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Lesebericht: Volker Hunecke, Napoleons Rückkehr. Die letzten hundert Tage - Elba, Waterloo, St. Helena

Verfasst von Heiner Wittmann
16.6.2015

Noch heute sind achtzig Prozent der Besucher des Schlachtfeldes von Waterloo, wie Jürg Altwegg heute in der FAZ: „Eine glorreiche Niederlage“ berichtet, Viele Besucher des Schlachtfeldes seien heute noch davon überzeugt, Napoleon habe diese Schlacht für sich entschieden. Sein Genius war gar nicht in der Lage, so eine Schlacht zu verlieren. Auch nach seinem Tod am 5. Mai 1821 in der Verbannung, haben wohl viele eine solche Schreckensmeldung mit der Antwort: Napoleon könne nicht sterben, abgetan.

Auch wenn sich jetzt der Jahrestag dieser Schlacht zum 200. Mal jährt, wirkt die Napoleon-Legende 1) immer noch nach. Auch seine Gegner konnten sich ihr nicht entziehen. Die Hundert Tage = „Napoleon Redivivus“ (S. 9) waren eine geglückte Nahrung des Napoleon-Kults, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders von Historikern, Schriftstellern und Dichtern gepflegt wurde. „Man hat außer in Frankreich keinen Begriff davon, wie sehr noch das französische Volk an Napoleon hängt. Deshalb werden auch die Missvergnügten, wenn sie einmal etwas Entscheidendes wagen, damit anfangen, dass sie den jungen Napoleon proklamieren, um sich der Sympathie der Massen zu versichern,“ schrieb Heinrich Heine für die Augsburger Allgemeine Zeitung am 19. Januar 1832 über den Sohn Napoleons, den Herzog von Reichstatt, der am 22. Juli 1832 in Schönbrunn stirbt.

Lesebericht: Volker Hunecke, Napoleons Rückkehr. Die letzten hundert Tage - Elba, Waterloo, St. Helena

Und in Heines Französischen Zuständen heißt es weiter „‚Napoleon’ ist für die Franzosen ein Zauberwort, das sie elektrisiert und betäubt. Es schlafen tausend Kanonen in diesem Namen, ebenso wie die Säule des Vendômeplatzes, und die Tuilerien werden zittern, wenn einmal diese Kanonen erwachen. […] sein Bild sieht man überall, in Kupferstich und Gips, in Metall und Holz, und in allen Situationen. Auf allen Boulevards und Carrefours stehen Redner, die ihn preisen, den Mann, Volkssänger, die seine Taten besingen.“ (H. Heine, Französische Zustände, Artikel II, in: ders., Sämtliche Schriften, hg. v. K. Pörnbacher, Bd. 5. Schriften 1831-1837, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981, S. 89-279, hier: S. 119 f.)

Heine hat schon 1828 seine Leser in seinen Reiseberichten gebeten, ihn nicht für einen Bonapartisten zu halten. Den Handlungen des Kaisers gelte seine Huldigung nicht, sondern nur dem Genius, stellt klar, und seine Liebe für ihn reiche nur bis zum 18. Brumaire, der Tag, an dem Napoleon die Freiheit verraten habe. Trotz eindeutiger Kritik am Kaiser kann sich auch Heine der Faszination nicht entziehen: „Vielleicht nach Jahrtausenden, wird ein spitzfindiger Schulmeister, in seiner grundgelehrten Dissertation, unumstößlich beweisen, dass der Napoleon Bonaparte ganz identisch sei mit jenem anderen Titane, der den Göttern das Licht raubte und für dieses Vergehen auf einem einsamen Felsen, mitten im Meere, angeschmiedet wurde, preisgegeben einem Geier, der täglich sein Herz zerfleischte.“ (H. Heine, Reisebilder. Dritter Teil. Italien (1828). I. Reise von München nach Genua, in: ders., Sämtliche Schriften, hg. v. K. Pörnbacher, Bd. 3. Schriften 1822-1831, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981, S. 309-389, hier: S. 374) Und als Heine 1832 in die Normandie reist, stellt er fest: „Ganz unbedingt verehrt man den Kaiser auf dem Lande; da hängt in jeder Hütte das „Porträt ‚des Mannes’ und zwar, wie die ‚Quotidienne’ bemerkt hat, wo das Porträt des Haussohnes hängen würde, wäre er nicht von jedem Manne auf einem seiner hundert Schlachtfelder hingeopfert worden.“ (H. Heine, Französische Zustände, Tagesberichte aus der Normandie, in: ders., Sämtliche Schriften, hg. v. K. Pörnbacher, Bd. 5. Schriften 1831-1837, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981, S. 267 f.)

