Willkommen in ... AMBRA.
Es war einmal eine Stadt an den Ufern des Flusses Mott, die hatte nicht ihresgleichen in der Geschichte und darüber hinaus. Gegründet auf dem Blut ihrer ursprünglichen Bewohner, der verstohlenen Grauhüte, und jahrhundertelang in die Nachwirkungen dieses Kampfes verstrickt, ist Ambra zu einer grausam schönen Metropole geworden - eine Zuflucht für Maler und Diebe, für Komponisten und Mörder.
In »Stadt der Heiligen & Verrückten« ist die ganze Geschichte von Ambra enthalten: wie der Missionar Dradin in die Zivilisation zurückkehrt und sich unsterblich verliebt; wie der berühmte Maler Martin See zu einer Enthauptung eingeladen und zu seinen Meisterwerken inspiriert wird; wie ein hochbegabter Schriftsteller in einer einsamen Zelle eine Welt erfindet und wieder verliert; und wie die Grauhüte, die Nachfahren der Ureinwohner, unaufhaltsam die Herrschaft über die Stadt zurückerringen ...
Die vorliegende Ausgabe enthält alle mit Ambra verknüpften Erzählungen sowie Illustrationen von sieben Künstlern - ein faszinierend erzählter und aufwendig gestalteter Mosaikroman.
Jeff VanderMeer ist für »Die Verwandlung des Martin See« (im vorliegenden Band enthalten) mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet worden. 2001 zählte ihn die SF-Zeitschrift »Locus« zu den zehn führenden Autoren phantastischer Literatur auf der Welt.
I
Für unsere Zwecke beginnt die Geschichte von Ambra mit den legendären Abenteuern des Walfängers & Piraten Katten John Manzikert (1) (2) (3), der im Jahr des Feuers - so genannt wegen der katastrophalen Vulkanaktivitäten in der Südhemisphäre zu jener Zeit - seine Flotte von dreißig Walfangschiffen den Mott-Fluß hinaufführte. Wenngleich nicht das erste verzeichnete Vordringen von Walfängersippen der Aan in jene Region, ist es doch der erste Vorstoß von einiger Bedeutung.
Fußnote 1) Zu Manzikerts Zeit hatte der rauhe südliche Akzent seines Volkes die Rangbezeichnung »Kapitän« auf Dauer zu »Katten« verschliffen. »Kapitän« bezog sich nicht nur auf Manzikerts Kommando über eine Flotte von Schiffen, sondern auch auf den alten kaiserlichen Titel, der von den Saphanten an den Befehlshaber einer Diözese von Inseln verliehen wurde; somit hatte der Titel sowohl religiöse als auch militärische Bedeutungsinhalte. Sein Gebrauch so spät in der Geschichte zeigt, wie nachhaltig der Einfluß des Saphantenreiches war: zweihundert Jahre nach seinem Untergang wurden seine Titel noch immer von den Sippen verwendet, die nur aus zweiter Hand etwas über das Reich erfahren hatten.
Fußnote 2) Eine Fußnote zum Zweck dieser Fußnoten: Dieser Text enthält so viele Fußnoten, um Ihnen, dem müßigen Touristen, nicht soviel Wissen aufzudrängen, daß Sie sich unter seiner Last den Freuden der Stadt nicht mehr mit Ihrer gewohnten gedankenlosen Hingabe widmen könnten. Um Ihre absehbaren Versuche zu unterbinden, vorzublättern, sobald Sie in diesem Bericht ein Sie interessierendes Thema entdeckt haben, habe ich alle Querbezüge auf andere Hoegbotton-Veröffentlichungen ausgemerzt, die den Rest dieser Heftreihe wie eine Pilzplage überwuchern.
Fußnote 3) Ich sollte zu Fußnote 2 hinzufügen, daß die interessanteste Information nur in Form von Fußnoten dargeboten wird, und ich will mich bemühen, soviel Fußnoten wie möglich einzufügen. In Fußnoten angedeutete Informationen werden nämlich später im Haupttext eingehender behandelt, was diejenigen von Ihnen verwirren wird, die beschlossen haben, die Fußnoten nicht zu lesen. Diesen Preis müssen jene bezahlen, die einen betagten Historiker aus seinem Schlaf hinter dem Vortragspult aufschrecken, um ihn zu nötigen, für eine allgemeine Reiseführer-Reihe zu schreiben.
