Alte Bäume wachsen noch

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Muss man sich im Alter alles gefallen lassen?

- Die positiven Seiten des Alters realisieren und für sich nutzen
- Auch im Alter ein selbstbestimmtes Leben führen
- Das eigene Altern aus der Sicht einer erfolgreichen Psychologin
Marlis Pörtner ist 76 und Psychologin. Eines Tages merkt sie: Ich bin alt. Zuerst sind es scheinbar belanglose Kleinigkeiten, dann wird es ihr immer stärker bewusst: Nun gehöre ich auch dazu. Was ändert sich für sie im Alter und wie geht sie damit um? Sie erzählt, dass sie manchmal unduldsam und dünnhäutig wird, andererseits neue Energien in sich spürt und neue Perspektiven entdeckt. Ein realistischer Blick auf die Schatten, aber auch die bereichernden Aspekte des Alters.
Leseprobe
Vorspann

Im Alter geht es nur noch bergab. Veränderungen bringen nichts Gutes, im Gegenteil, sie beschleunigen den Abbau. Für alte Menschen ist es das Beste, wenn alles so bleibt, wie es ist, und in den immer gleichen Bahnen verläuft. So die gängige Meinung.
Die Realität ist: Obwohl es uns mit zunehmendem Alter immer schwerer fällt, müssen wir uns gerade jetzt - ob wir wollen oder nicht - mit vielen Veränderungen auseinandersetzen, inneren wie äußeren. Vertraute Menschen sterben, die Welt rundherum verändert sich, im Großen ebenso wie in kleinen Dingen des Alltags. Der Laden, in dem wir seit Jahren eingekauft haben, musste seine Pforten schließen, das nette kleine Lokal, wo wir uns gerne mit Freunden trafen, ist einem Schnellimbiss gewichen, das Postamt in der Nähe wurde aufgehoben, die Zeitung, die wir jahrelang gelesen haben, erscheint nicht mehr ... und so weiter und so fort.
Auch der Körper ist nicht mehr das, was er war. Im Spie­gel blickt uns eine alte Frau, ein alter Mann entgegen, und wir fragen uns manchmal erschrocken: Bin das wirklich ich? Die Sehkraft nimmt ab, das Gehör wird schlechter, manches, was wir früher problemlos nebenher erledigt haben, schaffen wir nur noch mit Mühe. Selbst diejenigen, die das Glück haben, von schweren Krankheiten verschont zu sein, müssen sich mit allerlei altersbedingten gesundheitlichen Problemen herumschlagen. Das alles ist unangenehm, zeitraubend und mühsam, man könnte sich unentwegt darüber ärgern oder grämen und dem, was früher war, nachtrauern.
Man kann es auch anders sehen: Veränderungen fordern uns heraus, beleben uns, rufen schlummernde Kräfte wach und erweitern den Horizont. Veränderungen, selbst unliebsame, bringen uns weiter - wenn wir bereit sind, uns mit wachen Sinnen auf sie einzulassen.
Für alles, was er im Alter verliere, gewinne er etwas hin­zu, erklärte kürzlich der siebzigjährige Regisseur Peter Stein in einem Radio-Interview. Noch sind solche Stimmen selten, aber es werden ihrer mehr. Sie zeigen, dass die - nicht zu bestreitenden - Beschwerden und Beeinträchtigungen des Alters nur die eine Seite der Medaille sind. Wenn wir unseren Blickwinkel ändern, werden wir auch ihre andere Seite entdecken und die späten Jahre als Chance begreifen können. Den Blickwinkel ändern heißt nicht: wegschauen, sondern im Gegenteil: genauer hinschauen, das Auge weiter schweifen lassen, um verschiedene Seiten altersbedingter Veränderungen wahrzunehmen, die schmerzlichen und die hoffnungsvollen. Dann erkennen wir, dass dieser Lebensabschnitt nicht nur Verlust mit sich bringt, sondern auch überraschende Entwicklungsmöglichkeiten bereithält. Den Blickwinkel ändern heißt nicht, die Beschwernisse und Unannehmlichkeiten des Alters und die damit verbundenen Gefühle verdrängen, sondern ihnen ins Auge sehen, sie annehmen und versuchen, so gut wie möglich mit ihnen zu leben.
