Frau Professor Reddemann, Sie haben als eine der ersten ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen in Deutschland systematisch darüber nachgedacht, was eine Traumatisierung für einen Menschen bedeuten kann, und Sie haben erfolgreiche Behandlungskonzepte im Rahmen von Psychotraumatologie entwickelt. Erleben wir durch die Corona-Krise gerade so etwas wie ein kollektives Trauma?
Ich denke, dass die Erfahrung, wenigstens bis jetzt noch nicht kollektiv traumatisierend ist, aber doch viele Menschen verunsichern kann, und wenn dann noch Not dazukommt, z.B. dadurch, dass jemand kein Geld mehr verdienen kann oder sogar schwerer erkrankt, dann bewegt sich das schon in Richtung Trauma. Vor allem für alte Menschen, die noch den Krieg und die Nachkriegszeit erlebt haben, kann die jetzige Erfahrung als Trigger erlebt werden. Das heißt, die alten Belastungen vermischen sich mit den gegenwärtigen und man fühlt sich hilflos und total ausgeliefert. Das wird jetzt durch die quasi Ausgangssperre mit Sicherheit verstärkt.
Sind Menschen, die in ihrem Leben bereits Traumata erleben mussten, besonders gefährdet, in solch einer Ausnahmesituation nochmals Schaden zu nehmen?
Ja, davon sollte man ausgehen, wenngleich es natürlich auch Menschen mit erheblicher Widerstandkraft gibt, die jetzt mit der Erfahrung gut fertig werden. Man sollte auch bedenken, dass Kinder früher ja mit viel Gewalt groß geworden sind. Ich habe von vielen Patientinnen und Patienten gehört, wie sie stundenlang eingesperrt waren, z.B. in dunklen Kellern. Die kann dazu führen, dass das aktuelle Ausgangverbot massiv belastet und ängstigt.
Was kann jeder Einzelne tun, um sich über einen wahrscheinlich längeren Zeitraum der Verunsicherung selbst zu stabilisieren? Welche Einstellungen sind hilfreich?
Kontakte pflegen, so gut es geht. Ich empfinde die Möglichkeiten, die wir heute durch Skype und Vergleichbares haben, als ein Geschenk. Das heißt, sich auch bewusst machen, ich bin nicht allein, ich bin verbunden. Es gibt ein zauberhaftes Video bei youtube, wo junge Leute aus der ganzen Welt miteinander etwas von Bach singen, aber jede/r ist bei sich zu Hause. Ihr Motto „through music we are connected“. Die web Adresse ist: https://www.youtube.com/watch?v=4nV8NakYNfs. Ich war zu Tränen gerührt und voller Dankbarkeit über diese Möglichkeit. Weil ich ja Bach sehr liebe, höre ich es mir täglich an. Es gibt inzwischen auch noch einige andere Videos, wo Menschen zusammen musizieren und singen. Sehr berührend ist auch ein Video, wo Bamberger Bürger für italienische Menschen „Bella Ciao“ singen. Mitsingen kann guttun! https://www.youtube.com/watch?v=xyDk9hEeinE.
Es ist also die Pflege des Wissens um Verbundenheit, die hilfreich sein kann. Außerdem empfehle ich, sich ganz bewusst Dinge zu gönnen, die jetzt immer noch möglich sind, auch wenn man alleine ist: lesen, schreiben, vielleicht sogar Briefe. Auch sich erinnern an Dinge, die einem vielleicht früher gutgetan haben. Unsere Vorstellungskraft, die uns auch an schöne Erfahrungen erinnern, ja sogar sozusagen in diese guten Erfahrungen wieder hineinbringen kann, ist etwas Wunderbares, über die wir alle verfügen und die wir nutzen können. Nicht zuletzt dafür, uns auszumalen, wie es in Zukunft werden kann. Dazu hat sich der Zukunftsforscher Mathias Horx Ermutigendes vorgestellt. https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/id_87569760/coronavirus-wie-wir-uns-wundern-werden-wenn-die-krise-vorbei-ist.html
Können Sie aus dem Fundus Ihrer Erfahrungen konkrete Übungen oder Ähnliches empfehlen, wenn unter dem Eindruck schlechter Nachrichten das innere Gleichgewicht verloren zu gehen droht?
Zunächst: Die Dinge können uns ängstigen, das sollten wir uns zubilligen. Es geht daher um Freundlichkeit und Mitgefühl für sich selbst. Man kann sich sagen: “Das ist jetzt schwer für mich“ und sich in der Vorstellung tröstend umarmen. Diese Freundlichkeit mit sich selbst halte ich für außerordentlich wichtig, und wir sind darin nicht allzu geübt, zumal jetzt von Seiten der Politik nur die Devise gilt: Reiß dich zusammen, verzichte“. Das kennen wir nur allzu gut. Leider ist das nicht tröstlich. Dann kann es sehr helfen, sich vorzustellen, wie sehr viele Menschen und Dinge uns trotz allem unterstützen. Und das ist uns meist gar nicht bewusst. Also als kleine Übung: Was und wer unterstützt mich in diesem Augenblick: mein Labtop, der blühende Busch vor meinem Fenster, eine Frau, die bald kommt, um im Haushalt zu helfen, die Musik im Radio usw. Bert Brecht hat vor langer Zeit ein Gedicht mit dem Titel „Vergnügungen“ geschrieben, wo er all das nennt, was ihn stärkt. Man findet es im Internet. Es sind viele sehr einfache Dinge dabei!
Dann rate ich auch dazu, negative Gedanken immer wieder zu überprüfen im Sinn von „das denke ich- ist es wirklich so, woher weiß ich, dass das so ist…“ Des Weiteren eine Überprüfung der Dinge, die schon einmal hilfreich waren: Kann ich sie wieder nutzen? Wenn ich mich früher über den Blick aus dem Fenster gefreut habe, könnte ich das wieder einmal mit offenem Herzen tun?
Trotzdem bitte nichts schönreden. Die Situation ist schwierig und manchmal entmutigend. Dann gilt es eben auch, das anzuerkennen.
Was glauben Sie, können wir an positiven Impulsen aus der aktuellen Krise mitnehmen?
Das kann sehr individuell sein. Hier nur einige Beispiele: Dass wir merken, dass es gut tut innezuhalten, zur Ruhe zu kommen, weniger geschäftig zu sein. Dass wir uns bewusst werden, wie kostbar Verbindungen zu anderen Menschen sind und dass wir das wieder bewusster pflegen. Zeit lassen für Zusammensein, was wir jetzt schmerzlich vermissen. Die Menschen, die sich jetzt virtuell zusammentun oder gemeinsam von ihren Balkonen singen, machen es vor: Es kommt letztlich darauf an, dass wir einander brauchen und das auch zeigen.
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Prof. Dr. med. Luise Reddemann ist Nervenärztin, Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin. Seit gut 50 Jahren beschäftigt ...
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