Wie kriegen wir die Kurve?
Der Journalist und liberale Denker Ulf Poschardt entwirft in seinem Buch »Mündig« einen neuen Existenzialismus. Wer seinen Überlegungen folgen will, muss zuerst die Motorsport-Metaphern dieses Buches entschlüsseln
VON LAMBERT WIESING
Mündig von Ulf Poschardt ist ein politisches und soziologisches Buch; das engagierte Plädoyer für den Liberalismus findet über die parteipolitischen Grenzen hinweg Beachtung und Zustimmung. Peter Unfried von der taz lobt das Buch im Nachwort als »eine Gesellschaftstheorie auf der Höhe des 21. Jahrhunderts«; Norbert Bolz ist von der Diagnose einer um sich greifenden Infantilisierung der Gesellschaft ganz begeistert. Doch wie immer man zu diesen Bewertungen steht, ganz unabhängig von den politischen Absichten und soziologischen Beschreibungen ist Mündig auch ein philosophisches Buch. Man – das muss man sagen – kann das allerdings aufgrund des lockeren, regelrecht süffigen, teilweise polemischen Schreibstils leicht übersehen (im Hauptberuf ist Poschardt Chefredakteur der Welt-Gruppe). Was allerdings schade wäre, handelt es sich doch um einen groß angelegten Versuch, den in die Tage gekommenen philosophischen Existenzialismus wiederzubeleben.Mündig besteht aus 16 eigenständigen Beschreibungen von mündigen Existenzformen: Diese reichen vom mündigen Intellektuellen und Pädagogen über den mündigen Unternehmer bis hin zum mündigen Mann und zur mündigen Frau; auch die Ideen eines mündigen Linken oder mündigen Liberalen werden anhand von Figuren und Gruppen – die der Skateboarder ist besonders wichtig – entworfen. Das Ergebnis sind unerwartete, originelle Konstellationen: Der Rennfahrer Ayrton Senna, der Regisseur Jean-Luc Godard, aber auch die Klimaaktivistin Greta Thunberg und Anne Frank finden sich auf einmal in einer Gruppe wieder – in der Gruppe der vorbildlich mündigen Persönlichkeiten, in einer Gruppe von Existenzialisten – zur Beschreibung von Ayrton Senna wird der Begriff von Poschardt einmal verwendet. Doch tatsächlich lässt sich das ganze Buch lesen als Antwort auf die Frage, ob »Freiheit« weiterhin der Schlüsselbegriff des Existenzialismus sein kann.
Man hat es fast vergessen: Doch Sartre vertrat in der Tat die Ansicht, dass Menschen – in welcher Situation auch immer – radikal frei seien. Die Freiheit ist für Sartre das unumgängliche Schicksal des menschlichen Daseins, das Einzige, was ihm wesentlich ist. Weder die Geburt noch die Erziehung oder die Gesellschaft legen einen Menschen in seinem Denken und Handeln für Sartre irgendwie fest, sondern es ist letztlich immer jeder selbst, der sich entscheidet und dafür verantwortlich ist, so zu sein, wie er ist. Sexuelle Orientierungen sind für Sartre freie Entscheidungen. Auch das unter Folter erpresste Geständnis wurde für Sartre freiwillig gegeben. Berühmt, ja regelrecht zum Leitspruch des Existenzialismus wurde sein Diktum: »Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.« Es ist dieses Menschenbild des Existenzialismus, das heute wohl nur noch schwer Verständnis oder gar Zustimmung finden kann. Ein sicherlich emanzipatorisch gemeinter Satz verstrickt sich schnell in unmenschliche Aporien: Warum soll man sich eigentlich um eine bessere Gesellschaft, um irgendeine Emanzipation, Befreiung und gar Rettung von Mitmenschen kümmern, wenn doch alle Menschen qua Geburt sowieso schon immer gleich frei sind? Wer frei ist, kann ja gar nicht befreit werden.Manchmal ist es eben wichtig, was jemand nicht macht. Poschardt stellt nicht den Begriff der Freiheit in den Mittelpunkt seiner Überlegungen über den Menschen, den Liberalismus und den Existenzialismus. Will man sich dem existenzialistischen Zynismus – alle Menschen sind immer schon frei – nicht hingeben, dann bietet Poschardt eine Transformation des existenzialistischen Denkens an, die einerseits den nach Freiheit strebenden emanzipatorischen Geist des Existenzialismus in die Gegenwart retten will, aber sich andererseits auch von dessen altbekannten Aporien befreit. Eigentlich eine einfache Idee: »Mündigkeit« statt »Freiheit«. Eine Fähigkeit, über die Menschen angeblich entweder verfügen oder nicht verfügen, wird durch eine Fähigkeit ersetzt, die Menschen unterschiedlich stark ausprägen können, die nicht vom Himmel fällt, für die man etwas tun muss. Das macht den Reiz aus: Poschardt beschreibt Mündigkeit als eine Fähigkeit, die dem Menschen graduiert gegeben ist. Erst recht ist sie kein menschliches Schicksal, wie bei Sartre die Freiheit. Man ist nicht per Geburt – einfach weil man Mensch ist – mündig. Hier ist der entscheidende anthropologische Unterschied zwischen dem alten und neuen Existenzialismus: Der Mensch ist zur Mündigkeit nicht verurteilt – ganz im Gegenteil. Die Entstehung und Kultivierung von Mündigkeit kann aus vielen Gründen im Keim erstickt werden. Hier mögen nicht selten andere verantwortlich sein, aber wie man schon seit Kant weiß, gibt es auch eine verbreitete – wie Kant meinte – durch »Faulheit und Feigheit« selbst verschuldete Unmündigkeit. Deshalb gilt es nach Poschardt, in einem unaufhörlichen Prozess der Selbstemanzipation – jeder für sich, jeder immer wieder von Neuem – sich selbst mündig zu machen. Poschardt entwirft die Mündigkeit als ein lebenslanges unaufhörliches Selbstaufklärungsprojekt, zu dem man im Namen eines guten authentischen Lebens verpflichtet ist: etwa so, wie man sich im Leben ein Leben lang selbst am Leben erhalten muss. »Das Mündigwerden hört nie auf.