Drei Eigenschaften - oder sollte ich besser sagen Tugenden? - erweisen sich als besonders hilfreich, ja unverzichtbar, um sich die Lebensfreude zu erhalten und die späten Jahre - trotz und mit ihren Einschränkungen - als eine zufriedene und erfüllte Zeit zu erleben: Achtsamkeit, Flexibilität und Versöhnlichkeit.
Achtsamkeit ist eine buddhistische Tugend, die wir schon in jüngeren Jahren gut gebrauchen könnten. Im Alter wird sie geradezu unentbehrlich, um trotz mancherlei Beschwerden den Alltag gut bewältigen zu können. Höchste Zeit also, sie sich anzueignen: Achtsamkeit nach innen, auf unsere momentane Befindlichkeit, auf Schwachstellen, die sich heute besonders bemerkbar machen und beachtet werden müssen, auf Bedürfnisse, denen wir Raum geben sollten. Achtsamkeit nach außen, auf das, was auf dem Weg liegt: Da ist eine Stufe kaum zu sehen, dort lauert eine Unebenheit - lauter Stolpersteine, die man in jüngeren Jahren gar nicht bemerkt, weil sie noch keine Bedeutung haben.
Man wird dünnhäutiger im Alter - im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Die Haut wird tatsächlich dünner. Barfuß gehen, zum Beispiel, kann zur Qual, werden, weil die geringfügigsten Unebenheiten, die winzigsten Steinchen schmerzhaft zu spüren sind. Man braucht nur irgendwo leicht anzustoßen - schon reißt die Haut auf oder es bilden sich blaue Flecken. Im übertragenen Sinn: Man wird hellhöriger für Unausgesprochenes, bekommt ein feineres Gespür für unterschwellige Spannungen, nimmt subtile Unfreundlichkeiten deutlicher wahr, reagiert empfindlicher auf Rücksichtslosigkeiten. Auf der anderen Seite kann eine kleine (oft im Grunde ganz selbstverständliche) freundliche Geste oder Aufmerksamkeit zutiefst beglücken, ja schnell einmal zu Tränen rühren.
Diese erhöhte Sensibilität haben wir im Alter dringend nötig, weil sie uns hilft, so manche Klippe zu umgehen. Wir sollten uns ihrer nicht schämen, sondern sie ernst nehmen und uns von ihr leiten lassen.
Flexibilität brauchen wir, um auf das, was wir achtsam wahrnehmen, angemessen zu reagieren: also nicht um jeden Preis das vorgesehene Programm durchziehen, sondern die momentane Befindlichkeit berücksichtigen und Aktivitäten entsprechend anpassen. Zum Beispiel die morgendlichen Übungen weglassen, wenn ich merke: heute bin ich nicht so recht in Schuss; essen, wenn ich Hunger habe; schlafen, wenn ich müde bin - obwohl es im Tagesablauf vielleicht anders vorgesehen war. Auf den Rhythmus des eigenen Körpers zu achten und ihm zu folgen ist eine unschätzbare Kraftquelle, die wir nutzen sollten, wann immer es möglich ist. Natürlich geht das nicht immer, aber es geht öfter, als wir meinen. Sicher werden wir oft durch reale Gegebenheiten daran gehindert, doch mindestens ebenso oft sind es die Vorstellungen in unseren Köpfen, die uns im Wege stehen. Jüngere Menschen können ihre Befindlichkeit eher einmal außer Acht lassen, weil sie mehr Reserven haben und sich schneller regenerieren. Doch auch in früheren Jahren ist das nur bis zu einem gewissen Grad möglich, will man nicht Raubbau mit seiner Gesundheit treiben. Den können wir uns im Alter definitiv nicht mehr leisten. Wir müssen sorgsam mit unseren Kräften umgehen und sie sinnvoll einsetzen, damit sie uns möglichst lange erhalten bleiben, das heißt, wir müssen auf wechselnde Situationen flexibel reagieren können. Das Dilemma ist: Wir brauchen Flexibilität jetzt notwendiger denn je und zugleich fällt sie uns mit zunehmendem Alter immer schwerer. Wir sind körperlich nicht mehr so beweglich und neigen dazu, auch in der geistigen Beweglichkeit nachzulassen. Wir halten am Gewohnten fest, selbst wenn es unserer Befindlichkeit nicht angemessen ist. Dagegen müssen wir etwas tun.
