des Rahmens
- Fehlen von Gruppenteilnehmern
- Zeitliche Festlegungen
- Impulsives und antisoziales Verhalten
- Sexuelle und Liebesbeziehungen zwischen Gruppenteilnehmern
- Normen in der Gruppe, die Entwicklung behindern
- Außenseiter in der Gruppe
- Schwierige Themen
- Häufiger Wechsel der Gruppenteilnehmer im stationären Rahmen
Co-Therapie
8. Mikrointeraktion und videogestützte Supervision
Anhang: Materialien für den klinischen Gebrauch
Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation
1 Objektbeziehungen
2 Regulierung des Selbsterlebens
3 Über-Ich und Ich-Ideal
4 Abwehrfunktionen
5 Realitätsprüfung
6 Steuerung und Kontrolle von Affekten und Impulsen
7 Funktionen des Urteilens
8 Regression im Dienste des Ich
9 Reizschwelle
10 Sprache und Kommunikation
Schwerpunkte in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie
1 Thema
2 Situationsdefinitionen
3 Normen
4 Geäußerte Gefühle
5 Beziehungen
6 Psychische Fähigkeiten
7 Gefühle und Affekte bei der Beobachtung
8 Interventionen des Therapeuten
Fortbildungsmöglichkeiten
Literatur
Register
***
1. Einleitung
Wenige Tage nachdem ich meine erste Stelle als Medizinalassistent in der Psychiatrie angetreten hatte, wurde in der Mittagszeit, als ich allein mit einem Pfleger auf der Station war, ein großer, kräftiger Mann in angespanntem und erregtem Zustand von zwei Polizisten auf die Station gebracht. Nachdem die Polizisten berichtet hatten, dass der Mann in einem öffentlichen Gebäude randaliert habe und verwirrt erschienen war, verließen sie die Station, und ich war mit dem Patienten, der unruhig auf und ab lief und gelegentlich laut schimpfte, allein im Untersuchungszimmer. Ich wollte ein Gespräch anfangen und versuchen, den Zustand des Mannes zu verstehen. Der schien mich nicht zu beachten und schimpfte weiter vor sich hin, um sich plötzlich in drohender Pose vor mir aufzubauen. Als ich merkte, in welcher Lage ich war, packte mich heftige Angst. In diesem Moment kam der Pfleger, der schon viele Jahre in der Psychiatrie tätig war, in das Untersuchungszimmer, ging auf den immer noch verwirrt erscheinenden Patienten zu, deutete auf einen Stuhl und sagte in ruhigem, aber entschiedenem Ton: »Setzen Sie sich bitte dort hin.« Einen kurzen, aber spannungsreichen Moment lang zögerte der Patient. Dann setzte er sich zu meiner Verwunderung auf den Stuhl, den der Pfleger ihm angewiesen hatte.
Diese Szene, die sich vor mehr als 30 Jahren ereignet hat, ist mir bis heute fotografisch genau im Gedächtnis geblieben. Es war offensichtlich, dass es dem Pfleger weder mit irgendeinem instrumentellen Verhalten noch mit Hilfe irgendwelcher technischen Mittel gelungen war, die Situation zu entschärfen, sondern dass er die Situation genau erfasst und sich sensibel auf den Patienten abgestimmt hatte.
Jahre später, als mich die Bedeutung von nichtsprachlichem Verhalten in der therapeutischen Arbeit mit Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen zu beschäftigen begann, wurde mir die Bedeutung eines weiteren, scheinbar nebensächlichen Details dieser Szene deutlich: der Umstand, dass der Pfleger, während er den Patienten aufgefordert hatte, sich hinzusetzen, sich nicht etwa vor ihn hingestellt hatte, sondern im Gegenteil zur Seite getreten war, so dass aus der Sicht des Patienten der Weg zur Tür des Untersuchungszimmers frei war und er, wenn er gewollt hätte, ohne Schwierigkeiten aus dem Raum hätte herauslaufen können. In der weiteren Zusammenarbeit mit diesem Pfleger lernte ich dessen Erfahrungen im Umgang mit schwierigen Menschen zu schätzen, die er mir allerdings nie mit Worten vermittelte, sondern über die ich viel erfuhr, indem ich meinerseits möglichst genau zu erfassen versuchte, was zwischen den Patienten und ihm geschah. Hätte ich ihn gefragt, weshalb er sich in der Szene im Untersuchungszimmer mit dem Patienten so verhalten hat, wie er das getan hat, hätte er mir über den allgemeinen Hinweis auf seine Erfahrungen hinaus vermutlich keine plausiblen Gründe dafür nennen können.