« Auf die nicht ganz unwichtige Frage, warum jemand eigentlich in seinem Leben versuchen sollte, mündig zu werden, warum jemand sich dieser oft – wie Poschardt ja so eindrucksvoll zu veranschaulichen weiß – unaufhörlichen, strapaziösen, nicht selten gefährlichen Lebensaufgabe überhaupt stellen sollte, bekommt der Leser nicht viel gesagt. Vielleicht hat dieses Ausbleiben einen guten Grund, nämlich dass sich diese Frage gar nicht mit guten Gründen beantworten lässt. Doch das ist zumindest für den Autor Poschardt kein Problem, er macht keinen Hehl daraus, warum er davon überzeugt ist, dass Menschen sich selbst mündig machen sollten: »Es ist der steilste Weg zum Glück.«
Damit liegt die Latte hoch, ja, höher geht es fast gar nicht: Mündig entwirft ein Menschenbild, aus dem sich ergeben soll, dass die Verwirklichung einer bestimmten menschlichen Fähigkeit den Menschen zum Glück führt. Derartige Ansprüche findet man in der Philosophie immer mal wieder, etwa schon bei Aristoteles, meint dieser doch in seiner Nikomachischen Ethik, dass ausschließlich die theoretische Lebensform, also ein ganz der Wissenschaft und Philosophie gewidmetes Leben, ein glückliches Leben sein kann. Das sieht Ulf Poschardt anders – ganz anders! Mündigkeit ist für ihn die Fähigkeit zu »driften«. An der letztlich entscheidenden Argumentationsstelle steht diese von Poschardt neu eingeführte Metapher – eine Metapher, die sich wahrscheinlich nur den Lesern erschließt, die mit dem Autorennsport vertraut sind. Das ist der Schritt im Text, wo die philosophische Abhandlung zu Literatur wird. Der Drift ist eine eher seltene, historisch gesehen sogar relativ spät, erst im Rallyesport der Achtzigerjahre entdeckte und entwickelte Technik, ein Auto durch eine Kurve zu fahren, besser gesagt: zu schleudern. Diese gewagte Art, ein Auto erfolgreich zu bewegen, wird zur Metapher für eine – um des Glückes willen – gewagte Art, das Leben zu führen. Da Poschardt nicht genau beschreibt, was man kann, wenn man driften kann, stellt sich die Frage: Für welches spezifische Können ist zum Beispiel der einzigartige Rallyefahrer Walter Röhrl – der vollkommen unverständlicherweise im Buch keine Erwähnung findet – berühmt?Fährt jemand mit seinem Auto kontrolliert, so wie man das in der Fahrschule lernt, durch eine Kurve, dann folgt diese Person einer Regel. Man hat es dann mit einem vernünftigen Autofahrer zu tun. Fährt jemand hingegen einfach zu schnell durch dieselbe Kurve, dann verliert der Fahrer die Kontrolle, der Wagen bricht aus und endet im Graben. Ein solcher Fahrer ist ein unvernünftiger Idiot. Was die Metapher des Driftens zu erfassen versucht, so lässt sich Poschardt verstehen, ist ein anthropologisches Phänomen, das Philosophen von Schiller über Adorno bis in die Gegenwart hinein immer wieder fasziniert hat, nämlich dass es vernünftige Formen des Unvernünftigseins gibt: Sei es das Spiel, die Kunst oder auch der Luxus. Driftet jemand mit seinem Auto durch die Kurve, dann besitzt diese Fahrweise die Unvernünftigkeit und Unangemessenheit eines idiotischen Regelbruchs, aber doch auch eine Vernünftigkeit zweiter Ordnung, ist doch das Driften letztlich die beste, denn schnellste Art, eine Kurve zu meistern – oder wie Poschardt meint, ein Leben zu meistern. Denn im Gegensatz zum Autofahren wird man im Leben unvermeidlich in Situationen kommen, in denen vernünftige Regeln nicht mehr vorhanden sind. Dann ist es gut, wenn man driften kann – oder wie man früher wohl gesagt hätte, wenn man über Phronesis verfügt: Klugheit und Urteilskraft.Mündig von Ulf Poschardt ist ein facettenreiches Buch, das sich nicht auf eine einzige These herunterbrechen lässt; das ganze scheint aber ein großes Plädoyer für den Gedanken zu sein, dass es im Leben wichtig ist, vernünftig unvernünftig sein zu können, um glücklich zu werden.
Nicht der schlechteste Gedanke.
Lambert Wiesing ist Professor für Philosophie an der Universität Jena. Gerade ist sein neues Buch »Ich für mich« bei Suhrkamp erschienen
Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta Verlags