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Lesebericht: Julja Linhof, Krummes Holz

Verfasst von Heiner Wittmann
16.2.2024

»Krummes Holz«, der 2024 erschienene Roman von Julja Linhof, ist eine gute Gelegenheit, hier einmal Grundsätzliches über das Lesen von Romanen und ganz besonders des Romans von Julja Linhof zu sagen. Ein Debütroman, das muss auf dem Klappentext mit den biographischen Angaben zu der Autorin extra hinzugefügt werden, weil man dies beim Lesen dieses vorzüglichen Werkes nicht merken würde.

Seien Sie als Leser ganz besonders auf der Hut vor Rezensionen zu diesem Band oder gar vor Interviews mit der Autorin, in denen sie etwas über ihre Absichten verrät. Natürlich will der Leser sogleich erfahren, ob gar persönliche Erinnerungen in diesen Text eingeflossen seien oder wo der Hof, auf dem diese Geschichte spielt, wirklich zu verorten sei. Solche Informationen haben – wie alle anderen biographischen Details der Autorin – erst einmal keine Bedeutung, solange Sie den Roman nicht ganz gelesen haben und Ihr eigenes Urteil feststeht. Man sollte diesen Roman zunächst lesen, diese Geschichte genießen und den Schicksalen der hier geschilderten Figuren nachgehen. Ganz ohne Vorwissen, ohne Vorurteil, gerade so, als wenn Sie das Buch gerade eben erst auf dem Stapel Ihres Lieblingsbuchladens erspäht, es sogleich erworben hätten und nun im nächsten Café mit der Lektüre beginnen würden.

Lesebericht: Julja Linhof, Krummes Holz

Noch viel mehr als dies für einen Kriminalroman gilt, so darf auch vor der Lektüre von »Krummes Holz« nichts über das Ende verraten werden. Und wenn wir in diesen Leseberichten oft auch ausführlich über den Inhalt der Bücher gesprochen haben, so darf das hier nicht geschehen, weil der Leser den Spannungsbogen hier selbst entdecken muss. Gut vorstellbar, dass es verschiedene Lesarten gibt, deren Verständnis durch zu frühe Informationen oder gar Interpretationen aus dritter Hand dem Leser verstellt werden würden.

Jirka wuchs auf einem Bauernhof auf. Die Mutter kam krankheitshalber in eine Anstalt und verstarb früh. Der Vater Georg führt ein strenges Regiment. Seine ältere Schwester Malene, sowie die Großmutter Agnes leben auf dem Bauernhof. Mit ca. 14 Jahren wird Jirka in ein Internat geschickt … die Verbindung zur Familie scheint abgebrochen zu sein. Nach fünf Jahren kehrt Jirka zum Hof seiner Eltern zurück, wohl um sich in Kürze der Musterung zu stellen. Es geht um Jirkas Heimkehr in die Vergangenheit, meisterhaft von der Autorin in Szene gesetzt durch das unmittelbare Erleben der Gegenwart und das Erforschen wie das allmähliche Verstehen der Vergangenheit. Immer wenn die frühen Jahre eine ganz besondere Bedeutung bekommen, ist die direkte Rede kursiv gesetzt; durchgängig wäre das eine klare Sache, aber auch das wird nicht konsequent verfolgt, weil dies eben nicht immer so ist, und der Leser bekommt hier eine weitere Aufgabe, dies gar als ein Stilmittel zu entschlüsseln.

Leander, der Sohn des letzten Verwalters, findet Jirka bei seiner Rückkehr auf der Landstraße und lässt ihn in den Taunus einsteigen: „Vielleicht ist das immer so, wenn man wieder in die Heimat zurückgeht. Einen Teil bringt man mit, und einen Teil lässt man hinter sich.“ (S. 10) Auf dem Hof angekommen, bekommt Jirka mit, dass Oma Agnes an Demenz leidet. Seine Schwester Malene scheint immer noch beleidigt zu sein, dass er auf ihre Bitte hin nicht bereits einige Monate früher zurückgekehrt sei …

