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Lesebericht: Anne Rabe, Die Möglichkeit von Glück

Verfasst von Heiner Wittmann
20.11.2023

Stine kommt Mitte der achtziger Jahre in der DDR auf die Welt. Sie ist drei Jahre alt, als die Mauer fällt, also ein Kind der Wendezeit. Bewusst erlebt sie nur das wiedervereinigte Deutschland. Aber ihre Wurzeln, die Wurzeln ihrer Familie lassen sie nicht los: „Du versuchst Dich zu erinnern,“ (S. 9); zu sehr ist ihr Umfeld von der DDR geprägt und sie beginnt nachzuforschen, entdeckt Erinnerungen und begreift, wie intensiv ihre Familie mit dem System in der DDR verbunden war, ziemlich unerschütterbar in der festen Meinung, auf der richtigen Seite zu stehen. Lebte die Familie damals im Glück oder war es nur Die Möglichkeit von Glück? Der Titel dieses Romans ist gut gewählt, verrät er doch Abstand und zugleich familiäre Verbundenheit, der Stine sich trotz allem nicht entziehen kann.

Lesebericht: Anne Rabe, Die Möglichkeit von Glück

Wie war das noch mit der ersten Wohnung? In der Nähe der Ostsee? Separates WC außerhalb und die Nazis auf dem Spielplatz gegenüber? Die wilden Schlittenfahrten mit dem kleinen Bruder Tim: immer rechtzeitig abspringen. In der Erinnerung verschieben und verschränken sich die Ereignisse. Die eigene Geburt oder das, was man Stine davon erzählt hat, und zwanzig Jahre später wird sie die Mutter von Klara. Kurt ist schon seit zwei Jahren auf der Welt.

In diesem Roman fällt jetzt beim Durchblättern ganz besonders das auf, was Sartre in seiner Untersuchung des Falls Flaubert analysiert, nämlich die Bedeutung des Wiederlesens, des erneuten Lesens eines Romans. Gerade bei diesem Roman von Anne Rabe wird beim wiederholten Durchblättern so deutlich, wie geschickt sie das Thema Erinnerung in allen ihren Erscheinungen hier rekonstruiert und in die Romanform umgesetzt hat. Viele Fakten überliest man bei der ersten Lektüre und die zweite Lektüre lässt ihren Stellenwert erst so richtig erkennen … damit kann man die Bedeutung Stines Nachdenkens über die Jahre der Kindheit erst wirklich erfassen.

Was folgt ist eine ziemlich schonungslose Aufarbeitung aller Hinweise, denen Stine habhaft werden kann. Sie setzt das Puzzle ihrer Familie zusammen, übergeht keine Verletzungen, gibt nebenbei zu erkennen, wie der Krake der Diktatur auch ihre Familie und Verwandten fest im Griff gehalten hat. Ihr Roman liest sich wie der Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, deren einzelne Stationen erst im Rückblick sachgerecht eingeordnet und bewertet werden können.

Eine Spurensuche auch nach der persönlichen Identität und immer wieder das Staunen, darüber, wie die Menschen das System DDR ertragen konnten. Auf dem Klappentext steht, Anne Rabe erzähle „von einer Generation, deren Herkunft eine Leerstelle ist“. 

Und wie steht es konkret um ihren Rückblick in die 1986 dahinsiechende DDR? Natürlich konnte sich zu diesem Zeitpunkt niemand vorstellen, dass der Fall der Mauer bald kommen würde. Nein, sie lebten nicht in Deutschland, sondern in der DDR, wie ihre Mutter dies ihr immer wieder eintrichterte. Trotz Aufbau Ost und Solidarbeitrag gibt es immer noch Unterschiede zwischen West und Ost, allein wie der Blick auf die Vergangenheit gerichtet wird. Im Westen könnte man sagen, Wirtschaftswunder, Westbindung, Freiheit und im Ost bleibt im Rückblick nur die Diktatur, die täglichen kleinen und großen Schikanen.

Noch 1996 hing Stines Vater in Gedanken dem Sozialismus und Kommunismus nach: „Klassenunterschiede sind eine Erfindung der Herrschenden,“ (S.30) hörte Stine von Ihrem Vater.

Und später begibt sich Stine auf Spurensuche: Opa Paul bekommt hier eine Biographie, die sich wie ein roter Faden durch diesen Roman zieht. Und da ist auch sein Bruder Wilhelm, der es aber in den Westen nach München geschafft hatte. Stine sucht: wieso hatte sich Paul für den Osten entschieden?

Stine erinnert sich an ihre Freundin Ada, der sie zum ersten Mal bei der Einschulung begegnete und wie sie sich nach der Revolution gestritten und entfremdet hatten, es ging um die Kirche in der DDR, aber auch um die Erinnerung an die DDR.

