trustedshops
Käuferschutz
/ 5.00
|
PSYCHE, 1997, Jg. 51, Ausgabe 9-10

PSYCHE, 1997, Jg. 51, Ausgabe 9-10

Margarete Mitscherlich zum 80. Geburtstag

eJournal

26,00 EUR
26,00 €
26,00 € (A)
Abonnieren
Lieferbar in E-Library

Bibliographische Angaben


Erscheinungstermin: 01.09.1997
ISSN print: 0033-2623 / ISSN digital: 2510-4187

Details


Editorial
Editorial
Formate: pdf
Seite 817 - 819
Hauptbeitrag
»Forsche nicht nach, wenn die Freiheit dir lieb ist; denn mein Gesicht ist ein Kerker der Liebe«. Anmerkungen zu Sigmund Freuds und Kurt Eisslers »Leonardo«

Obwohl die Psychoanalyse ihr Augenmerk vorrangig auf den Schmerz, das Leiden des Menschen richtet, beschreibt Freud in seiner Leonardo-Studie eine Idylle: die Idylle einer durch keinerlei väterliche Einschüchterungsversuche getrübten frühen Mutter-Sohn-Beziehung. Der Leonardo-Studie Freuds stellt Reemtsma die ein halbes Jahrhundert später entstandene Leonardo-Interpretation K. R. Eisslers zur Seite. Auch wenn Eissler mit seiner Studie zunächst seine theoretische Treue Freud gegenüber habe unter Beweis stellen wollen, sei er zu einer gegenteiligen Schlußfolgerung gelangt, derzufolge Leonardo, von phobischen Ängsten und Konflikten gepeinigt, sich ständig an der Grenze zur psychischen Dekompensation bewegt habe. Nach einer philologischen Analyse der Gliederungsschwächen, Widersprüche, Auslassungen und Schwankungen in der Intensität stilistischer Mittel, die der Literaturwissenschaftler Reemtsma in Eisslers Leonardo-Buch entdeckt, vermutet der Autor, daß diese stilistische Inkonsistenz mit Eisslers – indirekt und unterschwellig einfließender – hypothetischer Annahme einer Vergewaltigung des kleinen Leonardo durch seinen Vater im Sinne einer erzwungenen Fellatio in Zusammenhang zu bringen sei.

»If you prize freedom, inquire no further; for my face is a dungeon of love«. Notes on Sigmund Freud’s and Kurt Eissler’s »Leonardo«
Although psychoanalysis tends to center on pain and suffering, Freud’s study of Leonardo da Vinci is the description of an idyll, the idyll of an early mother-son relationship unaffected by any attempts at intimidation on the part of the father. Reemtsma compares and contrasts Freud’s study with the one by Kurt Eissler, written some fifty years later. For all Eissler’s initial empressement in swearing his theoretical allegiance to Freud, the conclusions he comes to are radically different. Eissler’s Leonardo is a man tormented by phobic anxieties and conflicts, constantly on the verge of psychic decompensation. After a philological discussion of the structural weaknesses, the contradictions, omissions and instances of erratic style identifiable in Eissler’s book, the author suggests that these inconsistencies are connected with Eissler’s covert and implicit hypothesis that Leonardo had been forced into performing acts of fellatio by his father.

Formate: pdf
Jan Philipp Reemtsma
Seite 820 - 834
Metamorphosen von Leben und Tod. Ausblick auf eine Theorie der Hylomatie

Die moderne kapitalistische Gesellschaft, die unter dem Objektiv des Warentauschs und des systematisch erzeugten Wissens steht, treibt Sigusch zufolge ein neues Objektiv hervor, welches er mit dem Begriff der Hylomatie zu fassen versucht. Gesellschaftlicher Primat der Hylomatie heißt, daß einerseits die Subjekte sich ihrer Lebendigkeit nur noch dadurch versichern können, daß sie alles zum Stoff »für sich« machen, sich den unbelebten Dingen angleichen und so selber zum toten Stoff werden; daß andererseits die Dinge – das Auto, der Fernseher, der Computer, das Internet etc. – gleichsam beseelt werden und auf diese Weise ein Eigenleben entfalten, welches das der Subjekte längst in den Schatten gestellt hat. An einer Fülle von Phänomenen aus Alltagsleben, Technik, Medizin und Wissenschaft demonstriert der Autor, worauf der moderne, postfordistische Kapitalismus hinausläuft – auf die definitive Überflüssigmachung und Abschaffung des Individuums. Diesem Sachverhalt kann nur eine pessimistische Theorie des Anthropofugalismus gerecht werden, die nicht hinter die kritischen Einsichten von Marx, Freud, Anders, Adorno und Foucault zurückfällt.