Aus heutiger Sicht würde man die Störung des Patienten am ehesten als eine Achse I- und Achse II-Störung in Komorbidität klassifizieren. Wäre eine derartige Diagnose in der damaligen Situation aber in irgendeiner Weise nützlich gewesen? Sicherlich nicht. Die Beobachtung, dass der Pfleger dem Patienten zugewandt, aber unmissverständlich Grenzen gesetzt hatte, ohne ihn zu bedrohen oder zu überwältigen, und dass er dem Patienten mit seinem nichtsprachlichen Verhalten, seinem Zur-Seite-Treten, gezeigt hatte, dass er die Situation in Grenzen mit gestalten kann, haben mich mehr darüber gelehrt, wie eine förderliche therapeutische Situation geschaffen werden kann und in welchem Maße dazu die jeweils aktuellen Umstände erfasst werden müssen, als alles diagnostisch-klassifikatorische Wissen das jemals vermocht hätte.
Von der Beobachtung dieser Szene zwischen dem Pfleger und dem Patienten hat meine Überzeugung ihren Ausgang genommen, die sich in den folgenden Jahrzehnten meiner klinischen Arbeit vielfach bestätigt hat, dass Psychotherapie nicht darin besteht, bestimmte Behandlungsmethoden an einem Patienten, dessen Störung zuvor diagnostiziert wurde, anzuwenden, sondern dass psychotherapeutisch zu arbeiten heißt, sich mit seinem Patienten auf einen fortlaufenden Prozess entwicklungsförderlicher Kommunikation und Interaktion reflektiert einzulassen.
Was Freud von der psychoanalytischen Behandlung gesagt hatte, dass sie nämlich »ein Gespräch« sei, in dem nichts anderes vorgehe als ein »Austausch von Worten«, gilt auch für psychotherapeutische Methoden, die von der Psychoanalyse abgeleitet wurden, auch sie sind »ein Gespräch«, »Austausch von Worten«. »Das Gespräch, in dem die psychoanalytische Behandlung besteht« (Freud 1916/17, S. 43), ist aber nicht das gleiche wie das Gespräch, das Patient und Psychotherapeut miteinander führen, wenn es um eine psychoanalytisch orientiert genannte Behandlung geht oder um eine Fokaltherapie, und noch einmal anders sprechen beide in einer psychoanalytisch-interaktionellen Therapie miteinander. Demnach unterscheiden sich psychotherapeutische Methoden darin, wie Patient und Therapeut ihre Interaktion und ihren »Austausch von Worten« im Kontext ihrer Interaktion gestalten und welche Mittel sie dazu verwenden. Indem beide sich hier wie dort auf unterschiedliche Praktiken stützen und andere Wege einschlagen, wenn sie miteinander reden, gestalten sie auch ihre Beziehung, die therapeutische Beziehung, hier anders als dort.
Wenn dargestellt werden soll, worin sich verschiedene psychotherapeutische Methoden voneinander unterscheiden, geschieht das meist unter Verweis auf Merkmale des Behandlungssettings oder der therapeutischen Technik, etwa auf die Dauer der Behandlung, die Stundenfrequenz oder auf Aspekte, die die Handhabung der Übertragung betreffen oder den Umgang mit Deutungen. Wenn Psychotherapie aber ein Gespräch ist, dann ist zu erwarten, dass sich methodische und behandlungstechnische Unterschiede zunächst einmal in Eigentümlichkeiten des therapeutischen Gesprächs, des Austausches von Worten konkretisieren und damit auch in der therapeutischen Beziehung, die Patient und Psychotherapeut gestalten, indem sie miteinander kommunizieren.
Wenn Psychotherapeuten über ihre Arbeit sprechen, erwähnen sie jedoch eher selten, wie genau das Gespräch mit dem Patienten verlaufen ist und wie beide ihren Austausch von Worten gestaltet haben. Eher sagen sie beispielsweise, dass sie in der therapeutischen Arbeit mit einem Patienten »die Entwicklung einer positiven Übertragung gefördert«, einen »sicheren Bindungskontext aufgebaut«, das »Spielen mit der inneren und äußeren Realität angeregt« oder »neue Systemregeln gefunden« haben. Tatsächlich lassen solche Beschreibungen therapeutischen Handelns aber nicht erkennen, wie sie dabei miteinander geredet und wie sie sich zueinander verhalten haben. Denn wie genau ihr Austausch ausgesehen hat und wie beide das kommunikative Geschehen im Behandlungszimmer gestaltet haben, so dass in der Folge »die Übertragung positiver«, »der Bindungskontext sicherer« oder der »Umgang mit Realität spielerischer« geworden sind, und aus welchen Merkmalen ihres Gesprächs auf solche Veränderungen geschlossen werden kann, lässt sich daraus nicht ablesen. Wie aber anders als durch das Gespräch, durch den »Austausch von Worten« zwischen Patient und Therapeut, sollte das alles geschehen sein, wie anders als durch die Art und Weise, wie sie das getan haben, und nicht allein durch die Inhalte, über die sie gesprochen haben? Denn Übertragungen zu fördern, Beziehungskontexte aufzubauen, Spielen mit der Realität anzuregen oder Systemregeln zu finden, ist kein instrumentelles Verhalten, sondern muss sich notwendigerweise über das Gespräch zwischen Patient und Therapeut vermittelt haben, über ihr kommunikatives Handeln.