Manzikert bezweckte, dem Zorn seines Sippengenossen Michael Brueghel zu entfliehen, der vor einer der Aandalay-Inseln Manzikerts einst so stolze Flotte von hundert Schiffen dezimiert hatte. Brueghel gedachte Manzikert ein für allemal zu erledigen und verfolgte ihn daher an die vierzig Meilen stromauf, in die Nähe des gegenwärtigen Hafens von Stockton, ehe er die Jagd schließlich aufgab. Der Grund für diesen Konflikt zwischen potentiellen Verbündeten ist unklar - wir verfügen über wenige und oft ungenaue historische Quellen, und in der Tat ist einer der betrüblichsten Aspekte der Frühgeschichte von Ambra die Regelmäßigkeit, mit der Wahrheit und Legende getrennte Wege gehen -, das Ergebnis aber ist klar: Im Spätsommer im Jahr des Feuers fand sich Manzikert ganze siebzig Meilen flußauf, an einer Stelle, wo der Mott ein umgekehrtes L bildet, ehe er sich gerade nach Norden und Süden erstreckt. Hier stellte er zum erstenmal fest, daß das südwärts fließende Süßwasser vollständig das Salzwasser verdrängt hatte, das nordwärts heraufsickerte. (4)
Als sich am Tage ihrer Ankunft die Dunkelheit herabsenkte, ließ Manzikert seine Schiffe in der Biegung des L ankern, die einen natürlichen Hafen bildete. Die Ufer waren von üppigem Unterholz bewachsen, das den Aan sehr vertraut war, da es der Vegetation ihrer eigenen Inseln im Süden nahekam. (5) Sie hatten ermutigenderweise keine Anzeichen einer womöglich feindlichen Besiedlung gesehen, konnten aber, da die Dämmerung hereinbrach, nicht die Energie aufbringen, eine Expedition auszuschicken. In der Nacht jedoch sahen die Wachleute auf den Schiffen zu ihrem Erstaunen den Schein von Lagerfeuern deutlich zwischen den Bäumen hindurch, und mehr als ein hellhöriger Walfänger bemerkte den Klang eines hohen und fernen Gesanges. Manzikert befahl sofort, im Schutze der Dunkelheit eine Kampftruppe anzulanden, doch der truffidische Mönch Samuel Tonsur überredete ihn, den Befehl zurückzunehmen und das Morgengrauen abzuwarten.
Fußnote 4) Heute sinkt der Salzgehalt des Flusses schon bei lediglich 25 Meilen von der Mündung auf den Wert für Süßwasser; der Grund für diese Veränderung ist unbekannt, kann aber mit der Anhäufung von Schwemmsand an der Flußmündung zusammenhängen, der als natürlicher Filter wirkt.
Fußnote 5) Fast fünfhundert Jahre später sollte der Petularch Dray Mikal die Rodung der einheimischen Flora rings um die Stadt zugunsten der nördlichen Arten seiner Jugend befehlen, sicherlich eine der hochmütigsten Reaktionen auf Heimweh, die verzeichnet sind. Der Petularch war schon fünfzig Jahre tot, bevor die Verpflanzung als Erfolg gewertet werden konnte.
Tonsur - der, nachdem er in Nikäa (nahe der Mündung des Mott-Flußdeltas) gefangengenommen worden war, den Katten zum Übertritt zum Truffidismus bewogen und solcherart Einfluß auf ihn gewonnen hatte - spielt eine Hauptrolle, vielleicht die Hauptrolle, für unser Verständnis der Frühgeschichte von Ambra (6) Tonsur ist der Ursprung, von dem die meisten Geschichtsdarstellungen abgeleitet sind - sowohl von der diskreditierten (und unvollständigen) Biographie John Manzikerts I. von Aan und Ambra (7), die offensichtlich dem Katten zu Gefallen geschrieben wurde, als auch von seinem geheimen Tagebuch, das er die ganze Zeit über bei sich trug und von dem wir annehmen können, daß Manzikert es niemals gesehen hat, denn andernfalls hätte er Tonsur dem Tode überantwortet.