Metamorphoses of Life and Death. Toward a theory of hylomatia
In Sigusch’s view, modern capitalist society centered on the exchange of goods and the systematic production of knowledge is in the process of engendering a new central objective which he describes in terms of the concept of »hylomatia«. In a society where hylomatia is the supreme objective, human subjects can only ascertain that they are in fact alive by reducing everything around them to matter »for itself«, aspiring to the status of inanimate objects and thus becoming dead matter themselves. Things, on the other hand (cars, televisions, computers, the Internet), are imbued with something like a spirit and hence develop a life of their own which has long since outstripped that of the subjects. With an abundance of examples taken from everyday life, technology, medicine and science, the author demonstrates what the logical conclusion of modern, post-ordian capitalism must be – the ultimate redundancy and abolition of the human individual. The only theory adequate to the description of this process is a pessimistic anthropo-fugalism as austere in its radical veracity as the critical insights of Marx, Freud, Anders, Adorno and Foucault.

Formate: pdf
Volkmar Sigusch
Seite 835 - 874
Die psyschoanalytische Zeitdiagnose und das Geschichtsbewußtsein der Deutschen

Nach einer Definition von Zeitdiagnosen als nicht-normative Deutungen zeitgenössischer Ereignisse diskutiert die Autorin am Beispiel der »Unfähigkeit zu trauern« von Alexander und Margarete Mitscherlich, welche wissenschaftlich begründeten Fragen sich beim Verfassen psychoanalytischer Zeitdiagnosen stellen und wie diese präzisiert werden können. Brede begrenzt ihre Überlegungen auf den von den Mitscherlichs thematisierten Aspekt der Struktur des Geschichtsbewußtseins der Deutschen, wobei sie in einem ersten Schritt das Verhältnis von Geschichte und Wahrheit bei Freud diskutiert. Sodann setzt sich die Autorin mit dem Verhältnis von Gegenwart zu Vergangenheit unter dem Gesichtspunkt der Traditionsbildung bei Freud auseinander, um in einem abschließenden Schritt die psychoanalytisch-methodischen Möglichkeiten der Erschließung von Zeitgeschehen zu erwägen und Beziehungen zur Geschichtswissenschaft aufzuzeigen.

The Way It Is Now. Psychoanalytic diagnoses of current events and German historical awareness
After defining the term »Zeitdiagnosen« (»diagnoses of the age«) as nonnormative interpretations of current events, the author takes Alexander and Margarete Mitscherlich’s book »The Inability to Mourn« as a point of departure for the discussion of the issues that present themselves when undertaking a scientifically grounded Zeitdiagnose, and the way in which those issues can be more accurately contoured. Brede concentrates on a topic thematized by the Mitscherlichs: the structure of German historical awareness. She approaches this first of all by way of a discussion of the relation between history and truth in Freud’s writings, moving from there to an engagement with the relation between present and past as adumbrated in Freud’s concept of the »formation/structure of tradition«. The concluding section is given over to thoughts on the possibilities open to psychoanalytic methodology for »reading« the meaning of current events and demonstrating the relations to the science of history.

Formate: pdf
Karola Brede
Seite 875 - 904
Die Veränderung der psychischen Dynamik durch historische Prozesse am Beispiel von Dorothea Schlegels »Florentin«

Die Romantik gilt als Epoche des revolutionären Enthusiasmus, deren Aufbruchstimmung schließlich in konservative, restaurative Strömungen umschlug. Am Beispiel des von Dorothea Schlegel im Jahre 1801 verfaßten Romans »Florentin« untersucht Erdheim die Gründe für Aufbruch und Rückkehr der Romantiker zur Anpassung an die herrschende Ordnung und die darunter verborgene Sehnsucht nach beruhigender Unbewußtheit. Die Umstrukturierung der Psyche, die Veränderung des Verhältnisses zwischen Es, Ich und Überich sowie der aufgrund soziokultureller Prozesse bedingte Zusammenbruch des Antagonismus von Familie und Kultur, durch den Widersprüche eingefroren und Geschlechtergrenzen restauriert wurden, stehen im Mittelpunkt der Betrachtung.