Nicht dass Gewohnheiten grundsätzlich schlecht wären. Wir brauchen Gewohnheiten, sie erleichtern manches und geben uns Sicherheit - aber sie müssen einen Sinn haben und unseren Bedürfnissen entsprechen. Und die ändern sich im Lauf des Lebens. Deshalb müssen wir immer wieder mal das eine oder andere bisher Gewohnte aufgeben und etwas anderes an seine Stelle setzen. Dieses andere zu finden ist nicht immer leicht, doch zugleich eine spannende und beglückende Erfahrung.
Flexibilität schafft ein Gegengewicht zur abnehmenden Beweglichkeit unserer Glieder (gegen die sich übrigens ebenfalls einiges tun ließe). Ob es uns gefällt oder nicht: Die vielfältigen inneren und äußeren Veränderungen, denen wir in diesem Lebensabschnitt ausgesetzt sind, rufen nach immer neuen Anpassungsleistungen. Einfallsreichtum ist gefragt, um Lösungen zu finden, mit denen wir uns wohl fühlen. Flexibel sein bedeutet nicht, sich verbiegen zu müssen, im Gegenteil. Wohlbefinden und Zufriedenheit sind nur möglich, wenn man zu sich steht. Und wo das nicht mehr in derselben Weise möglich ist wie bisher, müssen neue Wege gefunden werden, um sie sich zu verschaffen. Flexibilität ist die Fähigkeit, sich zu verändern und sich dabei selber treu zu bleiben.
Versöhnlichkeit ist vielleicht das wichtigste von allem: Versöhnlichkeit gegenüber anderen, gegenüber dem Leben - und gegenüber sich selber. Nichts vergällt die späten Jahre mehr als verbittertes Hadern. Es schadet der Seele, in Unversöhnlichkeit zu verharren gegenüber Menschen, die uns enttäuscht oder - vielleicht nicht einmal absichtlich - verletzt haben; zu hadern mit dem Schicksal, das es nicht immer gut gemeint hat; nicht hinwegzukommen über die eigenen Unzulänglichkeiten, Fehler und das eigene Versagen. Gewiss, Versöhnlichkeit wäre schon früher wünschenswert, doch wenn der Schmerz noch zu frisch ist, die Wut noch zu heftig, die Enttäuschung noch zu bitter, kann Versöhnlichkeit nur schwer gelingen. Es braucht Zeit, bis Schmerz, Zorn und Enttäuschung durchlebt sind und abklingen. Erst dann wird es möglich sich auszusöhnen. Das ist eine der großen Chancen, die uns die späten Lebensjahre bieten. Versöhnlichkeit bedeutet nicht, Personen oder Ereignisse im Nachhinein zu beschönigen oder gar zu verklären. Eine wirkliche Aussöhnung mit dem Geschehenen, kann nur gelingen, wenn wir dem, was war, ins Auge sehen, so wie es war. Verklärung erschwert die Aussöhnung. Versöhnlichkeit heißt, das Geschehene annehmen und sich sagen können: So war es nun einmal, es war zwar nicht schön, aber jetzt kann ich es gut sein lassen.
Versöhnlichkeit bedeutet auch erkennen, dass man selber nicht immer alles richtig gemacht hat, die damit verbundenen Gefühle wie Enttäuschung, Trauer, Scham, Bedauern zulassen und sich schließlich verzeihen können. Dann fällt es nicht mehr so schwer, auch anderen zu verzeihen. Und: Schicksalsschläge werden nicht erträglicher, wenn man nicht aufhört, sich darüber zu grämen. Doch wenn etwas bedroht ist, das uns jetzt wirklich noch am Herzen liegt, müssen wir notfalls bereit sein, dafür zu kämpfen. Es nicht zu tun, hieße sich aufgeben und selber zum alten Eisen werfen.