Kaum eine andere Gestalt der neueren europäischen Geschichte hat in einem ähnlichen Maße die Phantasie, die Erwartungen und das Entsetzen nahezu aller europäischen Völker beschäftigt. Noch sein Neffe > Louis-Napoleon berief sich auf sein Erbe und konnte mit seinem Namen das höchste neugeschaffenen Präsidentenamt der II. Republik erringen, seinen dritten, erfolgreichen Staatsstreich am 2. Dezember 1851 unternehmen und ein Jahr später das Kaiserreich restaurieren und es als Second Empire bis 1870 behaupten.

Am 31. März 1814 dringen die Alliierten in Paris ein, und Napoleon I. dankt ab und erhält als Rückzugsort Elba. Ludwig XVIII. kommt zurück und verkündet am 4. Juni die Charte, die neue Verfassung wird „oktroyiert“ und hat damit trotz aller Liberalität einen Geburtsfehler. Die Restauration beginnt, während in Wien der Kongress tanzt/tagt. Am 7. März 1815 trifft die Nachricht ein, dass Napoleon Elba verlassen habe. Es folgen die 110 Tage bis zu seiner endgültigen Verbannung nach St. Helena. Napoleon redivivus (S. 9) forderte sein Land und den ganzen Kontinent heraus, so beschreibt Volker Hunecke > Napoleons Rückkehr Die letzten hundert Tage – Elba, Waterloo, St. Helena, ein Band der jetzt bei Klett-Cotta erschienen ist. Auf 220 Seiten erklärt Hunecke die kurzzeitige Restauration der Kaiserherrschaft. Er zeigt die Fehler der Restauration unter Ludwig XVIII. und zugleich, auch welch schmalen Grat Napoleon sich bewegen musste, um einerseits an den vergangenen Ruhm anknüpfen zu können, und andererseits die Erwartungen, die die Franzosen an die Freiheit knüpften, nicht zu enttäuschen: Ich habe den Ideen des Grand Empire entsagt, soll Napoleon gesagt haben. (S. 11) Zugleich erinnerten seine Hundert Tage mit Nachdruck an die revolutionären Ereignisse, die auch nach seiner Verbannung wieder verstärkt zur Beurteilung der Restauration herangezogen wurden und schließlich zu ihrem Scheitern in der Juli-Revolution 1839 führten.

Am 22. April 1815 gibt es schon wieder eine neue Verfassung: Der Acte additionel aux constitutions de l’Empire. Auch eine Verfassung mit einem Geburtsfehler, da sie den ausdrücklichen Bezug auf das Kaiserreich sogar in ihrem Titel trägt. Der Hauptautor der Acte, Benjamin Constant, konnte sich gegenüber Napoleon nicht durchsetzen, der auf dieser Wahrung der Tradition bestand. Nach der Verbannung Napoleons wird die Charte wieder in Kraft gesetzt, diesmal mit dem erneuten Geburtsfehler, nur wegen der Niederlage von Waterloo überlebt zu haben. (vgl. S. 13)

Napoleon landet bei Cannes in Frankreich und besteigt nach nur 20 Tagen wieder seinen Thron in Paris. Kein Tropfen Blut. Der Kaiser kehrt zurück. Seine Gegner, seine Fans befürchteten, hofften und glaubten daran, dass der Kaiser wiederkehren werde. Das war nur eine Frage der Zeit, von Monaten vielleicht nur. Die Restauration musste das riesige Heer Napoleons abbauen und setzte viele Soldaten auf demi-solde, und schuf damit die Armee, die nach seiner Rückkehr mit wehenden Fahnen zu ihm überlief. Nie war die Invasion eines Landes durch nur einen einzigen Mann (vgl. Chateaubriand) erfolgreicher.