Psychodynamic Change through Historical Processes. With reference to Dorothea Schlegel’s »Florentin«
Romanticism is generally regarded as an epoch in which the initial forward-looking thrust of revolutionary fervor ultimately lost impetus and broke down into conservative, reactionary currents. Erdheim takes Dorothea Schlegel’s novel »Florentin« (1801) and examines it for the causes of Romantic unrest and more especially the reasons for the return to compliance with the ruling order, which Erdheim interprets as a covert longing for the reassurances of unconsciousness. The study centers on the restructuring of the psyche, changes in the relations between id, ego and superego, and the socio-cultural processes leading to the collapse of the antagonism between family and ambient civilization and with it to the pacification of frictions and the restoration of gender delimitation.

Formate: pdf
Mario Erdheim
Seite 905 - 925
Gender ohne Sex. Geschichte, Funktion und Funktionswandel des Begriffs »Gender«

Die Einführung des Gender-Begriffs in die Geschlechter- und Sexualitätsdebatte diente ursprünglich dazu, das, was im Begriff des Sex unterzugehen droht – seine soziale und psychische Konnotierung –, semantisch zum Vorschein zu bringen: Gender lebt von der Kraft, mit der es sich vom Sex abstößt. Die Kraft dieser Abstoßung ist inzwischen in Vergessenheit geraten; geredet wird nur noch vom sexgereinigten Gender, und zwar im Sinne einer wissenschaftlichen und politischen Hauptmetapher. Reiche zeichnet die Entwicklung der Gender-Debatte bis hin zu ihrer völligen Loslösung von allen essentialistischen und materiellen Referenzen und Gehalten (die der Sex impliziert) im Werk von Judith Butler nach, in welchem alles und jedes »Konstruktion« ist – bis auf das Hetero, das eins ist mit der Ubiquität sozialer Macht im Sinne Foucaults. Demgegenüber beharrt Reiche darauf, daß Freuds Konzept der konstitutionellen Bisexualität an seinen Rändern offen genug ist, den Boden einer deterministischen Biologie zu verlassen und der Konstruiertheit des Geschlechts Genüge zu tun. Den Sieg von Gender über Sex deutet der Autor als ein Zeitzeichen, in dem sich der Wunsch nach einer konfliktfreien Sexualität verdichtet – auf Kosten der Verdrängung der Sexualität.

Gender without Sex. The gender concept – history, function and change of function
Originally, the introduction of the gender concept into the debate on the sexes and sexuality served to point up semantically what threatened to be submerged in the concept »sex«. Gender is fueled bythe force with which it divorces itself from sex. Today the force of this dissociation has been lost sight of. Sex-free gender is a buzzword, an all-purpose metaphor used freely in scientific and political debate. Reiche traces the development of the gender debate with reference to the work of Judith Butler, which embodies a complete dissociation from all essentialist and material references and contents which the term »sex« necessarily implies. In Butler’s work everything is a »construction« except the hetero, which is one with the ubiquity of societal power as posited by Foucault. Reiche insists that Freud’s concept of constitutional bisexuality is open-ended and flexible enough to both forswear deterministic biology and capture the constructed nature of sexual difference. The author interprets the triumph of gender over sex as a sign of the times, a materialization of the wish for conflict-free sexuality. The price to be paid for the consummation of that wish is the repression of sexuality.

Formate: pdf
Reimut Reiche
Seite 926 - 957
Traum, Identifizierung und historischer Kontext. Über die Notwendigkeit, die NS-Vergangenheit in den psychoanalytischen Deutungsprozeß einzubeziehen