Eine radikale Veränderung meiner Lebensumstände, die mir zunächst alles andere als erwünscht war, hat mir die Au­gen geöffnet für unverhoffte Entwicklungsmöglichkeiten, welche die späten Lebensjahre bereithalten. Meine Alltagsgewohnheiten umkrempeln zu müssen entpuppte sich als spannendes Abenteuer, das ungeahnte Energien freigesetzt, mir entscheidende Einsichten ermöglicht und neue Perspektiven aufgezeigt hat.
Die Schilderung der Höhen und Tiefen dieses Erfahrungs­prozesses und der Gedanken, die er ausgelöst hat, soll die »Schrecken des Alters« etwas relativieren, diesbezügliche Ängste mildern und andere ermutigen, über die negativen Aspekte des Altseins hinauszublicken und möglichst frühzeitig Ausschau zu halten nach den Chancen ihrer späten Lebensjahre, damit sie ihnen zuversichtlicher entgegensehen können.
»Nein ... nur das nicht! Doch nicht jetzt schon ...«, dachte ich voller Entsetzen, als ich vor zwei Jahren mit der Idee konfrontiert wurde, das Haus, in dem ich seit sechzehn Jahren wohnte, in absehbarer Zeit an die nächste Generation weiterzugeben. »Nur nicht umziehen ... auf gar keinen Fall!« Hatte ich nicht damals, als ich einzog, verkündet, das sei mein letzter Umzug gewesen, und - wie viele andere in ähnlicher Situation - die dumme Redensart hinzugefügt: »Hier bringt man mich nicht mehr weg - es sei denn mit den Füßen voran«?
Zuvor hatte ich dreizehn Jahre lang im Haus gleich nebenan gewohnt, anfänglich noch mit meinen heranwachsenden Kindern. Nachdem beide ausgezogen waren, wurde es für mich allein zu groß. Es war ein Glücksfall, dass unerwartet das kleine Nachbarhaus frei wurde, weil dessen Bewohner, ein älteres Ehepaar, beabsichtigten, in eine Alterswohnung zu ziehen. Es fiel Frau K. nicht leicht, das Haus zu verlassen, in dem sie geboren und aufgewachsen war und fast ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Doch sie seien beide nicht mehr so gesund, es werde ihnen zuviel, die Treppen, der Garten ... Sie führte mich durchs Haus, das mit dunklen Möbeln voll gestellt war und einen düsteren, verwohnten Eindruck machte. Es würde einer umfassenden Renovierung bedürfen, damit ich darin wohnen, arbeiten und mich wohlfühlen konnte.
Doch ich liebte es auf den ersten Blick. Es war wie für mich geschaffen, hatte genau die richtigen Maße zum Woh­nen und Arbeiten. Dass es sanierungsbedürftig war, bot den Vorteil, dass ich nochmals einen Ort ganz nach meinen Vorstellungen einrichten und für die folgenden Jahre gestalten konnte. Dass ich dabei in der vertraut gewordenen Nachbarschaft bleiben konnte, war ein zusätzlicher und sehr bedeutender Vorteil. Von Anfang an hatte ich das Gefühl: Das ist mein Haus, mein Zuhause. Hier würde ich nicht mehr weggehen, es sei denn ... die dumme Redensart eben.
Und jetzt das. Alles in mir sträubte sich dagegen. Sicher, es war von jeher ausgemacht, dass mein Sohn das Haus eines Tages übernehmen würde. Irgendwann einmal ... später ... nach meiner Zeit ... aber doch nicht jetzt, nicht schon so bald. Sicher, gelegentlich hatte ich schon mit dem Gedanken gespielt: »Alles auf einer Etage, das wäre doch ganz schön, nicht ständig treppauf, treppab, keinen Garten mehr, ein Balkon genügt doch, den Alltag vereinfachen, mehr Zeit haben für das Wesentliche ...« Konkret wurden solche Überlegungen nie, zu offensichtlich waren die Vorteile des eige­nen Hauses - auch finanziell. Obwohl längst im Rentenalter, war ich nach wie vor beruflich engagiert (und bin es noch). Ich war zur Genüge ausgelastet, der Alltag sollte bequem und unkompliziert ablaufen. Umziehen müssen - das war eine Horrorvorstellung. Nun ja, irgendwann musste es ja vielleicht sein, später... aber doch nicht schon demnächst. Zu vieles hatte ich noch auf den Weg zu bringen in der mir verbleibenden Zeit. Das beanspruchte meine Energie voll und ganz. Ein Umzug kam nicht in Frage. Vielleicht später einmal ... vielleicht.
