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Lesebericht: Jean Améry, Der neue Antisemitismus

Verfasst von Heiner Wittmann
29.1.2024

Am 7. Oktober 2023 hat die Terror-Organisation Hamas den Süden von Israel überfallen, mindesten 1139 Menschen unter ihnen 71 Ausländer auf bestialische Weise ermordet und rund 240 Geiseln in den Gaza-Streifen verschleppt. (Quelle u. a.: tagesschau hier und hier). Israel kündigte umgehend Militäraktionen im Gaza-Streifen an, mit dem Ziel, die Hamas in ihren Tunnelsystemen zu vernichten. Bis Januar 2024, so berichten Zeitungen wie La Croix, habe es im Gaza-Streifen über 20.000 Tote gegeben.

Schon kurz nach dem Attentat der Hamas gab es auch in Deutschland pro-palästinensische Demonstrationen. Schon am 18.10.2023 haben die Vertreter aller Fraktionen im Deutschen Bundestag in einer Aktuellen Stunde mit dem Titel „Debatte zur Bekämpfung von Antisemitismus in Deutschland“ alle judenfeindlichen Aktionen scharf verurteilt und zu einer entschlossenen Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland aufgerufen.

Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus RIAS e.V. hat am 28. November 2023 auf einen enormen Anstieg antisemitischer Vorfälle seit dem 7. Oktober 2023 hingewiesen: „Im Zeitraum vom 7. Oktober bis 9. November dokumentiert der Bundesverband RIAS 994 antisemitische Vorfälle mit Bezug zu den Massakern der Hamas. Das sind 29 Vorfälle am Tag und somit ein Anstieg von 320% zum Jahresdurchschnitt von 7 Vorfällen am Tag im Jahr 2022. RIAS-Meldestellen berichten von einem anhaltend hohen Meldeaufkommen.“

Lesebericht: Jean Améry, Der neue Antisemitismus

Zum Thema Antisemitismus erinnert Klett-Cotta unter dem Titel »Der neue Antisemitismus« mit einer Neuausgabe von Texten von Jean Améry (1912-1978) an dessen Haltung zum Judentum und zum Antisemitismus. Das Vorwort für dieses Buch stammt von Irene Heidelberger-Leonard, deren Band »Jean Améry - Revolte in der Resignation. Biographie« Klett-Cotta 2004 verlegt hat.

Jean Améry (geboren als Hans Mayer) war Schriftsteller, Kritiker und Widerstandskämpfer. Am 23. Juli 1943 wurde er in Brüssel von der Gestapo verhaftet und gefoltert, bevor er nach Auschwitz kam und dann im Januar 1944 nach Bergen-Belsen verschleppt wurde. Am 15. April 1945 wurde das Lager von den Briten befreit und Améry ging wieder nach Brüssel. Er engagierte sich als Journalist für verschiedene deutschsprachige Zeitungen der Schweiz. Später schieb er Radio-Essays für den Süddeutschen Rundfunk.

Améry veröffentlichte 1966 seine Erinnerungen an die nationalsozialistischen Konzentrationslager in seinen Essays »Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten«. 1969 erschien in der Zeit sein Essay „Der ehrbare Antisemitismus“, in dem er den Antisemitismus der Neuen Linken kritisierte. Die Gesamtausgabe seiner Werke wurde bei Klett-Cotta verlegt.