In den Anfängen der Psychoanalyse und ihrer Behandlungstechnik dominierte die Bestrebung, verdrängte traumatische Erinnerungen aus der infantilen Vergangenheit ans Licht zu bringen und bewußt zu machen. Heute hingegen überwiegt die Auffassung, die via regia zur Aufdeckung unbewußter Konflikte sei die ausschließliche Analyse von Übertragung und Gegenübertragung im Hier und Jetzt der analytischen Situation. Im Blick auf die NS-Vergangenheit und deren traumatische Erbschaft bei der zweiten und dritten Generation plädiert Bohleber dafür, die rekonstruktiv ermittelte historische Realität in den Deutungsprozeß einzubeziehen, weil nur durch das erinnerte und bezeugte reale Trauma dessen pathogene Logik durchbrochen werden könne. Die Rekonstruktion der traumatischen Realität fördert die notwendige Abgrenzung von Phantasie und Wirklichkeit und macht beide einer sekundären Bearbeitung zugänglich, wie der Autor anhand von Fallvignetten demonstriert. Sie hilft, die transgenerationellen Identifizierungen mit NS-Inhalten zu erkennen und damit die Generationsschranken zu sichern.

Trauma, Identification and Historical Context. On the necessity of including legacies of National Socialism in the process of psychoanalytic interpretation
Early psychoanalysis and its treatment techniques were dominated by the concern to bring to light repressed early traumatic memories of infancy and make the patient aware of them. Today, this approach has been largely superseded by the conviction that the via regia for uncovering unconscious conflicts is the exclusive analysis of transference and countertransference in the here-and-now of the psychoanalytic situation. Focussing on the Nazi past in Germany and the traumatic effects of this heritage on the second and third generation, Bohleber advocates integrating the reconstruction of this historical reality into the interpretation process, the only way of breaking down the pathogenic logic of the real trauma being that of recall and explicit testimony. The reconstruction of traumatic reality encourages the essential distinction between reality and fantasy and makes it possible for the patient to work on them both at a secondary level, as the author demonstrates with reference to case vignettes. This reconstruction helps in recognizing and hence preventing transgenerational identifications with elements of Nazi ideology.

Formate: pdf
Werner Bohleber
Seite 958 - 995 | doi: 10.21706/ps-51-9-958
Zur »Wiederkehr des Dritten Reiches in der Psychotherapie«. Eine Auseinandersetzung mit Tilman Moser über psychoanalytische Behandlungstechnik

Tilmann Moser wirft den Freudianern vor, sie hätten sich zu wenig mit den psychischen Folgen und Spätfolgen des Dritten Reiches bei den nichtjüdischen Deutschen beschäftigt und keine diesen adäquate Behandlungstechnik entwickelt. Zwar konzediert Vogt, daß es Analytiker gebe, die vor allem verkappte NS-Inhalte in Analysen nicht ausreichend zur Kenntnis nehmen und bearbeiten. Aber er bestreitet, daß die psychoanalytische Behandlungstechnik mit ihrer Intensivierung des Erlebens im Rahmen einer Übertragungsanalyse nicht geeignet sei, die Folgen von Traumatisierung und Gewalt angemessen zu thematisieren und zu bearbeiten. Gegen Moser und seine »Inszenierungen« hält der Autor an der Balance des Verhältnisses von innerer und äußerer Realität fest und damit an einem Begriff von Realität, der dem entspricht, den Freud nach der Verabschiedung bzw. Relativierung seiner Verführungstheorie etablierte.

On »The Return of the Third Reich in Psychotherapy«. An engagement with Tilmann Moser’s ideas on psychoanalytic treatment techniques
Tilmann Moser accuses the Freudians of taking too little interest in the psychic consequences and deferred psychological effects of the Third Reich among non-Jewish Germans, hence failing to develop suitable treatment techniques for helping such patients. Vogt concedes that there are analysts who are reluctant to identify and work on legacies of the Nazi era in analyses, particularly if they eventuate in a covert form. But he rejects the assertion that psychoanalytic therapy with its intensification of experience in the framework of a transference analysis is not a suitable setting for thematizing and working on the consequences of traumatization and violence. In opposition to Moser and his concept of »enactments«, the author upholds the idea of a balance in the relation between internal and external reality and with it a concept of reality corresponding to that of Freud after eschewal (or at least relativization) of the theory of seduction.

Formate: pdf
Rolf Vogt
Seite 996 - 1015
Buchbesprechungen
Buchbesprechungen
Formate: pdf
Alfred Krovoza, Christine Walde
Seite 1016 - 1020
Entdecken Sie Bücher mit verwandten Themen

Hefte der gleichen Zeitschrift

Alle Hefte der Zeitschrift