Fußnote 6) Und dennoch, welche Vorstellung haben wir schon vom Vorleben des Mönchs? Bestenfalls eine nebelhafte. In den Aufzeichnungen in Nikäa wird Samuel Tonsur nicht erwähnt, und es ist wahrscheinlich, daß er nur auf der Durchreise in die Stadt kam und daher dort nicht aktiv predigte. »Samuel Tonsur« kann auch ein Name sein, den er sich zulegte, um seine wahre Identität zu verbergen. Eine Handvoll Forscher, insbesondere die aufsässige Mary Sabon, vertreten die Ansicht, Tonsur sei niemand anders als der Patriarch von Nikäa selbst gewesen, von dem bekannt ist, daß er ungefähr zur selben Zeit verschwand, als Tonsur bei Manzikert auftauchte. Als nachhaltigen Beweis bietet Sabon die oft kolportierte Geschichte, der Patriarch habe manchmal seine Stadt inkognito durchstreift, als einfacher Mönch gekleidet, um seinen Untergebenen nachzuspionieren. Er kann durchaus ohne Kenntnis seines Ranges gefangengenommen worden sein - was, wenn es entdeckt worden wäre, Manzikert ein solches Druckmittel gegen Nikäa verschafft hätte, daß er durchaus imstande gewesen wäre, die Stadt einzunehmen und sich in ihren Mauern niederzulassen, vor Brueghel in Sicherheit. Doch wenn dem so war, warum hat der Patriarch dann keinen Fluchtversuch unternommen, nachdem er Manzikerts Vertrauen gewonnen hatte? Trotz einigen anderen von Sabon angeführten Indizien scheint der Fall von Anfang an falsch aufgezäumt zu sein. Meine eigenen Forschungen, untermauert durch den Erbautarchen von Nank, weisen darauf hin, daß das Verschwinden des Patriarchen zeitlich mit dem der Priesterin Caroline von der Kirche des Siebenzackigen Sterns zusammenfällt und daß der Patriarch und Caroline zusammen durchgebrannt sind, wobei die Trauung von einem fahrenden Gaukler vorgenommen wurde, der eilig als Priester ordiniert worden war.
Fußnote 7) Aus Gründen, die später deutlich werden, konnte Tonsur sie nicht mehr vervollständigen; daher ließ zehn Jahre später Manzikerts Sohn zu diesem Zweck einen anderen truffidischen Mönch aus Nikäa kommen. Leider glaubte dieser Mönch, dessen Name uns nicht überliefert ist, an das Tragen härener Hemden, tägliche Flagellation und Predigten über »die Abscheulichkeit des geschriebenen Wortes«. Er vollendete die Biographie tatsächlich, hätte sich aber ebensogut die Mühe sparen können. Obwohl Manzikert II. selbst sie redigiert hat, enthält sie solcherart Prosa wie: »Und seine höchst erhöherte Majestät schritt an Land wie ein Stolz zierender Roberer aus grauer Furzeit.« Zweifellos überwiegen die von diesem Verabscheuer gegen das Geschriebene Wort verübten Abscheulichkeiten jedwede Verbrechen, die Es ihm angetan haben mag.
Das Tagebuch enthält einen überaus verwickelten Bericht über Manzikert, seine Abenteuer und die nachfolgenden Ereignisse. Daß dieses Tagebuch unter etwas zweifelhaften Umständen aufgetaucht (oder eher wiederaufgetaucht) ist, sollte nicht von seiner generellen Gültigkeit ablenken und erklärt nicht den Hohn, mit dem gewisse Kreise es überziehen, möglicherweise, weil der Name »Samuel Tonsur« für ein paar kleingeistige Forscher wie ein Witz klingt. Für Samuel Tonsur war er jedenfalls keiner (8)
Bei Tagesanbruch ließ Manzikert die Boote aussetzen und brach mit hundert Mann, darunter Tonsur, zu einer Erkundungsfahrt an Land auf. Es muß ein etwas lächerlicher Anblick gewesen sein, denn wie Tonsur über Manzikert schreibt, einen Mann von grausamem und aufbrausendem Temperament: »Er mußte ein Boot für sich allein in Beschlag nehmen, nicht gerechnet die Ruderer, solch ein raumgreifender Mann war er und das Boot unter ihm wie ein Kinderspielzeug« (9) Hier, während Manzikert zu jenem Ort gerudert wird, wo er eine Stadt gründen sollte, ist es angebracht, Tonsurs berühmte Einschätzung des Kattens vollständig zu zitieren:
»Ich für meinen Teil bewunderte ihn; denn die Natur hatte in dieser Person alle Eigenschaften versammelt, derer ein militärischer Befehlshaber bedarf. Er war nahezu sieben Fuß groß, so daß Männer, um ihn anzuschauen, den Kopf hoben, als blickten sie zu einem Berggipfel auf. Im Besitze erstaunlicher blauer Augen und gefurchter Brauen, war sein Betragen weder sanft noch angenehm, sondern gemahnte an einen Sturm; seine Stimme glich dem Donner, und seine Hände schienen dafür geschaffen zu sein, Mauern niederzureißen oder Tore von Erz aufzubrechen. Er konnte wie ein Löwe springen, und machte er ein finsteres Gesicht, so war es entsetzlich. Wer ihn zum ersten Mal sah, wurde gewahr, daß jede Beschreibung, die er von ihm gehört hatte, untertrieben war.« (10)
Leider verfügte der Katten weder über eine dementsprechende Weisheit noch über Barmherzigkeit. Zweifellos fürchtete Tonsur die Launen seines Herrn bei derlei Gelegenheiten, denn er versuchte Manzikert zu überreden, an Bord seines Flaggschiffs zu bleiben und das Kommando des Landetrupps einem seiner vernünftigeren Leutnants zu übertragen - eventuell sogar seinem Sohn John Manzikert II. (11), der sein Volk eines Tages brillant regieren sollte -, doch Manzikert, wenn er auch Truffidier war, wollte davon nichts hören. Der Katten hielt auch seine Frau Sophia an, sie zu begleiten. Leider teilt uns Tonsur sowohl in seiner Biographie als auch im Tagebuch wenig über Sophia Manzikert mit (ihre eigene Biographie ist nicht erhalten), doch dem wenigen zufolge, was wir dennoch wissen, könnte Tonsurs Beschreibung ihres Gatten durchaus auch auf sie passen; die beiden gerieten oft in romantische Begeisterung über die Freuden gemeinsamen Plünderns.
Und so landeten Manzikert, Sophia, Tonsur und die Männer des Kattens an jenem Ort, an dem sich bald Ambra ausbreiten sollte. Zunächst jedoch war dieser von einem Volk besetzt, welches Tonsur »Grauhüte« nannte, heute als »Pilzbewohner« bekannt.
Fußnote 8) Falls der sorgfältige Historiker weiterer Beweise bedarf, daß Sabon irrt, braucht er nicht weiter zu schauen als bis zur Aufschrift auf dem Tagebuch des Mönchs: »Samuel Tonsur«. Wozu sollte er sich die Mühe machen, die Fiktion aufrechtzuerhalten, wenn der Inhalt des Tagebuchs selbst ihn zum Tode verurteilte? Und warum sollte er, wenn er wirklich der Patriarch war (ein allen Berichten zufolge gebildeter und kluger Mann), solch ein plumpes und offensichtliches Pseudonym wählen?
Fußnote 9) Alle nicht speziell zugeordneten Zitate stammen aus Tonsurs Tagebuch, nicht aus der Biographie.
Fußnote 10) Aus der Biographie zitiert. Man fragt sich: Wenn der Katten derart grimmig war, um wieviel furchterregender muß Michael Brueghel gewesen sein, um den Katten aus dem Süden fliehen zu lassen?
Fußnote 11) Die »II«, die der Katten an den Namen seines Sohnes anhängte, gibt uns einen Hinweis, daß er vorhatte, seßhaft zu werden und eine Dynastie zu gründen. Die Aan-Sippe hätte die Idee einer Dynastie für absonderlich gehalten, denn für gewöhnlich wurden die Katten unter den tüchtigsten Seeleuten ausgewählt, wobei Erbansprüche eine untergeordnete Rolle spielten.
Tonsur berichtet, daß sie kaum hundert Schritte ins Unterholz zurückgelegt hatten, als sie auf den ersten Einwohner stießen. Er stand vor seinem »runden und kuppelförmigen einstöckigen Haus, tief in den Boden gebaut und nahtlos, von dem eine Straße aus glatten, glänzenden Steinen ausging, die geschickt mit Mörtel zusammengefügt waren«. Das Gebäude mochte einst als Wachhaus gedient haben, doch nun wurde es als Wohnung benutzt.