Ganz zu Recht gibt Irene Heidelberger-Leonard in ihrem Vorwort zu Jean Améry »Der neue Antisemitismus«, zu verstehen, die darin enthaltenen Aufsätze, die zwischen 1969 und 1976 entstanden, „erwecken den Eindruck, sie seien eigens für den heutigen Tag geschrieben worden. Sie lesen sich als Warnung an das Deutschland von heute, wo die Juden sich – wieder einmal – nicht sicher fühlen.“ (S. 8) Améry habe lange darüber nachgedacht, „wie er der Neuen Linken das Phänomen Israel als legitime Zufluchtsstätte der Israelis klar machen könnte.“ (S. 16) Améry warf den Junglinken vor, sie sollten ihren „antizionistischen Furor, als das was er ist, nämlich als den Keim jahrhundertealten, noch keineswegs bewältigten Antisemitismus“ erkennen. Und Heidelberger-Leonard erinnert an Sartres Diktum, das Améry zitiert: „Kein Franzose wird in Sicherheit sein, solange ein Jude in Frankreich oder in der ganzen Welt um sein Leben fürchten muss.“ Vgl. H. Wittmann: Jean-Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage. Darum geht es: Trotz aller Kritik an Israel hielt Améry unerschütterlich daran fest, dass dieses Land DER sichere Zufluchtsort aller Juden in der Welt ist. Wer das in Frage stellt, hat sich bereits auf die Seite der Antisemiten und des Antizionismus begeben, so dürfte man Améry in einem Satz resümieren.

Die folgenden Aufsätze bauen aufeinander auf. „Mein Judentum“ (1978) enthält die persönliche Biographie Amérys, die er als »Judesein« zusammenfasst. Es war Sartre, der in seinen »Überlegungen zur Judenfrage« festgestellt hatte, Jude sei einer, den die anderen als Juden ansehen. „Dies war präzise mein Fall,“ (S. 29) antwortet Améry. Er nahm sein Judesein an „als ein Prinzip“ (S. 31) und fügte hinzu, in der täglichen Praxis versagt zu haben. Noch ahnte er nicht, wie hart die Schulen werden würden, die ihn das Judesein lehren würden. Zu Israel als Land hatte Améry keine besondere Beziehung, er ist einmal dort hingereist. Aber als Zufluchtsort war Israel ihm wichtig: „… ich bin den Menschen dieser heillosen Erde, die allein sind, verlassen von aller Welt, unablösbar verbunden, auch wenn ich ihre Sprache nicht spreche und ihre Lebensformen niemals die meinen würden sein können. Für mich ist Israel keine Verheißung, kein biblisch legitimierter Territorialanspruch, kein Heiliges Land, nur Sammelplatz von Überlebenden, ein Staatsgebilde, wo jeder Einwohner noch immer und auf lange Zeit hin um seine physische Existenz bangen muss. Mit Israel sein heißt für mich, den toten Kameraden die Treue zu bewahren.“ (S. 36 f.) Israel von Feinden umgeben, immer vor Angriffen jeder Art auf der Hut, Angst vor erneuter Vernichtung, einziger Ort, wo Juden vor der täglichen Verfolgung in Sicherheit sich wähnen können, das alles steckt auch in dem Diktum „Israels Sicherheit sei deutsche Staatsräson“, wie Angela Merkel dies so 2008 vor der Knesset formulierte. Améry weiß, wie unklar formuliert seine „Schicksalstreue“ ist, aber er beharrt für seinen Teil auf seinem „Judesein“ ohne ein „Judentum“. (S. 38)

1969 verfasst er „Der ehrbare Antisemitismus“ und nimmt den „sich gerierenden Antisemitismus auf der Linken“ (S. 40) in den Blick. Von der Kritik an Israel, einem Land, das nur von Feinden umgeben ist, das von den USA geschützt wird, sei es ein kurzer Schritt zum Antisemitismus, der das Land der Juden in neue existentielle Gefahr bringt. „Wer verbürgt den einflussreichen und zum Teil reichen Juden Frankreichs, das nicht eines Tages das Erbe der Drumont, Maurras, Xavier Vallat zu neuer Virulenz gelangt?“ Und Améry zählt weitere Unwägbarkeiten auf: „Das ist keine paranoide Phantasie und ist mehr als die menschliche Grundfassung der Gefahr. Die Vergangenheit, die allerjüngste brennt.“ Womit die Aktualität dieser Aufsätze noch einmal so eindeutig belegt wird.