Dann begann ich nachzudenken: Was hieß denn später?
Wann war das? In wie vielen Jahren? Und was bedeutete das für meinen Sohn und meine Schwiegertochter? Hatte dieses Haus in einer unbestimmten Zukunft für sie überhaupt noch einen Sinn? Sie waren Mitte dreißig und Anfang vierzig und fanden, es sei an der Zeit, irgendwo sesshaft zu werden. »Nach meiner Zeit« waren sie vielleicht bereits in einem Alter, in dem sie längst anderswo Wurzeln geschlagen und kein Interesse mehr an dem Haus haben würden. Schlagartig wurde mir bewusst: Ich musste umdenken.
Wer garantierte mir denn, dass ich wirklich bis zu meinem Lebensende in dem Haus wohnen bleiben konnte? Vielleicht würde es mir eines Tages doch zu viel werden, und dann musste ich , ob ich wollte oder nicht, anderswohin ziehen, vielleicht sogar ohne noch selber entscheiden zu können, wohin. Allmählich dämmerte mir: »Später« - das war jetzt . Jetzt war der richtige Zeitpunkt. Jetzt konnte ich die Veränderung noch selber in die Hand nehmen und nach meinen Wünschen gestalten. Diese Erkenntnis war ein Schock.
Wir müssen umdenken
Die demographische Entwicklung, von der so viel die Rede ist, kann nicht lediglich als »gesellschaftliches« Problem abgetan werden, für welches Lösungen zu finden Aufgabe der Experten ist. Sie hat ganz persönliche Konsequenzen für jeden einzelnen Menschen und erfordert von uns allen - ob jung oder alt - ein Umdenken in manchem, was seit Generationen als selbstverständlich ange­sehen wurde. Die bisher gebräuchliche Art und Weise des Generationenwechsels, zum Beispiel, hat sich überholt. Durch die lange Lebenserwartung wird eine vorgesehene Nachfolge häufig erst spruchreif, wenn es für die nächste Generation fast schon zu spät ist. Die Nachfolger sind dann manchmal schon selber im Pensionsalter oder stehen kurz davor. Wäre es nicht sinnvoller, Verantwortung oder Besitz der nächsten Generation zu einem früheren Zeitpunkt zu übergeben, nicht erst, wenn eigentlich fast schon die übernächste Generation im richtigen Alter dafür wäre? Tatsächlich gibt es in der Schweiz politische Vorstöße, die mit recht einleuchtenden Argumenten dafür plädieren, das Erbrecht zugunsten der Enkel abzuändern. Das sind bedenkenswerte Ideen, die den gewohnten Blickwinkel verändern.
Mein Leben war ausgefüllt mit dem, was ich tat, und manchem, was ich noch vorhatte oder was an mich herangetragen wurde. Ich war zufrieden, so wie es war. Ich brauchte keine Veränderung und wollte nicht aus den gewohnten Bahnen aufgescheucht werden. Es graute mir vor den Umtrieben, die ein Wechsel mit sich bringen würde: eine Wohnung suchen, den Umzug organisieren, räumen, aussortieren, packen müssen ... nein! Ich wollte nicht, dass mein gut eingespielter Alltag durcheinander gewirbelt wurde. Ich war nicht bereit für den Rückzug aufs »Altenteil« - ausrangiert und abgeschoben. Das musste wirklich nicht sein ... oder? Doch, es musste sein, und zwar bald. Es war sinnlos, mich dagegen zu sträuben und es weiter vor mir her zu schieben. Später würde es nicht leichter werden, im Gegenteil. Jetzt musste ich es anpacken, solange ich noch genügend Energie hatte und - wer weiß - einer Veränderung vielleicht auch noch positive Seiten abgewinnen konnte. Aber Rückzug aufs Altenteil, abgeschoben und ausrangiert - nein, das ganz bestimmt nicht. Ich begann, die Sache in die Hand zu nehmen.
