Statt klarer Berufswege und stabiler privater Beziehungen dominiert heute der biografische Zickzackkurs. Frauen und Männer suchen eine neue Balance zwischen Partnerschaft, Job und Familie. Sie basteln am Projekt »gutesleben.de«. Niemand weiß so recht, was daraus wird. Man probiert einfach mal aus.
Kann ausgerechnet die digitale Wirtschaft die alte Vision vom »guten Leben« mit neuem Geist erfüllen? Der Vertrag der Industriegesellschaft mit den Arbeitsmännern ist aufgekündigt. Sind Frauen besser vorbereitet auf die Ökonomie des Wissens? Oder gibt doch den Ausschlag, daß Informatik ganz überwiegend Männersache ist?
Was wird aus den Familien in einer Zeit, in der die Erwerbsarbeit keine klaren Grenzen mehr kennt? Die klaren Zuordnungen der Geschlechter in Beruf und Privatem gelten nicht mehr. Frauen wollen nicht nur das Zubrot verdienen, Männer bei der Erziehung ihrer Kinder nicht mehr abseits stehen.
Die verschiedenen Anforderungen und Erwartungen abzustimmen ist ein täglicher Balanceakt. Weibliche wie männliche Artisten suchen das Gleichgewicht. Manchmal kommen sie dem Absturz gefährlich nahe, sie können aber auch zu gefeierten Künstlern werden. Sie lieben die Spannung, müssen jedoch auf Zerreißproben gefaßt sein: Ihr Sicherheitsnetz ist locker geknüpft, oft nur notdürftig geflickt. Hauptsache, das »gute Leben« rückt ein wenig näher.
Leseprobe
Inhalt
1 Vorwort
2 GutesLeben.de: Was virtuelle Welten mit verschissenen Windeln zu tun haben
Artistische Übungen. Nachhaltiges Arbeiten. Unpopuläre Verzichtsparolen.
Aufbruch in eine andere Arbeitswelt
3 Ende der Gründerzeit: Ernüchterung nach dem Internet-Hype
Information statt Gusseisen und Schweinebäuche. Beruf als Berufung. Instant-Unternehmer. Unteilbare Genialität?
4 Schlaflos im Schlafsack: Aufstieg und Fall der digitalen Helden
Rausch der Karriere. Leuchtende Flickenteppiche. Geplatzte Träume.
5 Heiße Jobs für coole Leute: Von Arbeitsnomaden und freien Lanzenträgern
Netzwerkbasar. Biografischer Zickzackkurs. Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Medienproletarier aller Sender.
6 Kollege Hipster unter Leidensdruck: Gewerkschaften und neue Unternehmenskulturen
Pulsmesser und Katalysatoren. Der fremde Tanker. Beratung für Mikrounternehmer. Pixels, hört die Signale.
Wandel im Verhältnis der Geschlechter
7 Ohne Ausbildung, ohne Job, ohne Liebe: Die Krise der wilden Kerle
Unter dem Sternenzelt. Angeschmierte Ernährer. Fit for fun, fit for job. Heldenreisen und Stammesriten. Idioten für alles?
8 Vom Chefsessel zum Ceranfeld: Der unentschlossene Aufstieg der Frauen
Raus aus der stillen Reserve. Geschlechterkonflikt am Arbeitsmarkt. Mutti-Kult.
9 Mittags kocht die Mama: Deutsche Sonderwege der Familienpolitik
Hilfe, die Deutschen sterben aus! Altbackene Vorschläge. Kinderbetreuung aus dem Takt. Von Schließfächern und Schlüsselkindern.
10 Gemischtes Tandem: Gender Mainstreaming und Geschlechterdemokratie
Gleichstellung in der Sackgasse. Uncoole Frauenförderung. Männer, ändert euch endlich!
11 E-Male: Der virtuelle Raum und das männliche Prinzip
Eindeutige Lösungen. Mit der Maus die Welt verändern. Renaissance des universalen Mannes? Produktiver Tunnelblick.
Vom guten Leben
12 Fröhliche Fron: Das sanfte Regiment der Spaßkultur
Indirekte Steuerung. Kreative Pausen erwünscht. Erneuere dich selbst! Arbeiten ohne Ende?
13 Immer erreichbar, alles verpasst: Wie Beruf und Freizeit verschwimmen
Kofferpacken aus Liebe. Familienfreundliche Ecken. Heimisches Tohuwabu. Leben ohne Territorium.
