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Lesebericht: Yascha Mounk, Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee

Verfasst von Heiner Wittmann
29.2.2024

Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk hat mit seinem Buch »Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee« eine sehr präzise aufgebaute Abhandlung – mit umfangreichen Anmerkungen – verfasst, in der er alle Facetten, wie „wokeness“, Identitätszuschreibungen, Critical Race Theory, Rassismus als dauerhafter Zustand, Intersektionalität (Crenshaw, 1989) und die Standpunktheorie, als Identitätssynthese (vgl. S. 29, 93-100) bezeichnet.

Tatsächlich wird die Bibliografie der Bücher, die sich mit den Identitätsproblemen, also den Zuschreibungen von Identitäten, wozu auch Phänomene wie Cancel Culture und neue Formen der Segregation, die mit einem gescheiterten Kampf gegen Rassismus begründet werden, gehören, ständig länger. Yascha Mounk gelingt hier aber eine Darstellung, in der er die „Ursprünge der Identitätssynthese“ (Teil I) eingehend erläutert, im II. Teil ihren „Siegeszug“ mit vielen Beispielen belegt, um ihr dann im III. Teil ihre Schwächen entgegenzuhalten.

Lesebericht: Yascha Mounk, Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee

Der Kern seiner Kritik entzündet sich an den Rollen von Identitäten, die wie eine Ideologie anderen zugeschrieben werden und die bei uns als „woke“ bekannt wurde, und die Mounk lieber als „Identitätssynthese“ bezeichnen will, weil sie ein ganzes Bündel von Entwicklungen beschreibt. Der Untertitel „Der Aufstieg einer gefährlichen Idee“ erklärt sich dadurch, dass die Identitätssynthese sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung wende. (vgl. S. 10) Geschlecht, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung werden nicht unwichtiger, sondern bestimmen den Umgang miteinander, sie führen zu keinem Ausgleich oder Verständigung, sondern werden als Rechtfertigung für Ausschluss, Verbot der „kulturellen Aneignung“ oder Cancel Culture genutzt.

Einer der Gipfel dieser „wokeness“ ist die Behauptung, dass rassische Zugehörigkeiten keine Frage der Biologie sondern der sozialen Determination seien, wie er es beispielhaft mit dem Social and Racial Justice Curriculum der Bank Street School an der New Yorker Upper West Side belegt (S. 21): „Students explore the idea that race is a social construct with no genetic foundation.“ Die Schüler sollen lernen, was weiße Abstammung bedeutet und die damit verbundenen Privilegien zu erkennen. Die Befürworter der „wokeness“ gehen an anderen Stellen noch weiter und erklären Weiße als grundsätzlich rassistisch, da sie sich aus ihrem Zustand nie befreien können. Das ist dann der unüberwindbare strukturelle Rassismus. Von Ausgleich und Dialog wird dann gar nicht mehr gesprochen.

Der historische Abriss, mit dem Mounk die gewandelten Ziele der Linken auch unter dem Einfluss von Michel Foucault (vgl. S. 50-59) erklärt, enthält den Versuch, diese zunächst mit dem lobenswerten Ansinnen, Ungerechtigkeiten in der Welt zu beseitigen, zu deuten. Wenn aber Meinungsfreiheit und universalistische Werte abgelehnt werden und gleichzeitig auf die Zuschreibung von Gruppenidentitäten beharrt wird, die Verhaltensweisen indoktrinieren und vorschreiben, dann ist der Köder für die Identitätssynthese ausgelegt. (vgl. S. 30-32): „Die Identitätssynthese ist eine politische Falle – denn sie erschwert die Realisierung diverser Gesellschaften, deren Bürger einander vertrauen und respektieren.“ (S. 34)

Es kommt noch schlimmer. Einen Ausweg scheint es gar nicht zu geben, zumal Kimberlé Crenshaw 1989 noch den Begriff der „Intersektionalität“ (S. 85) in die Debatte warf, womit die „Überschneidung mehrerer geschützter Kategorien“ bezeichnet wird. Im Grunde genommen ein einleuchtender Ansatz, da ein Mensch nun wahrlich nicht nur eine Identität besitzt. Aber anstatt daraus einen Begriff zur Überwindung der Zuschreibung einer einzelnen Identität zu entwickeln, wurde die „Intersektionalität“ als nicht aufhebbare, sondern sich verstärkende Bedeutung der Opferrolle verstanden. Daraus ergab sich die seltsame Einsicht, dass Angehörige einer Gruppe die Unterdrückung der anderen Gruppe nie verstehen können. (Vgl. S. 87-91)