Kapitel 14: Stine berichtet über die DDR-Literatur, in die sie sich vergraben hat: Spurensuche nach den Vorfahren, waren NS-Täter unter ihnen? Also Akteneinsicht beantragen. Wer war der Dr. Paul Bahrlow? Stine wälzt Fotoalben und durchsucht Tagebucheinträge und rekonstruiert das Leben ihres Opas Paul. Das alles bleibt nicht ohne Folgen: „Manchmal drohe ich zu verschwinden. Hinter den Geschichten der anderen, hinter den Büchern, die sich wie Mauern auftürmen.“ (S. 153) Wieso? Weil Stine so offenkundig keine Bezüge zu der Epoche hat, die ihren Opa Paul geprägt hat, diese Epoche ist diese Leerstelle, die doch wiederum von ihrem Opa gefüllt wird. Und es ist Stine, die diese leere Vergangenheit rekonstruiert.

Das Verhältnis zu ihren Eltern entwickelt sich nicht gut. So wird der Roman auch in dieser Hinsicht für Stine zu einer Aufklärung über ihre Vergangenheit, eine Suche nach ihrer Identität und dem Nachdenken darüber, ob diese Identität, die so stark mit der DDR verknüpft war, überhaupt rekonstruierbar ist? Oder bleibt die schon erwähnte Leerstelle, weil das Ende der DDR auch die Familienbande auflöste? Andererseits war die DDR z. B. mit ihrer Vielzahl von Auszeichnungen aller Art allem Anschein nach ein so stark in sich gefestigtes Gebilde, dass vom heutigen Standpunkt aus, nach dem so sang- und klanglose Einsturz dieser Hierarchien den Rückblick so schwierig macht. Dieser Kitt der Gesellschaft mit „hunderten Preisen und Auszeichnungen“ (S. 178) verschwand einfach.

Opa Paul wurde Schuldirektor in einer Kleinstadt nördlich von Berlin und Stine kommt später dort ins Stadtarchiv und findet interessante Spuren z.B. das Bändchen „Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit KgU“ (S. 203) und findet einen Hinweis von Heiner Kuhfuß, einer von sieben zum Tode verurteilten Jugendlichen.

Ein Schlüsselsatz: „Die Gemeinschaft, der ich angehört hatte, gab es nicht mehr.“ (S. 208) Stine will das Knäuel der Familiengeschichte entwirren, aber das Knäuel gibt es nicht mehr. Vgl. S. 228) Und dennoch gelingt ihr eine ganz erstaunliche Rekonstruktion. Mit Akribie verfolgt Anne Rabe ganz verschiedene Spuren, es wird klar, wie Lebensbiographien so stark mit dem sozialen Konstrukt der DDR verknüpft waren, wie der Staat alles und jeden bevormundete und wie groß die Leere war, als die Mauer plötzlich aufging, als hätte man die Luft rausgelassen, alles fiel in sich zusammen.

Man kann sich wohl nur endgültig von dem Druck der Erinnerung befreien, wenn alles offengelegt wird und die Beweggründe der handelnden Personen gedeutet und erklärt werden. Und als Stine darauf stößt, wie Opa Paul das Verhältnis der DDR zum Nationalsozialismus zu deuten und zu erklären versucht, das verbrecherische System der Nationalsozialisten von dem der (Diktatur in der) DDR abzugrenzen, die Interpretation und Ablehnung des NS-Regimes in die Ideologie der DDR einzupassen. Und Stine versteht, dass auch ihr Opa auf seine Weise auf Spurensuche war.

Dieser Roman ist folglich auch eine Ergänzung zum Geschichtsunterricht, in dem die beiden deutschen Staaten behandelt werden. Tatsächlich eröffnet er anhand einer Familiengeschichte Einsichten in die Funktion und Aufgabe der Geschichtsschreibung, die die Ereignisgeschichte so nicht bieten kann.

Heiner Wittmann

Die Möglichkeit von Glück

Roman

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Beteiligte Personen

© Annette Hauschild

Anne Rabe

Anne Rabe, geboren 1986, ist Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin. Ihre Theaterstücke wurden mehrfach ausgezeichnet. Als Drehbuch...

Anne Rabe, geboren 1986, ist Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin. Ihre Theaterstücke wurden mehrfach ausgezeichnet. Als Drehbuchautorin war sie Teil der Kultserie »Warten auf’n Bus«. Seit mehreren Jahren tritt sie zudem als Essayistin und Vortragende zur Vergangenheitsbewältigung in Ostdeutschland in Erscheinung. Anne Rabe lebt in Berlin. »Die Möglichkeit von Glück« ist ihr Prosadebüt.