Die Aussage, dass Psychotherapie die Anwendung einer Behandlungsmethode am Patienten sei, ist in hohem Maße abstrakt. Was auch immer der Patient fühlt und denkt und was auch immer der Psychotherapeut beabsichtigt, muss durch das Nadelöhr ihrer Kommunikation hindurch, um den jeweils Anderen zu erreichen. Übertragung und Gegenübertragung, Abwehr und Widerstand, szenische Darstellungen und Enactments, Schweigen und Interpretationen sind kommunikative Ereignisse. Austausch von Worten ist aber nicht nur Verständigung über Sachverhalte, auf die die Worte Bezug nehmen, sondern ist ein Wirklichkeit konstituierender Prozess, nicht Anwendung einer Methode, sondern aufeinander bezogenes, sinnhaftes soziales Handeln.
So sind Unterschiede zwischen psychotherapeutischen Methoden immer Unterschiede der therapeutischen Interaktion. Mehr noch werden methodische Differenzen erst durch die unterschiedlichen Mittel und Wege der Kommunikation zwischen Patient und Psychotherapeut Realität. Welche Patienten mit welchen Störungen von welcher Therapie profitieren, Fragen der Indikation und Differentialindikation, sind deshalb - auch wenn das nicht ausdrücklich kenntlich gemacht wird - immer Fragen danach, wie das therapeutische Gespräch geführt und der »Austausch von Worten« gestaltet werden muss, um bei diesem bestimmten Patienten kurative Wirkung haben zu können. Wenn Psychotherapeuten über ihre Tätigkeit sprechen, beziehen sie sich aber häufig auf konzeptuelle und theoretische Begriffe, abstrahieren von dem konkreten kommunikativen Geschehen und geben nicht zu erkennen, wie sie das Gespräch mit dem Patienten, in dem sich ihre jeweilige therapeutische Methode realisiert hat, tatsächlich geführt haben.
Im Folgenden soll deshalb nicht zuerst eine Behandlungsmethode dargestellt werden, sondern im Vordergrund stehen Gesichtspunkte, die die praktische Gestaltung des therapeutischen Gesprächs und der therapeutischen Beziehung bei der Behandlung von Patienten mit strukturellen Störungen betreffen sowie die kontextuellen Voraussetzungen, die dafür erfüllt sein müssen. Auch wenn dabei immer wieder von der psychoanalytisch-interaktionellen Methode die Rede sein wird, sollen methodische Aspekte doch nicht im Vordergrund stehen. Die Vorstellung, ein guter Psychotherapeut wende bei der Behandlung schwer strukturell beeinträchtigter und komplex gestörter Patienten bestimmte Methoden regelkonform an, ähnelt eher einem von einem traditionellen medizinischen Modell therapeutischen Handelns dominierten Zerrbild von Psychotherapie. Erfahrungen mit der Behandlung strukturell gestörter Patienten sprechen in diesem Zusammenhang eine deutliche Sprache: Methodenkonforme Psychotherapie ist mit strukturell beeinträchtigten Patienten oft nur um den Preis möglich, dass ein sehr großer Anteil von ihnen von der Behandlung ausgeschlossen wird und nur jene Patienten in eine methodenkonform durchgeführte Therapie aufgenommen werden, die zu deren Voraussetzungen »passen«. Psychotherapie mit Patienten mit schweren strukturellen Störungen ist - anders ausgedrückt - nicht in der Weise zu realisieren, dass ein Psychotherapeut aus einem Arsenal von Methoden, über das er verfügt, die jeweils für die bestimmte Störung eines Patienten geeignete herauszieht und bei dem Patienten anwendet. Der Psychotherapeut kann sich, wenn er die Patienten wirklich erreichen will, nicht methodenkonform verhalten, er steht vielmehr ständig vor der Aufgabe, sich in jeder Phase der therapeutischen Arbeit an die individuellen Bedingungen und Voraussetzungen bei seinem Patienten anzupassen und kommunikative Mittel und Wege zu finden, die in einen hilfreichen und entwicklungsförderlichen therapeutischen Austausch münden. Darum sollen interaktive und kommunikative Aspekte, die als vorrangig für die therapeutische Arbeit mit strukturell gestörten Patienten aufgefasst werden, im Folgenden im Vordergrund stehen. Dem liegt nicht zuletzt auch die Überzeugung zugrunde, dass das soziale Leben, das Zusammenleben mit Anderen, ein für das bewusste und unbewusste seelische Erleben grundlegender Erfahrungsbereich ist und dass die meist gravierenden Beeinträchtigungen in Beziehungen zu Anderen von entscheidender Bedeutung für die seelischen und interpersonellen Probleme von Patienten mit strukturellen Störungen sind. Die therapeutische Arbeit mit Patienten mit schweren strukturellen Störungen sollte in besonderem Maße auf die Beziehungsstörungen - und das heißt immer auch: auf die kommunikativen Störungen - ausgerichtet sein.
Ulrich Streeck, Prof. Dr. med. habil., M. A., Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Arzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist ...
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