14 Improvisieren ohne Drehbuch: Spielräume für Väter
Ungeduldige Kritik. Du wirst Papa! Haustiere herzlich willkommen. Runter mit dem Zeigefinger.
15 Zwischen Arbeit und Liebe: Plädoyer für das gute Leben
Blick aus dem Käfig. Mozart statt Mineralöl. Leichtigkeit am Trapez.
16 Zum Weiterlesen
Danke.
Vorwort
Mitte der neunziger Jahre entwickelte ich zusammen mit Dieter Schnack das Konzept für unser gemeinsames Buch über "Männer zwischen Beruf und Familie". Wir spürten damals, dass sich etwas Grundsätzliches tat in der Gesellschaft, dass es so nicht weiter gehen konnte, dass ein Umbruch bevorstand. Eher unbeholfen und abtastend beschrieben wir die Veränderungen in der Arbeitswelt. Begriffe wie "Globalisierung" oder gar "Terror der Ökonomie" waren zu jener Zeit noch nicht in aller Munde. Manchmal unpräzise, manchmal durchaus mit dem richtigen Gespür versuchten wir auszuloten, wie sich der wachsende Druck der Wirtschaft auf die menschlichen Beziehungen auswirkt. Wir nahmen dabei speziell das Geschlechterverhältnis, den Alltag der Familien und die Rolle der Väter in den Blick.
Der Titel "Hauptsache Arbeit", unter dem das Buch 1996 in der ersten Auflage erschien, traf offenbar den Nerv der Zeit. Die Arbeitslosenzahlen kletterten Jahr für Jahr auf ungeahnte Rekordhöhen, im Januar 1998 meldete die offizielle Statistik fast fünf Millionen Menschen ohne Job. Unsicherheit prägte das Lebensgefühl der Menschen bis tief in die mittleren Schichten hinein. Wir spürten die Irritation der Leute, gerade der traditionellen "Arbeitsmänner", wie wir sie nannten, bei jeder Lesung, jedem Vortrag, jeder Podiumsdiskussion. Die These von der "Krise der Arbeit" entwickelte sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zum Dauerbrenner der öffentlichen Debatte, und wir konnten auf dieser Welle mit kräftigem Rückenwind mitsegeln.
Akademien und Parteiversammlungen, Kirchentage und Gewerkschaftskongresse setzten das Thema auch deshalb auf die Tagesordnung, weil nicht mehr nur Frauen und marginalisierte Randgruppen von Erwerbslosigkeit betroffen waren. Auch männliche Kernbelegschaften wurden in bisher unbekanntem Maße ausgedünnt oder komplett wegrationalisiert. Der Pakt der Industriegesellschaft mit den Arbeitsmännern schien aufgekündigt. Vor diesem Hintergrund proklamierten manche Wissenschaftler und Publizisten, in Anlehnung an eine Veröffentlichung des amerikanischen Autors Jeremy Rifkin, gleich das "Ende der Arbeit". Weniger im Unternehmer- und Gewerkschaftsmilieu, umso mehr in ökologisch orientierten und kirchlichen Kreisen kursierte die alternative Utopie einer "Tätigkeitsgesellschaft". Eines Gemeinwesens also, dass nicht mehr ausschließlich um die entlohnten Jobs kreist, sondern anderen Formen des Tätigseins einen neuen Stellenwert einräumt: der Hausarbeit, der Erziehungsarbeit, aber auch dem Ehrenamt, oder, wie es nun moderner hieß, der "Bürgerarbeit" oder dem "bürgerschaftlichen Engagement".
Im neuen Jahrtausend ist es um diese Diskussionen merkwürdig still geworden. Kurz nach dem Millennium erlebte die euphorisch als Hoffnungsschimmer gefeierte "Neue Ökonomie" einen steilen Aufschwung an den Aktienmärkten, der allerdings schon wenig später im Katzenjammer der eben noch bejubelten digitalen Helden endete. Erstmals seit dem Wirtschaftsboom nach der deutschen Vereinigung sanken zwischenzeitlich auch die Arbeitslosenzahlen - doch mit der nächsten Rezession ging es wieder bergauf. Am gesellschaftlichen Rand steht weiterhin eine wachsende Gruppe von langfristig Erwerbslosen - Menschen, die auf Dauer ohne Job und berufliche Perspektive bleiben, ohne dass dies jenseits von Sonntagsreden noch als politischer Skandal wahrgenommen wird. Ganz im Gegenteil: Es häufen sich die Stimmen, die wegen des Bevölkerungsrückgangs das baldige Ende der Arbeitsmarktprobleme prophezeien und von der Rückkehr zu Vollbeschäftigung und Normalarbeit schwärmen - eine trügerische Illusion.