Offensichtlich fand Tonsur das Gebäude beeindruckender als den Eingeborenen, der davor stand, denn er widmet drei Seiten jeder noch so kleinen Einzelheit und gibt uns nur einen kurzen Absatz über den Bewohner des Gebäudes:
»Kurz und untersetzt, reichte er dem Katten nur bis zur Schulter, von Kopf bis Fuß in einen grauen Umhang gehüllt, der sein Hemd und seine Hose bedeckte, welche aus zusammengenähten Stücken Tierhaut von hellerem Grau bestanden. Auf seinem Kopf ruhte ein Hut von der Farbe der Oliphantenhaut: eine große, breite Vorrichtung, die sein Gesicht vor der Sonne schirmte. Seine Gesichtszüge, soweit man sie sehen konnte, waren grob, teigig, von keinem Wissen getrübt. Als der Katten nach dem Namen und der Natur des Ortes fragte, vermochte dieses unansehnliche Geschöpf nicht anders zu antworten denn in einer Folge von Klick-, Grunz- und Pfeiflauten, die den Gesang der Grille und der Heuschrecke nachzuahmen schienen. Es konnte nicht für Sprache gelten. Es war, wie bei Insekten, ein Geräusch der Warnung oder der Neugier, bar jeder anderen Bedeutung.« (12)
Fußnote 12) Ich halte es für notwendig, hier drei Beobachtungen einzufügen. Erstens, daß der Absatz über die Grauhüte in der Biographie des Kattens weitaus schlechter ist, beschreibt er doch »kleine Schweinsäuglein, einen durchhängenden gezackten Schlitz als Mund und eine Nase wie bei einem Affen«. In Wahrheit sahen die Grauhüte weitgehend wie die Pilzbewohner von heute aus - will sagen, wie kleinere Ausführungen von uns selbst -, doch der Katten hatte bereits mit dem Versuch begonnen, sie zu entmenschlichen und so eine Rechtfertigung, eine Begründung zu fabrizieren, sie um Leben und Besitz zu bringen. Zweitens gibt es überraschenderweise Anzeichen dafür, daß die Grauhüte ihre Kleidung aus den getrockneten Pelzen von Feldmäusen woben. Drittens scheint Tonsur ein Geheimnis verraten zu haben - wenn der Grauhut, dem sie begegneten, tatsächlich »dem Katten nur bis zur Schulter« reichte und die Grauhüte nach Tonsurs eigener Aussage im Durchschnitt einen Meter groß waren (wie Pilzbewohner der Gegenwart), dann kann der Katten selbst höchstens anderthalb Meter gemessen haben, war also ziemlich kurz geraten. (Ist es wichtig, daß Brueghel in einem Brief an den Kalifen, wo es um künftige Handelsbeziehungen geht, Manzikert seinen »unbedeutenden Feind« nennt, da in der Sprache des Kalifen »unbedeutend« auch als Substantiv für »Zwerg« auftritt und Brueghel, der seine politische Korrespondenz selbst verfaßte, Wortspiele liebte?) Vielleicht war Tonsurs Beschreibung Manzikerts in der Biographie vom Katten diktiert, der seinen geringen Wuchs vor der Geschichte verbergen wollte. Leider bleibt die Körpergröße des Kattens oder der Mangel daran ein strittiger Gegenstand, also will ich mich an die orthodoxe Version der Erzählung halten, wie sie Tonsur mitteilt. Dennoch ist es vergnüglich, zu spekulieren. (Wenn Manzikert wirklich klein war, hätten wir hoffen können, er würde die Grauhüte als eine Art lange vermißte, über drei Ecken verwandte Vettern begrüßen. Leider tat er das nicht.)
Wir können ein groteskes Ergötzen finden, wenn wir uns die Szene vorstellen: Der Riese, wie er sich herabbeugt, um sich mit dem Zwerg zu verständigen, der Zwerg, der eine derart feinsinnige und komplizierte Sprache spricht, daß sie sich bis zum heutigen Tage der Übersetzung entzieht, während der Riese eine Folge kruder Konsonanten und Vokale ausspeit, die dem Grauhut wie die Äußerungen eines plötzlichen Schlaganfalls vorgekommen sein müssen.
Manzikert fand den Grauhut abstoßend, wie er, mit Manzikerts überlieferten Worten, an »Kind und Pilz zugleich« (13) erinnerte, und hätte er nicht Vergeltung seitens einer vermuteten Regierung von unbekannter Stärke gefürchtet, so hätte er den Eingeborenen mit seinem Schwert durchbohrt. Statt dessen überließ er dem Grauhut, der ihnen noch hinterherklickte und -pfiff (14), seinen unverständlichen Wachobliegenheiten und ging die silbrige Straße entlang weiter, bis sie die Stadt erreichten.