Es war Sommer - die ruhigere Zeit des Jahres, in der es nicht so viele Verpflichtungen gibt. Diese Zeit wollte ich nutzen, denn im Herbst war der Terminkalender bereits wieder sehr voll. Ich hatte mir zwar für die Sommerwochen vorgenommen, so weit wie möglich mit der Rohübersetzung eines meiner Bücher zu kommen, die ich dem englischen Verlag Ende des Jahres abliefern sollte, doch in meiner Zeiteinteilung war ich frei. Ich begann mich nach Wohnungen umzusehen. Morgens beim Frühstück studierte ich die Anzeigen in der Zeitung, und am Computer durchforschte ich, bevor ich mich an die Arbeit machte, die entsprechenden Internetseiten. Rasch wurde klar: In Zürich und Umgebung waren Wohnungen zurzeit kaum zu bekommen oder unerschwinglich teuer. Ich musste andere Lösungen in Betracht ziehen. Meine Tochter war vor kurzem mit ihrer Familie nach acht Jahren Amerika in die Schweiz zurückgekehrt und wohnte jetzt in einem Dorf im Nachbarkanton, wo sie sich überraschend wohl fühlte. Im Scherz hatten wir schon mal mit dem Gedanken gespielt, wie es wäre, wenn ich auch dorthin ziehen würde. Doch ernst gemeint war das nicht. Mein Leben war in Zürich. Es gab keinen Grund, daran et­was zu ändern, sicher nicht in absehbarer Zeit. Vielleicht später einmal, wenn ich allein nicht mehr gut zurechtkommen würde ... irgendwann, in einer fernen Zukunft könnte es vielleicht eine Option sein ... vielleicht.
Jetzt war diese Option plötzlich sehr real und ernsthaft in Betracht zu ziehen. Wenn schon nicht mehr in Zürich, war es doch sinnvoll, in der Nähe meiner Tochter zu wohnen. Das hatte einiges für sich, weil dann manches einfacher wurde, nicht nur für mich, sondern auch für sie. Nicht weit von ihrem Dorf, und nur zwanzig Schnellzug-Minuten von Zürich entfernt, lag das Städtchen L. Dorthin hatte ich sogar eine lose Verbindung. Vor Jahren hatte ich einmal zufällig mit der dortigen Bank zu tun gehabt und war hängen geblieben, weil es dort - anders als bei den anonymen Großbanken in der Stadt - noch sehr persönlich zuging und Aufträge immer rasch und zuverlässig erledigt wurden. Herr R., der mit den lokalen Gegebenheiten bestens vertraut war, würde mir bestimmt mit Rat und Informationen behilflich sein.
Ich verlegte die Internetsuche auf den Nachbarkanton und entdeckte auf Anhieb ein verlockendes Angebot: eine Wohnung mit Dachterrasse, nicht weit vom Bahnhof L., der Preis durchaus im Rahmen. Ich ließ die Unterlagen kommen und vereinbarte einen Besichtigungstermin. Jetzt wurde es ernst. Ich studierte die Pläne und schob in Gedanken bereits Möbel hin und her, überlegte, wo ich mein Arbeitszimmer einrichten würde und wo das Gästebett hinkäme. Ich sah mich bereits in dieser Wohnung. Die Idee, noch einmal etwas Neues zu beginnen, mich auf ein anderes Umfeld einzulassen, zog mich allmählich in ihren Bann. Ich wurde neu­gierig auf das Abenteuer, das mir bevorstand.