Neben den kurzfristigen Hochs und Tiefs gibt es ein paar stabile Trends. So wächst der Anteil der berufstätigen Frauen und vor allem der berufstätigen Mütter. Junge Väter werden von ihren Partnerinnen mit Erwartungen an eine andere, engagierte Art von Elternschaft konfrontiert - und sind auch aus eigener Motivation bereit, diese zu erfüllen. Das Thema "Mann und Familie" ist, allen pessimistischen Unkenrufen zum Trotz, in den letzten Jahren deutlich voran gekommen. Immer mehr Frauen merken, dass sich nur wenig zu ihren Gunsten bewegt, wenn sie nicht mit veränderungsbereiten Männern zusammenarbeiten. Rhetorisch ist die Frauenfrage längst zum "Gender"-Problem erklärt worden: "Geschlechterdemokratie" heißt das postulierte Ziel, das aber mehr sein muss als nur ein neues Etikett.
Der gesellschaftliche Umbruch löst neben vielen Hoffnungen auch Ängste aus. Ausgerechnet die Digitalisierung soll die alte Emanzipationsidee vom "guten Leben" mit neuem Geist erfüllen? Ich verstehe die überstrapazierten Modewörter "Neue Ökonomie" und "Informationsgesellschaft" so, dass die derzeitigen Veränderungen nicht nur wirtschaftlicher oder technischer Natur sind. Sie schlagen sich auf vielfältige Weise in den Arbeitsbedingungen, in der Art der sozialen Kontakte und im Verhältnis der Geschlechter nieder. Den männlich geprägten, um bezahlte Tätigkeit kreisenden Lebensstil hat in der Vergangenheit nur eine Minderheit der Frauen praktiziert. Mit ihrem stärkeren Einstieg in die Welt der "ernsten Arbeit", wie sie Kurt Tucholsky einst ironisch nannte, befinden wir uns heute mehr denn je in einer Erwerbsgesellschaft.
Nicht nur die Arbeitsverhältnisse, auch die Liebesbeziehungen sind prekär und unsicher geworden. Die klaren Zuordnungen der Geschlechter in Beruf und Privatem lösen sich auf. Der Abbau von starren Rollenzuschreibungen und festen Beschäftigungsformen hat seinen Preis. Die flexible Abstimmung zwischen den verschiedensten Anforderungen und Erwartungen ist eine Gratwanderung, ein täglicher Balanceakt. Männer wie Frauen werden so zu Trapezkünstlern: Sie hängen scheinbar am Abgrund, können aber auch zu gefeierten Artisten werden. Sie lieben ihr spannendes Leben, müssen jedoch auf Zerreißproben gefasst sein, sich auf ein nur locker geknüpftes, manchmal notdürftig geflicktes Sicherheitsnetz verlassen.
Im schnellen Computer-Zeitalter sind Prognosen schwierig geworden. Ist mit dem Ende der vielbejubelten Gründerzeit auch der Informations-Kapitalismus schon vorbei, der doch gerade erst begonnen hat? Geht die Kultur der jungen Unternehmer, die eine eigenwillige Vermischung von Arbeit und Freizeit praktizieren, vollständig in den konventionellen Unternehmenskulturen der alten Ökonomie auf - und damit wieder unter? Frisst sie die Menschen mit Haut und Haaren auf, oder setzt sich langfristig doch eine Art wohlhabende Gelassenheit durch? Kann man mit Kreativität wirklich Geld verdienen? Sind die angeblich kommunikationsfähigeren Frauen besonders geeignet für die neue Wissensgesellschaft? Oder ist es doch gewichtiger, dass viel mehr Männer Informatik studieren? Was wird aus den Familien in einer Zeit, in der die Erwerbsarbeit kein klar reglementiertes Maß mehr kennt? All diesen Fragen versuche ich mich auf den folgenden Seiten anzunähern, ohne die für immer - oder auch nur für wenige Jahre - definitiv gültigen Antworten zu kennen.
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