Im gleichen Jahr erscheint „Die Linke und der Zionismus". Aus Hassgesang gegen Israel wird schlechter Antisemitismus, wiederholt Améry. Israel entstand „mit nicht mehr und nicht weniger völkerrechtlicher Legitimation als irgendein anderer“ (S. 55), würde man seine Menschen ihren Gegnern ausliefern, würden sie kurzen Prozess mit ihnen machen. Antizionismus reiche dem Antisemitismus den kleinen Finger, dem die ganze Hand folge, warnt Améry. Die gleiche Tonlage bestimmt 1973 seinen Aufsatz „Juden Linke – Linke Juden. Ein politisches Problem“.

1976 schlägt Améry Alarm: „Der neue Antisemitismus“. Noch vor fünf Jahren sei das unmöglich gewesen, berichtet er, nun stehe der Antisemitismus „… im Begriffe, sich wieder in die politische Diskussion einzudrängen und sich unverschämt breit zu machen.“ (S. 73) Und wieder erinnert er an Sartre, dessen „Überlegungen zur Judenfrage“ immer noch „das letzte Wort in der Analyse eines Problems sei, welches in noch höherem Grade als Kolonialismus und Imperialismus der ‚Fleck auf der Ehr‘ der zivilisierten Menschheit ist.“ (S. 72 f.) Und dann bedauert Améry, die Kritik an Israel könne einhergehen mit der Behauptung, man sei ja kein Antisemit und er zitiert Hans Mayer: „Wer behauptet, dass er wohl Antizionist sei, aber beileibe nichts gegen die Juden sagen wolle, mache sich und anderen etwas vor,“ (S. 77) schrieb dieser in »Außenseiter« (1975). Améry beharrt darauf: Israel, „… das ist die Möglichkeit, die Virtualität der Obdachfindung“. (S. 82) Wird sie in Frage gestellt, ist allerhöchste Gefahr im Verzug.

1976 in seiner Rede zur Woche der Brüderlichkeit sprach Améry über „Der ehrbare Antisemitismus“ und zitiert wieder die gleiche Passage aus Hans Mayers »Außenseiter«: „Der Staat Israel ist ein Judenstaat. Wer ihn zerstören will, erklärtermaßen oder durch eine Politik, die nichts anderes bewirken kann als eine solche Vernichtung, betreibt den Judenhass von einst und jeher.“ (S. 87) Ehrbarer Antizionismus gehe nicht, so lautet Amérys Botschaft. Und er wiederholt: „Die Virtualität aber ist entscheidend.“ (S. 92) Die Möglichkeit, dort Schutz zu finden. Und Améry erinnert wieder an Sartre, der seine »Überlegungen zur Judenfrage« verfasste, „… zu einer Zeit, da der Brandgeruch von Auschwitz noch in der Luft hing.“ Zwar habe sich dieser Brandgeruch mit den Jahren verflüchtigt, und dennoch: „In Israel muss jeder Jude um sein Leben zittern, sei es auch der tapferste. Und mit ihm alle Juden in allen Ländern der Erde. Mag sein, es weiß, begreift nur, wer Zeuge des Mordrauschs im Dritten Reich war.“ (S. 112)

Heiner Wittmann

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Der neue Antisemitismus

Mit einem Vorwort von Irene Heidelberger-Leonard

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Beteiligte Personen

Jean Améry

Jean Améry, im Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Intellektuellen der sechziger und siebziger Jahre. Sei...

Jean Améry, im Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Intellektuellen der sechziger und siebziger Jahre. Seine bahnbrechenden Essays sind in ihrer Bedeutung vielleicht nur mit den Schriften Hannah Arendts und Theodor W. Adornos zu vergleichen. Als Reflexion über die Existenz im Vernichtungslager stehen sie vermutlich Primo Levis Büchern am nächsten. Zugleich jedoch hat Améry wie kaum ein anderer Intellektueller die deutsche Öffentlichkeit mit fran...