Als meine Tochter zu Besuch kam, staunte sie nicht schlecht über die Neuigkeiten und über meine aufgeräumte Stimmung. Sie konnte es kaum fassen: »Du bist ja ganz verändert, erst eine Woche ist es her, da warst Du völlig verzweifelt und jetzt ... du bist nicht wiederzuerkennen.« Tatsächlich hatte sich meine Befindlichkeit gewandelt, seitdem mir klar geworden war: »Der Zeitpunkt ist jetzt.« Ich hing mit meinen Gedanken nicht mehr dem nach, was ich verlassen musste, sondern schaute nach vorn, gespannt auf das Unbekannte, das da auf mich zukam. Gewiss, es gab viele wehmütige Momente: wenn ich morgens aus dem Fenster sah, in den Garten mit den wuchernden Rosenbüschen, hinter denen der nahe Zürichsee hervorschimmerte, wenn ich meine gewohnten Wege ging, meinen Alltagsbedarf in den seit Jahren vertrauten Läden einkaufte, bei schönem Wetter morgens im See schwamm, im Vorübergehen ein paar Worte mit langjährigen Nachbarn wechselte - all die kleinen gewohnten Geschehnisse des Alltags waren überschattet von dem Wissen: bald wird es das letzte Mal sein. Mir war sehr bewusst, dass ich im Begriff war, etwas Kostbares aufzugeben: eingebettet sein in jahrelang Vertrautes und Liebgewordenes, ein Gefühl der Geborgenheit, das sich nicht so bald - vielleicht nie mehr - wieder einstellen würde. Es fiel mir nicht leicht und es machte mir Angst. Doch ich spürte auch, wie sich Raum auftat für Neues, noch kaum Erahnbares. Der Abschied tat weh - und zugleich war der Aufbruch in unbekanntes Neuland faszinierend und belebend. Vielleicht war es gar nicht so abwegig, den Wohnsitz zu wechseln.
Zürich, die Stadt in der ich geboren bin und, bis auf we­nige Jahre, fast mein ganzes Leben zugebracht habe, hatte sich in den letzten Jahren sehr verändert, war zur Party- und Eventstadt mutiert, hektisch und schrill, ständig war etwas los, herrschte Trubel und Gedränge. Zwar wusste ich es zu schätzen, dass die Stadt lebendiger und weltoffener geworden war als früher, doch inzwischen war der Bogen überspannt. Sie hatte - jedenfalls für mich - viel von ihrer Le­bensqualität eingebüßt. Auch in meinem Leben hatte sich manches verändert in den sechzehn Jahren seit meinem letzten Umzug. Damals hatte ich bereits zu schreiben begonnen, das Manuskript für mein erstes Buch lag fertig in der Schublade. Doch ein Verlag, der sich dafür interessiert hätte, war nicht in Sicht. Im Zentrum meiner Arbeit stand nach wie vor meine psychotherapeutische Praxis, für die ich mir im neuen Haus einen sehr angenehmen Raum eingerichtet hatte.
Dann - im Jahr nach meinem sechzigsten Geburtstag - wurde mein erstes Buch doch veröffentlicht. Das war eine Wende in meinem Leben, die ganz neue Perspektiven eröffnete. Manchmal schien es mir fast, als hätte ich eine neue Identität bekommen. Ich war jetzt Autorin. Bald schrieb ich ein zweites Buch, das einige Beachtung fand und mir Einladungen zu Vorträgen, Fortbildungen und Seminaren im In- und Ausland eintrug - spannende neue Herausforderungen, die mich zum Weiterdenken anregten, auf neue Ideen brachten und zum Schreiben weiterer Bücher veranlassten. All das wurde mehr und mehr zum Mittelpunkt meiner Arbeit. Ich entdeckte, wie viel Freude mir das Schreiben macht, und wunderte mich, dass ich nicht schon viel früher damit angefangen hatte.
Mit Büchern hatte ich schon immer zu tun gehabt. Vor meinem späten Psychologiestudium war ich - in einem anderen Leben, wie es mir jetzt erschien - viele Jahre für verschiedene Verlage tätig gewesen, hatte aus dem Englischen und Französischen übersetzt - Belletristik, Theaterstücke, Kinder- und Jugendbücher - und gelegentlich einzelne Lektorate übernommen. Auf die Idee, selber zu schreiben, kam ich nie, und wenn, zog sie höchstens wie eine flüchtige Wolke an mir vorbei, die gleich wieder verschwand. In meiner Familie war ich von Schreibenden umgeben: Mein Mann, später meine Tochter, dann mein Sohn - alle schrieben Bü­cher. Vielleicht hielt mich das unbewusst davon ab, es auch zu tun. Schreiben, das war für die anderen. Ich konnte Texte redigieren, Anregungen geben, mich in Denken, Empfinden und Sprachduktus anderer Autoren einfühlen und beim Übersetzen deutsche Formulierungen aufspüren, die diese bestmöglich wiedergaben - da war ich in meinem Element. Doch selber schreiben, nein, das konnte ich nicht. Allerdings - das hatte ich jahrelang vergessen und es fiel mir merkwürdigerweise erst wieder ein, nachdem mein erstes Buch erschienen war - hatten mir früher immer mal wieder verschiedene Leute nahe gelegt, ein Buch zu schreiben. Eine Verlegerin hatte mir einmal sogar symbolisch ein Zehnpfennigstück überreicht, um sich die Option auf mein erstes Buch zu sichern. Doch das alles war wohl eher scherzhaft gemeint, jedenfalls hatte ich es nie ernst genommen. Ich hätte auch gar nicht gewusst, worüber ich schreiben sollte. Dass ich etwas zu sagen habe und dass andere Menschen interessiert, was ich sage, habe ich erst spät im Leben entdeckt.