In den Jahren haben sich alle verändert. Es ist stiller geworden auf dem Hof, das Poltern von Jirkas Vater Georg fehlt und er bekommt auch keine Auskunft, wo sich sein Vater befindet. Alle überhören geflissentlich sein Nachfragen. Nur Malene klagt über seine später Heimkehr: „Du hast den richtigen Zeitpunkt verpasst.“ (S. 76) Aber Jirka denkt sich: „Da ist das Internat, der Ort, an dem mein Inneres wieder zusammengewachsen ist.“ (S. 81)

Nicht nur die Personen um Jirka herum, auch die Räume bewahren die Erinnerungen an seine frühen Jahre. Die Gerüche, die Geräusche, die Gegenstände, alles, was sie beherbergen, ist ihm wohlvertraut. Ist er mit Agnes zusammen, funktioniert die Erinnerung an seine Kindheit nicht so recht: „Sie antwortet nicht. Hinter ihrer Stirn mahlen die Mühlen. Stück für Stück zerreiben sie die Erinnerung und lassen nur grauen Staub zurück.“ (S. 68)

Nebenbei wird der Leser bemerken, dass auf dem Hof weitergearbeitet wird. Bald ist die Gerste fällig. Malene trifft alle Vorbereitungen, ganz so, als ob sie den Hof leiten würden. Und es wird auch viel über die Funktionsweise des Anwesens berichtet, wie z. B. die Obstplantage aufgegeben wurde und die immer strenge Art des Vaters, der über alles kompromisslos wachte.

Leander beschäftigt Jirka, aber ihr Verhältnis bleibt angespannt, ohne dass Jirka den Grund dafür erkennen könnte: „… du trägst deinen Teil bei oder du packst deine Sachen.“ (S. 127)

Und da ist noch Henning, der als Flüchtling auf den Hof kam. Jirka beobachtet ihn und Leander erinnert sich an seinen Vater, wie dieser Henning damals allmählich zum Sprechen gebracht hatte. Malene klärt Jirka über das Verhältnis von Leander zu Henning auf: „Malene hat etwas in mir gesät, an dem Tag, als wir Leander und Henning zusammen im Wald verschwinden sahen, aber gewachsen, geradezu gewuchert, ist es von ganz allein.“ Jirka will zunächst seine homoerotischen Gefühle für Leander zurückhalten, für den, der Marihuana raucht, für den, der ihn nach seinem Fahrradunfall findet und versorgt. Zusammen betrachten sie Jirkas Zeichnungen, auf denen sich Leander x-mal wiederfindet.

Manchmal gehen Gegenwart und Erinnerungen wie in einer fortlaufenden Geschichte ineinander über, wodurch die meisterhafte Erzählkunst der Autorin noch ein weiteres Mal unterstrichen wird. Möglicherweise ist alles Weitere wirklich in den Kinder- und frühesten Jugendtagen schon angelegt, oder gibt es während der Tage nach der Rückkehr Jirkas auch nur den Hauch der Möglichkeit eines Neuanfangs? Jirka ist der Erzähler, mit ihm erlebt der Leser einen verletzbaren und empfindlichen Jungen, der aber auch zu seiner Erinnerung steht und sich ganz berechtigterweise nach Liebe und Geborgenheit sehnt.

Bemerkenswert wie die Geschichte des Hofs hier so detailreich geschildert wird, was der Hof aus den Menschen macht und wie sie ihm Gestalt geben und seine Geschichte bestimmen. Jirka kann sich dem allen trotz seiner Abwesenheit nicht entziehen und dennoch hat sich seit seiner Abreise ins Internat auf den Hof so vieles verändert.

Heiner Wittmann

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Beteiligte Personen

© Alena Schmick

Julja Linhof

Julja Linhof, geboren 1991, wuchs in Westfalen zwischen Hellwegbörde und Arnsberger Wald auf. Von 2012 bis 2015 studierte sie in Leipzig am Deutschen Lite...

Julja Linhof, geboren 1991, wuchs in Westfalen zwischen Hellwegbörde und Arnsberger Wald auf. Von 2012 bis 2015 studierte sie in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut. Seit sie die Stadt 2015 für ihr Illustrationsstudium verlassen hat, lebt und arbeitet sie in Hamburg. 

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