Huneckes Darstellung erklärt die Ereignisse in Zusammenhang mit präzisen Erläuterungen der Verfassungstexte, und das macht sein Buch so lesenswert. Nach seiner Rückkehr musste Napoleon sich erst einmal den verfassungsrechtlichen Fragen widmen. Constant eigentlich sein Gegner beriet ihn dabei, machte Kompromisse und schuf einen der faszinierendsten Texte der französischen Verfassungsgeschichte. Erbe, Tradition, ein bisschen mehr Freiheit, der Versuch, die Herrschaft vor einem erneuten Verlust zu bewahren. Das alles ging gründlich schief.

Zwar gelang es dem Feldherren noch, den anrückenden Preußen in Waterloo eine Niederlage beizubringen, aber Verzögerungen und taktische Fehler auf Seiten der Franzosen häuften sich, das Kriegsglück war dahin, oder der Wille der Alliierten, Napoleon definitiv zu besiegen war so stark wie nie. Victor Hugo war sich sicher. Napoleon konnte diese Schlacht nicht mehr gewinnen. (vgl. S. 146) Seine Diktatur passte nicht mehr in die Zeit. „Er störte Gott,“ befand Hugo (ib.)

Zwanzig Tage von der Landung bis auf den Thron, nochmal zwanzig Tage, um nach Waterloo am 8. Juli 1815 in Rochefort das Schiff zu besteigen, das ihn in die Verbannung bringen sollte. Wiederum beriet Constant den Kaiser stundenlang im Élysée-Palast, bis dieser schließlich seinen Bruder Lucien bat, nach seinem Diktat seine Abdankung niederzuschreiben. (cf. S. 164 f.)

Noch nie hatte ein verbannter Feldherr ein solches Comeback inszeniert. Wie gesagt, er war ja gar nicht fähig zu sterben. („Ceux-ci disent qu’il est mort ! Ah bien oui, mort ! On voit bien qu’ils ne le connaissent pas. Ils répètent c’te bourde là, pour attraper le peuple et le faire tenir tranquille dans leur baraque de gouvernement.“ H. de Balzac, Le médecin de campagne, in: ders., Œuvres complètes, éd. J.-P. Castex, Bd. IX, Études de mœurs. Scènes de la vie de campagne, S. 536) Auch nach seinem vermeintlichen Tod im Mai 1821 herrschte seine Faszination ungebrochen weiter. Am 14. und 20. Mai 1840 berichtet Heine für die Augsburger Allgemeine Zeitung über den Beschluss, die sterblichen Überreste Napoleons nach Frankreich zu überführen: Die Wirkung dieser Nachricht, die als großer Akt der Gerechtigkeit empfunden werde, habe alle Erwartungen des Ministeriums übertroffen.F F Und Heine rechnet mit Schwierigkeiten für die Regierung: „Während unten im Volk alles jubelt, jauchzt, glüht und aufflammt, grübelt man oben, in den kälteren Regionen der Gesellschaft, über die Gefahren, die jetzt von Sankt Helena aus täglich näher ziehen und Paris mit einer sehr bedenklichen Totenfeier drohen.“ (H. Heine, Lutetia, in: ders., Sämtliche Schriften, hg. v. K. Pörnbacher, Bd. 5. Schriften 1831-1837, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981, S. 271)

Im August, also noch bevor die Gebeine des Onkels in Frankreich eintreffen, hat der Neffe in Boulogne-sur-Mer eine zweiten wiederum erfolglosen Staatsstreich versucht. Er kann den toten Onkel in Paris nicht grüßen, weil er in Haft ist. Aber sechs Jahre später flieht er aus Fort Ham und wird im Dezember 1848 zum Staatspräsidenten gewählt. Noch ein Staatsstreich im Dezember 1851, und der neue Kaiser heißt am 2. Dezember 1852 > Napoleon III.

Heiner Wittmann

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