Die neuen beruflichen Herausforderungen und Verpflichtungen, die sich aus den Büchern ergeben: Einladungen zu Vorträgen, Seminaren und Fortbildungsveranstaltungen, sind häufig mit Reisen verbunden und machen mir viel Freude. Es ist spannend, durch meine Arbeit bisher unbekannte Orte kennen zu lernen und andere, die ich von früher kenne, auf ganz neue Weise zu erleben. Es ist ein schönes Gefühl, an so vielen Orten Menschen zu treffen, die von mir etwas erfahren und übernehmen möchten. Doch die Reiserei ist manchmal mühsam, kostet Zeit und Kraft, besonders wenn es an Orte geht, die nur auf Nebenstrecken und nach mehrmali­gem Umsteigen zu erreichen sind.
Nicht die Arbeit selber, aber manche Begleitumstände wurden mir zunehmend zur anstrengenden Belastung. Fast immer musste ich unter Zeitdruck reisen und fühlte mich gehetzt, denn die Arbeit in meiner Praxis erlaubte keine längeren Abwesenheiten. Das zehrte an meinen Kräften. Des­halb beschloss ich vor einiger Zeit - inzwischen hatte ich bereits den siebzigsten Geburtstag hinter mir - die Praxis auslaufen zu lassen und keine neuen Klienten mehr anzunehmen. So wichtig mir meine therapeutische Arbeit war: es gibt genügend andere, die das genauso gut können. Mein Schreiben hingegen und was ich in meinen Büchern und Seminaren vertrete, ist etwas ganz Eigenes, das ich selber am besten vermitteln kann und es tun sollte, solange ich noch kann. Nach und nach schlossen alle meine Klientinnen und Klienten ihre Therapien ab, bis auf einen jungen Mann mit geistiger Behinderung, der unbedingt weitermachen wollte. Wie viele seinesgleichen brauchte er die konstante Sicherheit des regelmäßigen Gesprächs, das, was ich in meinem Buch »Brücken bauen« 1 als »therapeutische Begleitung« bezeichne und wofür entsprechende Angebote leider bisher weitgehend fehlen. Ihn konnte ich jedoch, mit seinem Einverständnis, guten Gewissens an eine kompetente Kollegin weitervermitteln.
Ein gewichtiges Argument gegen den Wohnortwechsel war hinfällig geworden: Auf die Praxis brauchte ich keine Rücksicht mehr zu nehmen.
»Marlis Pörtner erzählt in ganz persönlichem Ton vom Heute und von den Erinnerungen, die sie mit bestimmten Orten verknüpft; von der natürlichen Rollenverschiebung, der Entlastung von Verantwortung und den kleinen Hilfestellungen der Jüngeren… Aus ihrem Umgang mit dem Alter zieht die Autorin ein erfreulich positives Resümee. Das macht Mut.«
Die Rheinpfalz, 26.2.2011

»Ein realistischer Blick auf die Schatten, aber auch die bereichernden Aspekte des Alters.«
EAfA Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Altenarbeit in der EKD, 09/2012
Klett-Cotta
4. Aufl. 2015, 170 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-608-94799-1
autor_portrait

Marlis Pörtner

Marlis Pörtner, geboren 1933 in Zürich, war Schauspielerin, jobbte als Sekretärin, arbeitete als Rundfunksprecherin, Übersetzerin von Belletristik, ...

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