Fußnote 13) Wir können nur mutmaßen, warum Manzikert Kinder und Pilze abstoßend gefunden haben mag. Immerhin aß er Pilze und hatte mit Sophia ein Kind. War vielleicht, wenn er tatsächlich etwas kleinwüchsig war, sein Spitzname als Kind »kleiner Pilz« gewesen?
Fußnote 14) Da dies das erste und letzte Mal ist, daß die Grauhüte aktiv versuchten, mit den Aan zu kommunizieren, fragt man sich, was der Grauhut zu Manzikert gesagt hat. Einen freundlichen Gruß? Eine Warnung? Schon die Gesprächigkeit dieses einen Grauhuts im Vergleich zu den anderen, denen sie begegnen sollten, hat mehr als einen Historiker zu der Annahme gebracht, daß er (oder sie - entgegen der weitverbreiteten Meinung gibt es ebenso viele weibliche Grauhüte wie männliche; die Umhänge lassen sie alle als geschlechtslos erscheinen) beauftragt worden war, den Landetrupp zu begrüßen. Welche Gelegenheiten versäumte Manzikert, als er sich nicht mehr Mühe gab, die Absicht des Grauhuts zu verstehen? Welche Tragödien hätten verhindert werden können?
Obwohl es Tonsur unverantwortlicherweise versäumt hat, uns über die Reaktionen von Manzikert und Sophia beim ersten Anblick der eigentlichen Stadt zu unterrichten - und, nach des Mönches Schilderung von Aquädukten zu schließen, fast gewiß des Ortes, wo sich künftig der Albumuth-Boulevard erstrecken sollte -, können wir uns vorstellen, daß sie ebenso beeindruckt waren wie Tonsur selbst, der schrieb:
»Die Gebäude, die man durch den spärlicher werdenden Baumbestand hindurch ausmachen konnte, waren durchweg mit goldenen Sternen geschmückt wie das Himmelsgewölbe selbst, während jedoch die Sterne am Himmel nur in Abständen voneinander stehen, waren hier die Oberflächen vollends mit Gold bedeckt und setzten sich aus dem Zentrum in einem nicht endenden Strom fort. Rings um das Hauptgebäude standen andere, kleinere Gebäude, die ihrerseits vollständig oder teilweise von überdachten Gängen umgeben waren. Bauwerke von atemberaubender Komplexität erstreckten sich, soweit das Auge reichte. Dann kam ein zweiter Kreis von Gebäuden, größer als die ersten, mit Wiesen, bedeckt von Pilzen in allen möglichen Größen und Farben - von Riesengewächsen so groß wie der Oliphant (15) bis zu feinen, glasigen Knötchen, nicht größer als der Fingernagel eines Kindes. Diese Pilze - mit roten und mit blauen Hüten, die Unterseiten mit Strähnen von Silber, Smaragd oder Obsidian besetzt - sonderten Sporen von überaus vielfältigem und bemerkenswertem Geruch ab, während die Grauhüte selbst ihre Schützlinge mit - in diesem einen Fall - bewundernswertem Feingefühl und liebevoller Sorge pflegten ... (16) Es gab auch Springbrunnen, die Wasserbassins füllten; Gärten, manche davon hängend, voller exotischer Moose, Flechten und Farne, andere, die sich zum Erdboden hinabwanden, und ein Bad aus purem Gold von unbeschreiblicher Schönheit.« (17)
Fußnote 15) Tonsur liebte Oliphanten geradezu maßlos. Sie werden im Tagebuch dreißigmal erwähnt, für gewöhnlich nach Banalitäten wie »so groß wie« oder »so grau wie«. In meiner maßlosen Barmherzigkeit werde ich Ihnen 28 von diesen Vergleichen ersparen.
Fußnote 16) Tonsurs Beschreibung in der Biographie enthält auch eine Reihe von Pilzzeichnungen von Manzikert - ein Versuch, »empfindsam zu erscheinen«, wie Tonsur in seinem Tagebuch abfällig bemerkt -, von denen ich drei Beispiele für das halbe Dutzend unter Ihnen anführe, die neugierig auf die Zeichenkünste des Kattens sind:
Fußnote 17) Offensichtlich, da Tonsur sie nicht beschreibt.
[...]
Zahlungsmethoden
PayPal (nicht Abos),
Kreditkarte,
Rechnung
weitere Infos
Versandkostenfreie Lieferung
nach D, A, CH
in D, A, CH inkl. MwSt.
weitere Infos