Wie oben angedeutet, enthält dieser Band eine ausführliche Definition der Identitätssynthese: 1. Skepsis (in Anlehnung an Foucault) mit Bezug auf eine objektive Wahrheit, 2. Diskursanalyse mit politischer Agenda, mit der u. a. der Gebrauch bestimmter Identitätsbezeichnungen wie „People of Color“ vorgegeben wird, oder Studenten durch Studierende zu ersetzen 3. Das Pochen auf die Identität: Rasse sei ein soziales Konstrukt, 4. Stolzer Pessimismus, der vermitteln will, dass Rassismus ein dauerhafter unüberschreitbarer Zustand sei, 5. Identitätssensible Gesetze, die sich nicht auf die Bürgerrechtsbewegung beziehen, sondern von der Hautfarbe und der sexuellen Orientierung abhängen 6. Intersektionalität, die verschiedene Formen der Unterdrückung nur noch verstärkt und schließlich 7. Die Standpunkttheorie, die vorgibt, Mitglieder einer Identitätsgruppe könnten die Mitglieder einer anderen Gruppe nicht verstehen, (S. 96-105) dazu gehört auch das Kapitel „Kritik unerwünscht! (S. 155-157)

Wie kommt man aus dieser Situation, die Mounk als „Identitätsfalle“ bezeichnet, wieder heraus? Die Situation ist bedrohlich geworden, weil die neue Ideologie der Identitäten darauf beharrt, „die ganze Welt durch das Prisma simplistischer Identitätskategorien“ (S. 13), die „die Welt in Gut und Böse“ (S. 15) einteilen, zu erfassen. 

Mounk beharrt darauf, dass die Redefreiheit nicht aufgegeben werden darf und der Schaffung getrennter Identitäten die Integration entgegensetzen. Für ihn lautet das Stichwort Gemeinsamkeiten statt Ausgrenzung. Menschen dürften nicht gemäß ihrer sexuellen Orientierung oder Hautfarbe vom Staat behandelt werden. Für Mounk geht es darum, alle diese Formen der Dominanz zu beseitigen. Die Kritik an kultureller Aneignung verstärke nur bekannte Probleme und Feindseligkeiten. (vgl. S. 178)

Sein Buch ist ein Aufruf dazu, sich der Identitätssynthese entgegenzustellen und bietet dafür die intellektuelle Grundlage. Er billigt der Identitätssynthese eine „reiche intellektuelle Geschichte“ (S. 315) zu. Aber ihr Ansatz, reales Unrecht beseitigen zu wollen, verstärke es gar noch und es gelinge ihr nicht, Wege zu seiner Beseitigung aufzuzeigen. Der Dogmatismus dieser Bewegung hindert sie offenkundig daran, Fehler anzuerkennen oder nach anderen Wegen zur Durchsetzung ihrer Ziele zu suchen. In dieser Situation wird die Identitätssynthese auch für ihre Anhänger zu einer Falle. Sie können sich aus ihr nicht befreien, zumal sie den Liberalismus für die Ungerechtigkeiten in der Welt verantwortlich machen.

Er will dieser Entwicklung, so das Ergebnis seines Buches, Liberalismus – er beharrt auf den Erfolg der liberalen Demokratien – und Universalismus entgegensetzen. Mounk möchte den Anhängern dieser Bewegung verdeutlichen, dass die identitäre Kritik am Liberalismus in die falsche Richtung geht. Die Welt auf der Grundlage von Gruppenidentitäten wie der Hautfarbe, Gender und sexueller Orientierung verstehen zu wollen, (vgl. S. 321) entspreche nicht seiner Auffassung von Liberalismus. Und eine gerechte Welt kann Mounks Auffassung nach nicht realisiert werden, wenn der Staat die Behandlung seiner Bürger danach ausrichtet, welcher Identitätsgruppe sie angehören. Kern- und Angelpunkt ist für Mounk die Wahrung und Respektierung der Redefreiheit.

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Heiner Wittmann

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Beteiligte Personen

© Beowulf Sheehan

Yascha Mounk

Yascha Mounk, 1982 in München geboren, ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Johns Hopkins Universität in Baltimore. Darüber hinaus...

Yascha Mounk, 1982 in München geboren, ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Johns Hopkins Universität in Baltimore. Darüber hinaus hat er die einflussreiche Zeitschrift Persuasion gegründet und schreibt u.a. für die New York Times, den Atlantic und DIE ZEIT. Seit April 2023 gehört er auch zum Herausgeberrat der ZEIT.

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